Kreativität im Zeitalter der künstlichen Intelligenz
Von Chérine Sultan
Chérine Sultan vom französischen Schiller-Institut hielt bei
der Internationalen Jugendkonferenz des Schiller-Instituts am 26. September
2020 den folgenden Vortrag. Den Mitschnitt der Konferenz (im englischen
Original) finden Sie auf der Internetseite des Schiller-Instituts unter: https://schillerinstitute.com/blog/2020/09/24/62768/
Was ist die Sucht der nächsten Generation?
Experten der Neurowissenschaften ist es gelungen, unseren inneren
Abschaltknopf zu entfernen: unsere Fähigkeit, aufzuhören, etwas anderes zu tun
und unseren Willen und unser Handeln miteinander zu verbinden.
Junge Menschen verbringen auf TikTok Stunden damit, sich Videos
anzusehen, die weniger als eine Minute lang sind! Hier gibt es ein Paradoxon!
Man mußte sogar eigens eine Option hinzufügen, um die Anwendung nach 45
Minuten zu blockieren. Die Leute können ganze Tage (und Nächte) vor
Fernsehserien verbringen, die nichts bringen. „Es kotzt mich an, aber ich
schaue mir trotzdem die nächste Folge an“ – wie oft habt Ihr das schon gehört?
Wir tappen in die Falle, weil das Drehbuch und der Schnitt alles tun, um
unseren Appetit zu kitzeln und das Bedürfnis zu wecken, das Nächste zu
sehen.
Die Definition einer Sucht besteht darin, eine Tätigkeit weiter auszuüben
oder ein Produkt weiter zu konsumieren bis zu dem Punkt, an dem wir nicht mehr
Freude empfinden, wenn wir es konsumieren, sondern Leid, wenn wir damit
aufhören. Das Gefühl des kulturellen Leidens entsteht durch unsere
Unfähigkeit, die Kontrolle über uns selbst zurückzuerlangen. Das bringen die
Opfer der digitalen Technologie selbst zum Ausdruck, die sehr wohl erkennen,
daß sie sich nicht mehr zurückhalten können, wenn sie der Versuchung
nachgeben, am Bildschirm zu kleben: „Wir wissen, daß es nicht gut für uns ist,
ja, wir wissen das, aber wir tun es trotzdem.“ Jawohl, wir sehen, daß wir
weniger kreativ sind, wenn wir in diese Sucht verfallen – und genau das will
die Oligarchie erreichen. Wir werden sehen, wie konsequent die digitalen
Giganten dabei sind, ein antikreatives Mittel für einen antikreativen Zweck
einzusetzen.
Brot und Spiele
Allerdings wurde das nicht erst im Zeitalter der digitalen Bildschirme
erfunden: Schon der antike Zirkus nutzte diese Schwäche, um die Römer zu
unterhalten. Das ist die Bedeutung des Ausdrucks „Brot und Spiele“.
Es scheint, daß bloßes Moralisieren nutzlos ist, weil der Abschaltknopf
nicht mehr vom Willen gesteuert wird – nämlich jenem inneren moralischen
Gefühl, das sich in dem „wir wissen, daß es nicht gut für uns ist“ ausdrückt.
Daher wird auch der äußere moralische Druck eines Freundes, der uns mitfühlend
rät, den Bildschirm abzuschalten, nicht wirksam sein.
Manchmal jedoch bedeutet Nächstenliebe, dem Nächsten einen freundlichen
Tritt in den Hintern zu geben. Kennen Sie die Geschichte von Alypius, dem
Freund des heiligen Augustinus? Der hatte sich immer geweigert,
Gladiatorenkämpfe anzusehen – bis zu dem Tag, an dem ihn eine Gruppe von
Freunden fast gewaltsam in den Zirkus schleppte. Seine Hände, die seine Augen
bedeckten, in der Hoffnung, sich dieses Grauen zu ersparen, konnten seine
Seele nicht schützen. Als er das schreckliche Schauspiel sah, wurde er Teil
der blutrünstigen Menge. Sein Geist wurde unablässig an diesen Zirkus
erinnert, was es ihm schwer machte, sich bei Augustinus auf seine Studien zu
konzentrieren. Erst an dem Tag, an dem Augustinus die Zuschauer verspottete,
indem er sie mit Sklaven verglich, nachdem er schon alle Hoffnung aufgegeben
hatte, Alypius zu verändern, begann bei dem jungen Mann der Abschaltknopf
wieder zu funktionieren.
