Um die globale Krise zu überwinden,
müssen wir so denken wie Beethoven
Von Alexander Hartmann, Chefredakteur
Während diese Zeilen in Druck gehen, werden Teilnehmer aus aller Welt am
12. und 13. Dezember die Internetkonferenz des Schiller-Institut zum Thema
„Die Welt nach den US-Wahlen: eine Welt auf der Basis von Vernunft schaffen“
verfolgen. Die Konferenz, deren Mitschnitte für alle, die die Vorträge verpaßt
haben oder nochmals anhören wollen, auf der Internetseite des
Schiller-Instituts (www.schillerinstitute.com) veröffentlicht werden,
wird sich mit den zahlreichen Krisen befassen, die derzeit die Welt bedrohen –
vom Streit um das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahl über die militärische
Konfrontationspolitik des Westens gegenüber Rußland und China und die
voranschreitende Wirtschafts- und Finanzkrise bis hin zu den Bedrohungen der
Menschheit durch die COVID-19-Pandemie und die bevorstehende
Hungerkatastrophe.
Allen diesen Krisen ist gemeinsam, daß sie gelöst werden können – durch
verstärkte Zusammenarbeit auf allen Ebenen, durch den schnellen Aufbau eines
weltweit funktionierenden Gesundheitssystems und der dazugehörigen
grundlegenden Infrastruktur, mit großen Wasser-, Energie- und
Verkehrsprojekten in allen Ländern der Welt, insbesondere in Afrika, und eine
Verdoppelung der weltweiten Nahrungsmittelproduktion. Diese Lösungen können
nur auf der Basis von Vernunft realisiert werden, aber die Krisen sind
selbst die Folge einer unvernünftigen Politik. Nur wenn die Politik geändert
wird, können wir die Krisen beheben – und nur wenn wir zu einer vernünftigen
Kultur zurückfinden, kann diese Änderung der Politik durchgesetzt werden.
Genau hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen China und dem
Westen.
Der Erfolg Chinas gründet vor allem darauf, daß Chinas politische Führung
keine Probleme hat, in ihrem Land eine vernünftige Politik zu formulieren und
durchzusetzen – nicht weil es eine Diktatur wäre, sondern, weil es in der vom
konfuzianischen Denken geprägten chinesischen Kultur von den Menschen und von
der politischen Führung einfach als selbstverständlich empfunden wird, eine
vernünftige Politik im Dienste des Gemeinwohls zu unterstützen.
So gelang es China in den letzten Jahrzehnten, rund 800 Millionen Menschen
aus der extremen Armut herauszuführen. So gelang es China, das weltweit größte
Schnellbahnsystem aufzubauen. So gelang es China, die COVID-19-Pandemie
einzudämmen. So gelang es China, in vielen Bereichen zur technologischen
Weltspitze aufzusteigen, wie es soeben mit der Inbetriebnahme seines Reaktors
Tokamak HL-2M für die Entwicklung der Kernfusion und seiner Mondmission
Chang’e-5, mit der es Bodenproben von der Rückseite des Mondes zur Erde
holte, bewiesen hat. Und die Chinesen sind stolz darauf – und das vollkommen
zu Recht.
Im Westen ist oft die Rede von der „Herausforderung“ des Westens durch
China und vom „Wettkampf der Systeme“, aber tatsächlich liegt das Problem des
Westens darin, daß der Westen zu diesem „Wettkampf der Systeme“ genaugenommen
gar nicht erst antritt, weil die politischen Eliten des Westens darauf
bestehen, das zu unterlassen, was dazu notwendig wäre.
Seit Jahrzehnten werden die Investitionen aus der physischen
(produzierenden) Wirtschaft heraus in immer unproduktivere Spekulationen
gelenkt. Bereiche der Spitzenforschung wie die Kerntechnik und die
Weltraumforschung werden seit Jahrzehnten kaum gefördert. Spitzentechnologien
wie die Magnetschwebebahn oder der Hochtemperaturreaktor wurden aufgegeben.
