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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

„Wir sind 100 Sekunden vor Mitternacht“

Von Martin Sieff

Martin Sieff war Leitender Auslandskorrespondent von UPI und ist Senior Fellow der Amerikanischen Universität in Moskau. Bei der Online-Konferenz des Schiller-Instituts sagte er folgendes.

Wir sind 100 Sekunden vor Mitternacht. So nahe hat die Weltuntergangs-Uhr des Bulletin of Atomic Scientists die Gefahren eines thermonuklearen Krieges gesetzt. Wir werden noch viel näher kommen. Die Warnung „100 Sekunden vor Mitternacht“ wurde am 23. Januar dieses Jahres verkündet. Dennoch bezweifle ich heute, ob auch nur fünf der hundert amtierenden US-Senatoren beider Parteien diese Tatsache kennen oder sie auch nur eine Sekunde lang ernst nehmen. Es ist diese erstaunliche Unwissenheit, ein psychologischer Mechanismus der vorsätzlichen Ignoranz und Verleugnung, den selbst Sigmund Freud schwer erklären könnte; das ist unsere größte Gefahr.

Während ich spreche, treiben die Vereinigten Staaten und die NATO die rücksichtslose, nur allzu konsequente Politik voran, sich nach Osten und Süden vorzubewegen, um Rußland mit Staaten einzukreisen, deren legitime, langjährige Regierungen gestürzt und durch undemokratische, bestenfalls chaotische Regime ersetzt werden – von der riesigen Ukraine bis zum winzigen Georgien; Belarus könnte der nächste sein. Und die NATO führt regelmäßig groß angelegte Militärübungen durch, die unverhohlen gegen Rußland gerichtet sind, mit so beruhigenden Titeln wie „Anakonda“. Was ist eine Anakonda? Es ist eine kolossale, 5 bis 10 Meter lange, furchterregende Schlange im Dschungel des Amazonas, die ihre Beute erst einkreist und sie dann zermalmt und verschlingt, oft noch lebend. Dies ist also eine strategische Botschaft, die wir an Rußland, eine der beiden mächtigsten Atommächte auf unserem Planeten, senden.

Rußland hat geantwortet. Die Entwicklung von Hyperschallwaffen, mit der der Westen noch nicht mithalten kann, ist ein letztes Läuten der Feuerglocke von Thomas Jefferson in der Nacht.

Eine zweite und sehr gravierende Entwicklung ist der Übergang der russischen strategischen Streitkräfte in eine mögliche Erstschlagposition. Die Russen versuchen nicht, den Westen oder die Welt zu erobern, aber sie fürchten wirklich, daß der Westen entschlossen ist, sie zu erobern. Und jede Botschaft, die sowohl von der republikanischen und demokratischen nationalen Parteiführung als auch vom Kongreß und den Denkfabriken ausgeht, steht im Einklang mit dieser Botschaft. Wir sollten daher nicht überrascht sein, daß die Russen so reagieren, wie sie es tun. Die russische Nachrichtenagentur Sputnik bemerkte am vergangenen Mittwoch: „In letzter Zeit sind Episoden des Abfangens von Flugzeugen über der Ostsee, dem Schwarzen Meer und dem Beringmeer häufiger geworden. Am 31. August“, so der Sputnik-Bericht weiter, „wurden drei russische SU-27-Kampfflugzeuge in einem Alarmstart losgeschickt, als sich drei strategische B-52-Bomber der USA über den neutralen Gewässern der Ostsee der russischen Staatsgrenze näherten. Die Bomber wurden begleitet, bis sie ihren Kurs änderten und sich von der russischen Grenze entfernten. Am 1. September wurde eine MIG-31 der russischen Nordflotte losgeschickt, um ein norwegisches P3C Orion-Aufklärungsflugzeug zu begleiten.“

Hysterische, immer unbegründete Behauptungen, Rußland mische sich in unser innenpolitisches Wahlgeschehen ein, könnten nicht unangebrachter sein. 1996 prahlte die Clinton-Administration stolz und offen damit, daß sie die russische Präsidentschaftswahl zur Wiederwahl Boris Jelzins entscheidend beeinflußte – eines betrunkenen, korrupten, inkompetenten Mannes, unter dessen Führung unzählige Millionen russischer Menschen an den Folgen einer wirtschaftlichen Depression starben, die viel, viel schlimmer war als unsere Große Depression und die genauso lange dauerte.

Ich weiß es, ich war wiederholt lange Zeit als Auslandskorrespondent dort; ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Die Russen erinnern sich daran. Sie sind entschlossen, das nicht noch einmal geschehen zu lassen. Sie sind entschlossen, nicht zuzulassen, daß ihr Land zerstückelt wird. Doch die Politik der USA, ihre politikgestaltenden Institutionen und die Medien sind nach wie vor auf ihren wahnsinnigen, selbstmörderischen Kurs der unnötigen Konfrontation und der kindischen, vorgetäuschten Macho-Posen gegenüber Rußland fixiert. Es ist an der Zeit, daß sie aufwachen.

Möge diese höchst willkommene und dringend benötigte Konferenz als der entscheidende Weckruf dienen!