In Alypius gewann die Vernunft schließlich wieder die Oberhand, weil er
schon vorher Zugang zu etwas anderem gehabt hatte. Bei Kindern erfordert ihr
kindlicher Grad an Autonomie und intellektueller Erfahrung, daß die Eltern
ihnen bereichernde Aktivitäten und Freizeitmöglichkeiten bieten und eine
legitime Zeit der Unterhaltung regeln, weil ihre Emotionen Achterbahn fahren
und sie ein Ventil zur Entspannung benötigen.
Doch ab einem gewissen Alter ist die Lösung anders, anspruchsvoller – und
schwieriger umzusetzen. Die Emotionen junger Erwachsener mögen immer noch
Achterbahn fahren, aber ihr Intellekt beginnt, die Grenzen zu überschreiten,
die er in der Kindheit hatte, und er verlangt nicht mehr, sich zu entspannen,
er will sich immer mehr entwickeln und herausgefordert werden. Deshalb stellen
Zeit und Art der Unterhaltung, die ein Kind befriedigt, einen Erwachsenen
nicht mehr zufrieden: Wir wollen, daß unsere Unterhaltung uns auch
intellektuell nährt. Viele Menschen lieben Netflix, weil es
bereichernde Geschichten bietet.
Das Problem der Kultur bei jungen Erwachsenen und bei Erwachsenen überhaupt
steht im Einklang mit dem, was viele als schädliche Auswirkungen der
Konsumgesellschaft erkennen: der Wunsch, sich persönlich zu bereichern,
während man nichts für andere tut. Wenn es jedoch um Kultur geht, ist es viel
klarer, daß wir andere nicht bereichern werden, indem wir den Konsum
reduzieren. Über das Teilen des Reichtums hinaus besteht daher die
Notwendigkeit, die kulturelle Produktion neu zu beleben und zu überdenken.
Tatsächlich sind auch die scheinbar intellektuellen Teile unserer Kultur
Fallen, die viele von denen einfangen, die behaupten, über den Tellerrand
hinauszuschauen, indem sie „alternative“ Autoren lesen und „dissidente“ Kanäle
schauen. Sie stellen eine Denkweise nicht in Frage, die durch diese beiden
Kulturen – Massenkultur und Dissidentenkultur – induziert wird: Ich spreche
vom Pessimismus. Wir werden darauf zurückkommen, aber wir können schon jetzt
sagen, daß die Alternative zur Sucht 2.0, um diesen „Abschaltknopf“
wiederherzustellen, das Engagement ist.
Der „Fußabdruck“ der digitalen Welt
Wie viel vom weltweiten Stromverbrauch wird Ihrer Meinung nach vom
digitalen Sektor verbraucht? Zehn Prozent! In Bezug auf die Treibhausgase
entspricht das dem Luftverkehrssektor. Wenn ich also höre, der Lockdown sei
ein Geschenk des Himmels für den Planeten, muß ich lachen, denn sämtliche
Aktivitäten werden auf die Bildschirme verlagert, sowohl fürs Home Office als
auch für die Freizeit. So viele junge Leute haben mir gesagt: „Weißt du,
Netflix war während des Lockdown sehr nützlich für uns.“ Alle diese
Energie dient kurz gesagt dem Datentransfer und der Speicherung auf den
Servern.