Das grundlegende Entwicklungsprinzip aller großen Zivilisationen an sich – daß
der Mensch z.B. durch Infrastrukturaufbau in seine Umwelt eingreift, um die
Lebensbedingungen für die Menschen (und oft genug auch für die Natur) zu
verbessern – wird zurückgewiesen, menschliche Eingriffe in die Natur werden
als frevelhaft abgelehnt.
Statt dessen fließen die Forschungsgelder in Untersuchungen, die
beispielsweise darauf abzielen, die Energiedichte unserer Wirtschaft immer
weiter zu senken oder die eine Menschheit in immer neue und immer kleinere
Ethnien und Gendergruppen aufzuspalten, die dann jeweils versuchen, „ihre“
Interessen gegen alle übrigen durchzusetzen, anstatt Wege zu suchen, wie das
gemeinsame Interesse aller verwirklicht werden kann.
Man sieht nicht mehr über den Tellerrand hinaus, sondern nur noch auf den
eigenen Bauchnabel. Die Fähigkeit, den eigenen Willen und Vorteil auf Kosten
der Allgemeinheit oder anderer durchzusetzen, wird zum Maßstab der eigenen
„Freiheit“. Schon die Aufforderung zu einem vernünftigen Verhalten im
Interesse des Gemeinwohls wird von vielen als Zumutung empfunden und empört –
und zum Teil auch gewalttätig – zurückgewiesen. Fakten, die der eigenen
Meinung widersprechen, werden einfach abgestritten oder ignoriert – oder in
den Massenmedien unterdrückt.
Eine Folge der Gegenkultur
All dies ist eine Auswirkung der Kultur. Zugespitzt könnte man sagen:
Chinas Kultur macht erwachsen, die westliche Massenkultur macht infantil.
Das ist kein Zufall. Schon in den 1940er Jahren befaßten sich Theodor
Adorno und andere im „Radio Research Project“ mit der Frage, wie mit Hilfe der
modernen Kommunikationstechniken das kulturelle Paradigma verändert werden
könnte, um, wie Adorno argumentierte, die in der klassischen Kultur wurzelnden
„faschistoiden Tendenzen“ zu beseitigen. Nach dem Ende des Weltkriegs wurde
diese neue Massenkultur dann im Rahmen der sogenannten „Umerziehung“
durchgesetzt. Sein Ansatz: eine neue Massenkultur zu schaffen, die die
Menschen infantilisiert, um sie sozusagen „neu programmieren“ zu
können.
Das Ergebnis war eine Kultur, in der die Menschen emotional mehr oder
weniger auf der Stufe von Dreijährigen verharren und in allen Dingen nur noch
danach urteilen, ob sie sie „mögen“ oder „nicht mögen“ – und dies auch noch
für ihr selbstverständliches Recht halten. Und die politischen Eliten des
Westens nutzen ihren Einfluß in den Massenmedien, um nach Belieben Stimmung zu
machen – gegen Putin, gegen China, gegen Trump, gegen die Kernkraft, gegen den
Klimawandel – und dadurch kurzfristig ihre Macht zu erhalten.
Die Ironie: Je erfolgreicher sie ihre Politik durchsetzen, desto sicherer
ist ihr Untergang. Wer es heute unterläßt, die notwendigen Vorleistungen für
die weitere Existenz der Menschen zu erbringen, oder gar tatkräftig darauf
hinwirkt, solche Vorleistungen zu unterbinden, der wird bald nicht mehr in der
Lage sein, diese Existenz zu sichern, geschweige denn, im „Wettkampf der
Systeme“ zu bestehen.
Die gegenwärtigen Krisen sind ein Ergebnis dieser jahrzehntelangen Politik
des Unterlassens. Nun zeigt sich: Wenn die Menschheit überleben soll, müssen
wir erwachsen werden – auch und gerade emotional. Und das bedeutet, daß wir
dringend einen kulturellen Paradigmenwandel brauchen – weg von Adornos
„Gegenkultur“, hin zu einer neuen Renaissance, in der der Widerspruch zwischen
Pflicht und Neigung entfällt und in der die Menschen ihre Kreativität
entfesseln, indem sie ihren Blick vom eigenen Bauchnabel weg auf die großen
gemeinsamen Aufgaben und Ziele der Menschheit richten und mit Freude und
Begeisterung Lösungen für die Probleme der Menschheit suchen und finden.
