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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Gedeihen oder vergehen

Eine Einführung in die Geopolitik von Hunger und Armut

Von Henda Diogène Senny

Henda Diogène Senny ist Professor für Internationales Interkulturelles Management, Spezialist für Wirtschaftsnachrichtenwesen und internationale Wirtschaftsbeziehungen, Gründer der African School of Management (EAM) im Kongo und Gründungsmitglied der Pan-African League – UMOJA (LP-U). Bei der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 27. Juni 2020 hielt er den folgenden Vortrag.

Danksagung

Sehr geehrte Referenten, liebe Teilnehmer, liebe Gäste, zunächst möchte ich dem Schiller-Institut meinen Dank dafür aussprechen, daß es mich in dieser ganz besonderen Zeit an dieser Diskussion beteiligt hat.

I. Einführung

Meine Damen und Herren, diese Konferenz ist alles andere als ein vorübergehendes Ereignis, die Umstände, unter denen sie stattfindet, machen aus ihr einen historischen Moment, weil die enormen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die mit COVID-19 verbunden sind, wie „Herausforderungen“ und „Kriegserklärungen“ gegen Gesellschaften und Menschen im Sinne des britischen Historikers Arnold Toynbee sind.

Ausnahmsweise werden wir die Themen Hunger, Armut und Gesundheit mit der Geschichte verbinden; nicht nur als Gedenken, sondern auch und vor allem, um die Geschichte als mächtigste Manifestation der sozialen Energie und des Überlebenswillens des Menschen zu betrachten.

Der Storicismo, wie die Italiener sagen würden – mit anderen Worten: Historismus –, ist der Akt, durch den man seine eigene Handlung, sein eigenes Denken, seine eigene Poesie schafft, indem man sich vom gegenwärtigen Bewußtsein der Vergangenheit löst. Wir wissen, daß die Landwirtschaft der Welt mindestens 13 Milliarden Menschen, also das Doppelte der heutigen Weltbevölkerung, ernähren könnte. Deshalb ist die Vernichtung von zig Millionen Menschenleben, Frauen, Männern und Kindern durch Hunger eines so reichen Jahrhunderts unwürdig! Können wir ernsthaft über Alternativen zu Hunger, Armut und Gesundheit nachdenken und gleichzeitig eine historische Amnesie in Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Völker aufrechterhalten?

II. Kampf gegen das Vergessen

Meine Damen und Herren, wer weiß noch, daß ein Drittel der zivilen und militärischen Todesfälle im Zweiten Weltkrieg auf Unterernährung, Tuberkulose und Anämie zurückzuführen war? Wer erinnert sich daran, wie sich wegen des Hungers in den Kirchen von Amsterdam, Rotterdam und Den Haag die Särge türmten? Und daran, besonders in Polen und Norwegen, daß einige Familien überlebten, indem sie Ratten und Baumrinde aßen?

Wer erinnert sich noch daran, wie 1947, nur zwei Jahre nach diesen schrecklichen Ereignissen, der britische Botschafter in der Kommission für die Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aggressiv erklärte: „Wir wollen freie Menschen, keine wohlgenährten Sklaven!“ Wer erinnert sich an die direkte Antwort seines ukrainischen Amtskollegen: „Auch freie Menschen können verhungern.“

Dieser Austausch veranschaulicht den Beginn einer neuen geopolitischen Ordnung, d.h. den Kalten Krieg, und die Niederlage der Anerkennung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948.

Aber wie kann man ernstlich glauben, daß die bürgerlichen und politischen Rechte ohne die wirtschaftlichen und sozialen Rechte wirksam sein können? Es dauerte 45 Jahre, fast ein halbes Jahrhundert, bis die UNO im Juni 1993 in Wien eine neue Erklärung verabschiedete, die alle Rechte – bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle – unteilbar und voneinander abhängig anerkannte. Oh, wieviel Zeit wurde verschwendet!

III. Die Enttäuschungen am Ende des Kalten Krieges

Meine Damen und Herren, die Hoffnung, die das Ende des Kalten Krieges in Bezug auf die wirtschaftlichen und sozialen Rechte geweckt hatte, ging sehr schnell verloren, weil die Macht der transkontinentalen agroindustriellen Unternehmen und Hedgefonds – der Fonds, die auf Nahrungsmittelpreise, Ackerland, Saatgut, Düngemittel, Kredite usw. spekulieren – auf der Erde beträchtlich größer ist als die Macht der Staaten. Hunger ist nicht unvermeidlich, er kommt durch organisiertes Verbrechen. 90% der Bauern im Süden der Erde verfügen im 21. Jahrhundert nur über folgende Arbeitsinstrumente: Hacke, Machete und Sense. FAO-Berichte in den 2010er Jahren zeigen, daß 500 Millionen Bauern im Süden keinen Zugang zu hochwertigem Saatgut, Mineraldünger oder Dung haben und keine Tiere besitzen. Die überwältigende Mehrheit der Bauern in Indien, Peru, Burkina Faso, Niger, Ecuador usw. hat keine Bewässerungsanlagen.