Einige Zahlen zur Veranschaulichung meines Standpunktes:
- Online-Videos machen über alle Plattformen hinweg 75% des
Internetverkehrs aus – in zwei Jahren werden es schätzungsweise 82% sein.
- Netflix liegt bei 13%, YouTube bei 9% und
Facebook bei 3%.
- Ein zehnstündiges HD-Video (eine ein- bis zweitägige Konferenz)
erfordert so viele Daten wie die gesamte englischsprachige
Wikipedia.
- In Frankreich entfällt die Hälfte des Datenflusses auf vier Betreiber,
darunter Netflix, auf das ebenso viele Daten entfallen wie auf die drei
anderen, Google, Facebook und Akamai Technologies, wo zahlreiche
Webseiten angesiedelt sind.
Welchen Nutzen haben all die von diesen Plattformen gesendeten Daten? Ihre
Gewinne stammen aus der Werbung. Die Werbung richtet sich an den einzelnen
Benutzer, und das bedeutet, daß man den Geschmack des Benutzers kennen muß. Je
mehr Videos angeschaut werden, desto mehr Daten über die digitalen Vorlieben
der Benutzer werden analysiert, und desto mehr Möglichkeiten gibt es, gezielt
Werbung zu senden, und desto mehr Aufrufe! Also... je mehr Werbung finanziert
werden muß, desto mehr wird es geben. Das ist ein Hund, der seinen eigenen
Schwanz jagt!
Der freie Wille in den digitalen Plattformen
Reed Hastings, der Gründer von Netflix, gibt dies zu: „Wir
konkurrieren mit dem Schlaf.“ Die Plakatkampagne „U-Bahn – Arbeit –
Netflix“ war wohldurchdacht. Dieser Ausdruck ersetzt den Refrain
„U-Bahn – Arbeit – Schlaf“ über das Leben abgestumpfter Arbeiter. Und das wird
nicht aufhören, denn der Datenverkehr nimmt jedes Jahr um 25% zu, d.h. er
verdoppelt sich in drei Jahren und verdreifacht sich in fünf Jahren. Wir sind
in die Ära des „Dataismus“ eingetreten.
Konkret ist die Werbung nicht genug. Wie funktionieren digitale
Plattformen, um Sie süchtig zu machen? Kennen Sie die Namen der Waffen, die
den Abschaltknopf zerstört haben?
Es gibt zwei Techniken, die in Kombination funktionieren:
1. Unendlichkeit: der unendliche Faden, der auf
Facebook auf Ihrer Seite läuft, sowie die Autoplay-Funktion für
YouTube oder Google, die direkt das folgende Video startet. (Ich
habe von einem System namens Minimal gehört, das dazu dient, Autoplay
zu blockieren: Es lohnt sich, sich damit auseinanderzusetzen.)
2. Ähnlichkeit: Benachrichtigungen und Empfehlungen ähnlicher
Inhalte, die Sie auf das beschränken, was Sie bereits wissen und mögen. Weil
sie es „Vorschläge“ nennen, lassen sie Sie glauben, daß Sie etwas Neues
entdecken werden.
Ähnlichkeit – auch dieses Wort ist wichtig. Es wurde den antikreativen
Prinzipien von John Lockes Ideen über „Kontakt, Ähnlichkeit und Ursache und
Wirkung“ entnommen. Ähnlichkeit kombiniert mit Unendlichkeit ist der Schlüssel
zum Erfolg der Kybernetik.
Haben Sie den Begriff Kybernetik schon einmal gehört? Er stammt aus dem
Team von Norbert Wiener – dem Mann, den LaRouche als ersten grundlegend
widerlegt hat. Ich ermutige Sie, diese Geschichte zu studieren, die die Frage
der menschlichen Kreativität mit großer wissenschaftlicher Strenge
aufwirft.