Wo soll diese Änderung herkommen, fragt Friedrich Schiller in seinen
Briefen Über die ästhetische Erziehung der Menschen, wenn die
Elite korrupt und die Masse verroht ist? Und er gibt die Antwort: von den
Künstlern. Daher ist der 250. Geburtstag Ludwig van Beethovens, den wir in
diesen Tagen feiern, ein hervorragender Anlaß, eine solche kulturelle Wende
einzuleiten.
Genau darum geht es an diesem Wochenende bei der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts, deren Schlußabschnitt dem Thema „Eine menschliche Zukunft
für die Jugend: eine von Beethoven vorangetriebene Renaissance der klassischen
Kultur“ gewidmet ist. Die Vorsitzende des Instituts, Helga Zepp-LaRouche,
sagte dazu am 9. Dezember im Internetforum des Schiller-Instituts:
„Lyndon LaRouche hat immer gesagt, daß eine Gesellschaft lernen muß, wie
die großen Komponisten oder die großen Dichter in ihren klassischen
künstlerischen Kompositionen zu denken. Und das ist, glaube ich, sehr wichtig,
denn Kultur ist keine Luxussache, die man macht, wenn man viel Freizeit hat,
sondern es ist eine Lebensweise, eine Art und Weise, wie man sich mit seinem
eigenen Leben identifiziert und wie man die Menschheit betrachtet.
Die Beethoven-Feier bietet eine perfekte Gelegenheit, diese Idee der
klassischen Komposition, der Organisation Ihrer Gedanken wie ein Komponist,
wirklich zu entwickeln: Man hat eine Idee, man entwickelt sie, man erschöpft
sie, und man kommt auf eine höhere Ebene, und man schließt sie ab. Das ist
etwas ganz anderes als die heutigen Talkshows, wo ein Wort das andere gibt und
die Leute einen endlosen Strom von Meinungen haben – es ist eher die
sokratische Methode, die Wahrheit durch die Erschöpfung eines Arguments zu
finden.
Und natürlich ist Schönheit sehr wichtig: In dieser Welt, die so voller
Häßlichkeit und Not und Gewalt ist, all diese Dinge, die wir in unserer
Umgebung kennen, müssen wir in die höchsten Epochen der Vergangenheit
zurückgehen, in die griechische Klassik, die italienische Renaissance, die
deutsche Klassik und andere große Epochen der Menschheitsgeschichte, und in
jeder Gesellschaft die fortschrittlichsten Ideen finden und diese dann
miteinander kommunizieren lassen, um eine neue Renaissance zu schaffen.
Ich bin überzeugt, das ist absolut möglich, und es ist sehr wichtig, daß
vor allem die jungen Menschen in die Diskussion einbezogen werden. Denn wenn
die Jugend erhoben wird, ist die Zukunft der Menschheit schön – wenn die
Jugend in Selbstmorden und Drogensucht, in gewalttätigen Videospielen und all
diesen Dingen versinkt, dann kann nichts Positives dabei herauskommen. Also
werden wir versuchen, daß die jungen Leute auch über die Verdienste
Shakespeares, der Musik, insbesondere natürlich Beethovens, aber auch
Schillers und anderer großer Ideen diskutieren.
Deshalb halte ich das letzte Panel [der anstehenden Konferenz] für sehr
wichtig, denn es wird Ihnen die Art von moralischer Einstellung vermitteln,
die nur aus der Wahrheit, der Schönheit und dem Guten entstehen kann. Und das
war immer die Grundlage für große Epochen in der Geschichte, denn man muß
zumindest wissen, was die Einheit des Guten, des Schönen und des Wahrhaftigen
ist, denn das ist der Schlüssel zu allen anderen Bereichen.“
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