Wie kann man dann überrascht sein, daß ein Hektar Getreide den Bauern in Afrika etwa 700 Kilogramm liefert, aber ihren Kollegen in der Gironde in Frankreich 10.000 Kilogramm? Wie wir bereits gesagt haben, Hunger ist nicht unvermeidlich. Er ist das Ergebnis des Willens einiger weniger. Und es wird die Entschlossenheit von Menschen sein, die ihn besiegen wird.

Einige Beispiele sollen das räuberische Verhalten der multinationalen agroindustriellen Unternehmen in Afrika veranschaulichen:

In Kamerun: Wir erinnern uns an den bewundernswerten Kampf des Entwicklungsausschusses der Region N'do, der 2006 Bauernverbände und Zivilgesellschaft im Kampf gegen die von der kamerunischen Regierung genehmigte Inbesitznahme von 11.000 ha Ackerflächen durch die SOSUCAM (Société Sucrière du Cameroun) zusammengebracht hat. Es sei darauf hingewiesen, daß die SOSUCAM Eigentum des französischen Industriellen Alexandre Vilgrain ist und daß diese Gesellschaft bereits 1965 10.000 Hektar in Kamerun erworben hatte. Hier ist das koloniale Kontinuum im wirtschaftlichen Bereich noch in vollem Gange.

Im Senegal: Hier waren es die Grands Domaines du Sénégal (GDS), im Besitz von französischen, spanischen, marokkanischen und anderen Finanzgruppen, die Zehntausende Hektar Ackerland in Saint-Louis erwarben, wodurch den Bauern die notwendigen Flächen für die Grundnahrungsmittel genommen wurden. Wie in Kamerun organisieren sich die Bauern in Walo, die sich auf bescheidene Ernten auf nur ein Hektar Reis beschränken mußten, um mit viel Würde Widerstand zu leisten.

In Nigeria, Benin und Mali: Auch in Nigeria, Benin und Mali stützen sich internationale Hedgefonds auf lokale Oligarchen, um Landraub zu organisieren. Auf diese Weise kamen die wohlhabenden Händler von Sokoto und Kano in den Besitz von Zigtausend Hektar Nahrungsmittelland.

In Benin sind es die politischen und wirtschaftlichen Barone, die Landbesitz anhäufen und freiwillig brachliegen lassen, während sie darauf warten, sie zu einem höheren Preis weiterzuverkaufen, anstatt in der Region Zou, der ehemaligen Kornkammer des beninischen Weizens, zu investieren.

Schließlich stellen wir den gleichen Handelsmechanismus in Mali fest, wo wohlhabende Geschäftsleute aus Bamako als Zwischenhändler dienen und Ackerland zu niedrigen Preisen aufkaufen, um es zu Höchstpreisen an saudische Prinzen oder New Yorker Hedgefonds weiterzuverkaufen.

Abschließend

Meine Damen und Herren, der Ruin der Wirtschaft und die Katastrophen, die sich nach der Coronavirus-Pandemie abzeichnen, sind Teil des sogenannten zyklischen Hungers. Seine Besonderheit liegt in der Plötzlichkeit und Unvorhersehbarkeit der unübersehbaren Schäden. Ihr spektakulärer Charakter sollte uns jedoch nicht blind machen für diese wahren Ursachen. Was im Laufe dieses Vortrages beschrieben wurde, ist im Gegensatz dazu der strukturelle Hunger. Struktureller Hunger hat tiefe Wurzeln. Er ist dauerhaft und unspektakulär und zerstört Millionen von Menschen psychisch und physisch. Struktureller Hunger schädigt Millionen von unterernährten Müttern, die kranke Kinder zur Welt bringen.

Meine Damen und Herren, wir möchten der von dieser Konferenz vorgestellten Alternative „prosperieren oder zugrunde gehen“ das Wort „Einigkeit“ voranstellen. Denn für uns Pan-Afrikaner geht es bei der Frage des Hungers weniger um Ernährungssicherheit als um Ernährungssouveränität. Nur die politische Einigkeit wird uns die Waffen geben, die wir brauchen, um die immense Ressource Ackerland auf dem gesamten afrikanischen Kontinent zu schützen. Zu diesem Preis wird die Ernährungssouveränität für alle Afrikaner garantiert!

Umoja Ni Nguvu – Danke