Einfach ausgedrückt, versuchte Wiener, ein Programm zu schaffen, das
menschliches Verhalten in Situationen vorhersagen kann, die er als nichtlinear
bezeichnet. Mit „nichtlinear“ meint er, daß Menschen im Gegensatz zu
repetitiven mechanischen Systemen Entscheidungen nach ihrem freien Willen
treffen. So weit, so gut.
Deshalb müsse im Falle des freien Willens per Definition eine Wahl
getroffen werden. Im Hinblick auf die Kommunikation entspreche diese Wahl
einem Mangel an Information. Um eine Vorhersage treffen zu können, müsse man
sie in Information umsetzen und durch Rückkopplung verifizieren.
Wiener verwendet das Argument der statistischen Gastheorie, die zur
Entropie führt. Entropie wird gleichgesetzt mit Unordnung, wie z.B. einem
Mangel an Information.
Ich bin sicher, daß Sie hier nicht ganz folgen konnten, denn diese Begriffe
sind etwas abstrakt und kompliziert. Daher begnügen Sie sich mit dem, was Sie
verstehen, nämlich mit dem „freien Willen“, einem Konzept, das in der Mitte
des 20. Jahrhunderts, in dem dieser Wiener aufgewachsen ist, in Frage gestellt
wurde. Sie können also glücklich sein, weil wir ein System haben, das den
freien Willen anerkennt und in seinen Vorhersagen berücksichtigt, und das von
sehr hochrangigen Forschern. Das ist der Gipfel der Demokratie und des
Fortschritts?!
Doch Vorsicht. Ich möchte eine Bemerkung zum freien Willen machen. In der
Kybernetik wird der freie Wille tatsächlich durch den Programmierer begrenzt,
der begrenzte und bereits existierende Arten von Entscheidungen in seine
Analyse integriert. Wie könnte es anders sein? Letztendlich muß man ja ein
Programm erstellen!
Die Ausgabe des Programms erfolgt dann mit Hilfe der
Wahrscheinlichkeitstheorie und der Statistik. Welche Entscheidung wird mit
größerer Wahrscheinlichkeit getroffen als eine andere? Um immer genauere
Ergebnisse zu erhalten, muß die Maschine eine immer größere Datenmenge
einbeziehen. Und wenn ein Fehler auftritt, wird der Programmierer zu dem
Urteil kommen, daß die Daten unzureichend sind. Wieder einmal jagt der Hund
seinen eigenen Schwanz.
Hierfür wurde eine Art Subunternehmer geschaffen: der Konsument mit seinen
„Klicks“, die die Maschine korrigieren müssen, damit sie besser lernt (im
sogenannten „Tiefen Lernen“). Es gibt viele andere digital verwandte
Subunternehmer, wie Verkäufer auf Kommissionsbasis oder Paketzusteller, die in
Filmen wie Sorry We Missed You von Ken Loach dargestellt werden – und
die Ironie dabei ist, daß man solche Filme im Streaming ansehen oder bei
Amazon bestellen kann.
Um auf das Problem von Daten und Menge zurückzukommen, kann man sich einen
Grund vorstellen, warum die Trump-Administration TikTok und
WeChat verbieten will: Neben der Angst vor Spionage und Einmischung ist
das vor allem die Angst, China Zugang zu einem Ozean von Daten zu verschaffen,
der ihm Durchbrüche in der künstlichen Intelligenz ermöglichen würde.
Was sind also Ihrer Meinung nach die Ziele der Kybernetik? Kybernetik kommt
von dem griechischen Wort
κυβερνήτης
(kybernetes), was „regieren“ bedeutet.
Man hat schon oft über die kommerziellen Anwendungen gesprochen: Produkte
zu verkaufen ist nichts Neues. Ein weiterer zugegebener Aspekt von
Netflix, der leicht zu verstehen ist, ist politischer Natur: Menschen
in Schlaf versetzen, ihre Aufmerksamkeit ablenken.
