Gedeihen oder vergehen
Eine Einführung in die Geopolitik von Hunger und Armut
Von Henda Diogène Senny
Henda Diogène Senny ist Professor für Internationales
Interkulturelles Management, Spezialist für Wirtschaftsnachrichtenwesen und
internationale Wirtschaftsbeziehungen, Gründer der African School of
Management (EAM) im Kongo und Gründungsmitglied der Pan-African League – UMOJA
(LP-U). Bei der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 27. Juni 2020
hielt er den folgenden Vortrag.
Danksagung
Sehr geehrte Referenten, liebe Teilnehmer, liebe Gäste, zunächst möchte ich
dem Schiller-Institut meinen Dank dafür aussprechen, daß es mich in dieser
ganz besonderen Zeit an dieser Diskussion beteiligt hat.
I. Einführung
Meine Damen und Herren, diese Konferenz ist alles andere als ein
vorübergehendes Ereignis, die Umstände, unter denen sie stattfindet, machen
aus ihr einen historischen Moment, weil die enormen gesundheitlichen,
wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die mit COVID-19 verbunden sind, wie
„Herausforderungen“ und „Kriegserklärungen“ gegen Gesellschaften und Menschen
im Sinne des britischen Historikers Arnold Toynbee sind.
Ausnahmsweise werden wir die Themen Hunger, Armut und Gesundheit mit der
Geschichte verbinden; nicht nur als Gedenken, sondern auch und vor allem, um
die Geschichte als mächtigste Manifestation der sozialen Energie und des
Überlebenswillens des Menschen zu betrachten.
Der Storicismo, wie die Italiener sagen würden – mit anderen Worten:
Historismus –, ist der Akt, durch den man seine eigene Handlung, sein eigenes
Denken, seine eigene Poesie schafft, indem man sich vom gegenwärtigen
Bewußtsein der Vergangenheit löst. Wir wissen, daß die Landwirtschaft der Welt
mindestens 13 Milliarden Menschen, also das Doppelte der heutigen
Weltbevölkerung, ernähren könnte. Deshalb ist die Vernichtung von zig
Millionen Menschenleben, Frauen, Männern und Kindern durch Hunger eines so
reichen Jahrhunderts unwürdig! Können wir ernsthaft über Alternativen zu
Hunger, Armut und Gesundheit nachdenken und gleichzeitig eine historische
Amnesie in Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Völker
aufrechterhalten?
II. Kampf gegen das Vergessen
Meine Damen und Herren, wer weiß noch, daß ein Drittel der zivilen und
militärischen Todesfälle im Zweiten Weltkrieg auf Unterernährung, Tuberkulose
und Anämie zurückzuführen war? Wer erinnert sich daran, wie sich wegen des
Hungers in den Kirchen von Amsterdam, Rotterdam und Den Haag die Särge
türmten? Und daran, besonders in Polen und Norwegen, daß einige Familien
überlebten, indem sie Ratten und Baumrinde aßen?
Wer erinnert sich noch daran, wie 1947, nur zwei Jahre nach diesen
schrecklichen Ereignissen, der britische Botschafter in der Kommission für die
Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aggressiv erklärte:
„Wir wollen freie Menschen, keine wohlgenährten Sklaven!“ Wer erinnert sich an
die direkte Antwort seines ukrainischen Amtskollegen: „Auch freie Menschen
können verhungern.“
Dieser Austausch veranschaulicht den Beginn einer neuen geopolitischen
Ordnung, d.h. den Kalten Krieg, und die Niederlage der Anerkennung der
wirtschaftlichen und sozialen Rechte in der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte vom 10. Dezember 1948.
Aber wie kann man ernstlich glauben, daß die bürgerlichen und politischen
Rechte ohne die wirtschaftlichen und sozialen Rechte wirksam sein können? Es
dauerte 45 Jahre, fast ein halbes Jahrhundert, bis die UNO im Juni 1993 in
Wien eine neue Erklärung verabschiedete, die alle Rechte – bürgerliche,
politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle – unteilbar und
voneinander abhängig anerkannte. Oh, wieviel Zeit wurde verschwendet!
III. Die Enttäuschungen am Ende des Kalten Krieges
Meine Damen und Herren, die Hoffnung, die das Ende des Kalten Krieges in
Bezug auf die wirtschaftlichen und sozialen Rechte geweckt hatte, ging sehr
schnell verloren, weil die Macht der transkontinentalen agroindustriellen
Unternehmen und Hedgefonds – der Fonds, die auf Nahrungsmittelpreise,
Ackerland, Saatgut, Düngemittel, Kredite usw. spekulieren – auf der Erde
beträchtlich größer ist als die Macht der Staaten. Hunger ist nicht
unvermeidlich, er kommt durch organisiertes Verbrechen. 90% der Bauern im
Süden der Erde verfügen im 21. Jahrhundert nur über folgende
Arbeitsinstrumente: Hacke, Machete und Sense. FAO-Berichte in den 2010er
Jahren zeigen, daß 500 Millionen Bauern im Süden keinen Zugang zu hochwertigem
Saatgut, Mineraldünger oder Dung haben und keine Tiere besitzen. Die
überwältigende Mehrheit der Bauern in Indien, Peru, Burkina Faso, Niger,
Ecuador usw. hat keine Bewässerungsanlagen.