Ein weiterer Aspekt ist die soziale Kontrolle. Dazu gehört die Überwachung,
die ja nicht alle beunruhigt, wie diejenigen, die denken: „Ich habe nichts zu
verbergen. Beobachtet mich ruhig, beobachtet, was ich tue, ich lasse mich
nicht manipulieren, da können Sie sicher sein.“
Ich stimme dieser Geisteshaltung zu und unterstütze sie. Aber Vorsicht!
Denn soziale Kontrolle bedeutet mehr als nur Überwachung: Sie ist auch
Orientierung, der Akt, der die Menschen dazu bringt, in einer bestimmten Weise
zu denken. Genau wie in der Werbung wollen sie nicht nur wissen, was Sie
mögen, und Ihren Geschmack überwachen, um Ihnen zu verkaufen, was Sie mögen,
sie werden sogar voraussagen, was Ihnen gefallen wird, noch bevor Sie selbst
es wissen. Genau wie in der Massenkultur wollen sie nicht nur wissen, welche
Fernsehserie Sie an den Bildschirm fesselt und von Widerstand und politischem
Handeln ablenken wird, sie werden Sie auch von bestimmten Meinungen
überzeugen, noch bevor Sie selbst sie formulieren können, und ohne daß Sie
überhaupt verstehen können, wie Sie zu einer solchen Schlußfolgerung
kommen.
Der Optimismus wird zerstört
Was ist das vorrangige Ziel der Oligarchie, um uns zu einer bestimmten
Denkweise zu bewegen? Den Optimismus zu zerstören! Denn es ist Ihre Sicht der
Welt, die bestimmt, ob Sie zum Handeln getrieben werden.
Und vor allem: Auf welcher Ebene können wir eingreifen – bei den Ursachen
oder bei den Wirkungen? Ja, die Folgen der Pandemie sind katastrophal. Ja, der
Mensch zerstört und richtet Schaden an. Ja, die Auswirkungen sind schlimm. Ja,
wir müssen die Folgen bekämpfen, um die negativen Auswirkungen zu verringern.
Aber ist das die Ebene, auf der wir wirksam handeln können?
Engagieren Sie sich im humanitären und sozialen Bereich, wenn Sie die
physische und moralische Energie dazu haben – ja und dreimal ja! Aber stellen
Sie sich vor, daß Sie eines Tages frustriert sein werden, weil Ihre
Handlungen, selbst wenn sie durch das Engagement weiterer Personen
verzehnfacht werden, niemals ausreichen werden, um die Maschinerie der
Zerstörung aufzuhalten, Ihre Energie wird dazu nicht ausreichen.
Konzentrieren Sie sich statt dessen auf die Ursachen und geben Sie
nicht auf. Das ist der Auftrag, den uns Lyndon LaRouche gegeben hat. Handeln
Sie auf dieser Ebene – dreitausend Mal ja!
So denken wie Kepler
Wie meine keplerianischen Freunde vorhin gezeigt haben, besteht die wahre
Rolle der Wissenschaft darin, die Ursachen der Phänomene unseres Universums zu
verstehen. Und von diesem Standpunkt aus sind die Neurowissenschaften – „dank“
Norbert Wiener – wissenschaftsfeindlich, weil sie versuchen, menschliche
Phänomene zu interpretieren, indem sie sie elektrisch beobachten und in
digitale Sprache übersetzen. Ist das die Art und Weise, wie Kreativität
funktioniert?
Kepler tat etwas zu seiner Zeit Unvorstellbares: Er bewies, daß die
Planetenbewegung keine Kreisbahn ist, obwohl der Kreis die perfekte Form hat
und die Himmel perfekt sein müssen, weil sie von Gott geschaffen wurden. Er
revolutionierte die Wissenschaft, und das anhand einer kleinen Anzahl von
Messungen. Drei Maße ergeben einen Kreis, jeder Satz von drei Maßen ergibt
einen anderen Kreis. Es bedurfte nur einer vierten Messung aus einem anderen
Kreis, um zu beweisen, daß die vom Planeten erzeugte Bewegung absolut kein
Kreis sein kann, sonst wären es ständig wechselnde Kreise! Brahe konnte sehen,
daß seine Daten in dem einen oder anderen System unter den bestehenden
Hypothesen nicht auf einen einfachen Nenner zu bringen waren. Er war
gezwungen, zu tüfteln, um die offensichtlichen Anomalien zu verbergen. Aber in
Wirklichkeit waren die Anomalien keine Anomalien: die Denkweise selbst war
eine Anomalie. Sobald man den wahren Weg des Planeten verstanden hatte, wurden
die „Anomalien“ auf einmal sehr kohärent.