Wie kann man dann überrascht sein, daß ein Hektar Getreide den Bauern in
Afrika etwa 700 Kilogramm liefert, aber ihren Kollegen in der Gironde in
Frankreich 10.000 Kilogramm? Wie wir bereits gesagt haben, Hunger ist nicht
unvermeidlich. Er ist das Ergebnis des Willens einiger weniger. Und es wird
die Entschlossenheit von Menschen sein, die ihn besiegen wird.
Einige Beispiele sollen das räuberische Verhalten der multinationalen
agroindustriellen Unternehmen in Afrika veranschaulichen:
In Kamerun: Wir erinnern uns an den bewundernswerten Kampf des
Entwicklungsausschusses der Region N'do, der 2006 Bauernverbände und
Zivilgesellschaft im Kampf gegen die von der kamerunischen Regierung
genehmigte Inbesitznahme von 11.000 ha Ackerflächen durch die SOSUCAM (Société
Sucrière du Cameroun) zusammengebracht hat. Es sei darauf hingewiesen, daß die
SOSUCAM Eigentum des französischen Industriellen Alexandre Vilgrain ist und
daß diese Gesellschaft bereits 1965 10.000 Hektar in Kamerun erworben hatte.
Hier ist das koloniale Kontinuum im wirtschaftlichen Bereich noch in vollem
Gange.
Im Senegal: Hier waren es die Grands Domaines du Sénégal (GDS), im
Besitz von französischen, spanischen, marokkanischen und anderen
Finanzgruppen, die Zehntausende Hektar Ackerland in Saint-Louis erwarben,
wodurch den Bauern die notwendigen Flächen für die Grundnahrungsmittel
genommen wurden. Wie in Kamerun organisieren sich die Bauern in Walo, die sich
auf bescheidene Ernten auf nur ein Hektar Reis beschränken mußten, um mit viel
Würde Widerstand zu leisten.
In Nigeria, Benin und Mali: Auch in Nigeria, Benin und Mali stützen sich
internationale Hedgefonds auf lokale Oligarchen, um Landraub zu organisieren.
Auf diese Weise kamen die wohlhabenden Händler von Sokoto und Kano in den
Besitz von Zigtausend Hektar Nahrungsmittelland.
In Benin sind es die politischen und wirtschaftlichen Barone, die
Landbesitz anhäufen und freiwillig brachliegen lassen, während sie darauf
warten, sie zu einem höheren Preis weiterzuverkaufen, anstatt in der Region
Zou, der ehemaligen Kornkammer des beninischen Weizens, zu investieren.
Schließlich stellen wir den gleichen Handelsmechanismus in Mali fest, wo
wohlhabende Geschäftsleute aus Bamako als Zwischenhändler dienen und Ackerland
zu niedrigen Preisen aufkaufen, um es zu Höchstpreisen an saudische Prinzen
oder New Yorker Hedgefonds weiterzuverkaufen.
Abschließend
Meine Damen und Herren, der Ruin der Wirtschaft und die Katastrophen, die
sich nach der Coronavirus-Pandemie abzeichnen, sind Teil des sogenannten
zyklischen Hungers. Seine Besonderheit liegt in der Plötzlichkeit und
Unvorhersehbarkeit der unübersehbaren Schäden. Ihr spektakulärer Charakter
sollte uns jedoch nicht blind machen für diese wahren Ursachen. Was im Laufe
dieses Vortrages beschrieben wurde, ist im Gegensatz dazu der strukturelle
Hunger. Struktureller Hunger hat tiefe Wurzeln. Er ist dauerhaft und
unspektakulär und zerstört Millionen von Menschen psychisch und physisch.
Struktureller Hunger schädigt Millionen von unterernährten Müttern, die kranke
Kinder zur Welt bringen.
Meine Damen und Herren, wir möchten der von dieser Konferenz vorgestellten
Alternative „prosperieren oder zugrunde gehen“ das Wort „Einigkeit“
voranstellen. Denn für uns Pan-Afrikaner geht es bei der Frage des Hungers
weniger um Ernährungssicherheit als um Ernährungssouveränität. Nur die
politische Einigkeit wird uns die Waffen geben, die wir brauchen, um die
immense Ressource Ackerland auf dem gesamten afrikanischen Kontinent zu
schützen. Zu diesem Preis wird die Ernährungssouveränität für alle Afrikaner
garantiert!
Umoja Ni Nguvu – Danke
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