Es ist der Geist der Hypothese, der es dem Menschen erlaubt, eine gezielte
Herangehensweise, eine Absicht bei der Datenaufnahme zu verfolgen und
vorhandene Messungen zu sortieren. Das erlaubt ihm, Rechenzeit zu sparen und
eine entscheidende Demonstration zu erreichen.
Computer können nichts beweisen
Ein Computer verfügt nicht über diese Fähigkeit. Er mag im Vergleich zum
Menschen eine unermeßliche Rechenkapazität haben, aber seine
Berechnungsmethode wird niemals ein Schlüssel zur Demonstration sein.
Tatsächlich ist es vergebliche Mühe, zu versuchen, mit einem Computer etwas
zu beweisen, weil das eigentliche Prinzip der Demonstration die Suche nach der
Wahrheit ist. Glauben Sie, ein Computer hat die geringste Vorstellung davon,
was eine Wahrheit ist? Hat er die Idee einer Idee? Was ist ein Kreis? Ist ein
Kreis eine Menge von Punkten? Nein, denn zwischen zwei Punkten wird es immer
einen Raum geben, während ein Kreis zunächst einmal eine ununterbrochene Linie
ist. Es ist eine Bewegung, etwas, das in der Welt des Computers keine
Bedeutung hat. Für ein solches Berechnungssystem bedeutet auch ein Kreis
nichts, sinnvoll sind dort nur durch Koordinaten definierte Punkte.
Im weiteren Sinne wird niemals eine Maschine den menschlichen Geist
verstehen können. Deshalb wird die Strategie benutzt, uns mit den digitalen
Riesen – Apple, Amazon, Google, Microsoft, Facebook – von allen
Seiten einzuhegen, um uns von der Kreativität abzulenken.
Kreativität ist unvereinbar mit statistischen und
Wahrscheinlichkeitssystemen. So hat LaRouche Wiener widerlegt. Während seines
Studiums der mathematischen Biophysik stellte LaRouche in der Zeit von 1948-52
Paradoxien in Modellen lebender Prozesse fest. Ich zitiere aus seiner
Autobiographie:
„Lebensprozesse funktionieren weiter, auch wenn die herkömmliche
mathematische Analyse der Entwicklung nicht mehr folgen kann. Ich folgerte
daraus, daß es eine Funktionenklasse höherer Ordnung geben müsse, die alle
gewöhnlichen mathematischen Funktionen als Sonderfall enthält.“
Aus seinen Werken schließt LaRouche folgendes: „Daß ich diesen Denkfehler
Wieners begriff, ermöglichte meine Entdeckungen auf dem Gebiet der
Wirtschaftswissenschaft und ist mithin der Schlüssel zu meinem heutigen
internationalen Einfluß.“
Besonders witzig ist es, wenn ein Prinzip entdeckt wird, noch bevor man die
entsprechenden Daten beobachtet hat. Und genau das hat Einstein mit der
Allgemeinen Relativitätstheorie getan, er stellte die Hypothese auf, daß ein
Phänomen mit Gravitationswellen auftritt, das erst ein Jahrhundert später
beobachtet werden konnte. Eine Maschine hätte das nie erreichen können. Der
andere Witz: Wissen Sie, wer die erste Rechenmaschine konzipiert hat? Kepler
und seine Freunde.
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