Unüberbückbare Probleme drängen die Welt in die Katastrophe
Von Natalia Witrenko
Natalia Witrenko ist Vorsitzende der Progressiven
Sozialistischen Partei der Ukraine und Doktor der Ökonomie. Bei der
Internetkonferenz des Schiller-Instituts hielt sie am 6. September den
folgenden Vortrag.
Sehr geehrte Konferenzteilnehmer, liebe Frau Helga Zepp-LaRouche,
ich möchte den Organisatoren dieser Konferenz danken, die sich mit einem
Thema von außerordentlicher Bedeutung für die Weltgemeinschaft befaßt, und ich
danke Ihnen, daß Sie mir, einer Politikerin aus der Ukraine, die Gelegenheit
gegeben haben, das Wort zu ergreifen.
Die Ereignisse in der heutigen Welt können nicht umhin, alle Menschen zu
alarmieren, denen das Schicksal ihres eigenen Landes und der Weltzivilisation
als Ganzes am Herzen liegt. Wir stehen vor einer akuten Verschärfung
unüberbrückbarer Widersprüche. Die Geschichte lehrt uns, daß solche
Widersprüche zu Weltkriegen führen. Und wenn ein Dritter Weltkrieg kommt, ein
Atomkrieg, dann ist das in der Tat der Weltuntergang.
Wie real ist diese Möglichkeit? Leider zeigen die Fakten hartnäckig, daß
die Bedrohung real ist.
Zuallererst fehlen der Welt im Augenblick jegliche Beschränkungen in Bezug
auf strategische und taktische Angriffswaffen. Im Jahr 2009 lief der Vertrag
zur Reduzierung strategischer Waffen (START-1) aus. Der Vertrag über
Nuklearstreitkräfte mittlerer Reichweite (INF) zwischen den USA und Rußland
wurde gekündigt. Dies bedeutet, daß die Vereinigten Staaten mobile
Marschflugkörper in europäischen Ländern wie Rumänien und Polen stationieren
können. Rußland hat erklärt, daß es im Falle der Umsetzung dieser Pläne eigene
bodengestützte Marschflugkörper stationieren wird und daß nicht nur die
Startanlagen dieser US-Raketen, sondern auch die Orte, an denen die
Entscheidungen über den Abschuß von Raketen gegen Rußland getroffen worden
wären, zerstört würden – und dies könnte nicht nur auf europäischem
Territorium geschehen.
Der am 5. Februar 2011 in Kraft getretene Vertrag zwischen der Russischen
Föderation und den Vereinigten Staaten von Amerika über Maßnahmen zur weiteren
Reduzierung und Begrenzung strategischer Angriffswaffen (New START) läuft 2021
aus. Moskaus Aufruf zur Verlängerung des Vertrags ist in Washington auf keine
positive Reaktion gestoßen.
Das bedeutet, daß die Welt im Februar nächsten Jahres in eine neue und
völlig uneingeschränkte Phase des Wettrüstens eintreten wird. Und das droht
einen Dritten Weltkrieg zu provozieren.
Meiner Meinung nach ist dies genau das, worauf sich die NATO vorbereitet.
Das NATO-Bündnis ist zu einer supranationalen Einrichtung geworden, die die
UN-Charta und das Völkerrecht, die die Grundlage für den Schutz gerechter und
friedlicher Wege der Konfliktlösung bilden würden, beiseite schiebt. Die NATO
nähert sich entgegen allen bisherigen Vereinbarungen beharrlich den Grenzen
Rußlands. Das ist ein riesiges geopolitisches Problem.
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um vorzuschlagen, daß unsere Konferenz
an die Staatschefs der USA und Rußlands appelliert, den Neuen START-Vertrag zu
verlängern.
Die Oligarchie
Ebenso unüberbrückbare Widersprüche bestehen zwischen Arbeit und Kapital
(Verarmung der Werktätigen, während die Einkommen der Oligarchie steigen);
zwischen den führenden kapitalistischen Ländern und den Ländern der Dritten
Welt; zwischen dem Bedarf der entwickelten Länder an natürlichen Ressourcen
(vor allem an Energie) und ihrer begrenzten Fähigkeit, sie von ihrem eigenen
Territorium aus zu versorgen. Die globale Finanzblase der Derivate wächst, was
auch eine Zunahme der Gefahr ihres Platzens bedeutet.
Ich möchte Ihnen noch einmal einige Fakten nennen: Nach Angaben von Oxfam
befinden sich 82% aller produzierten Reichtümer in den Händen von 1% der
Menschen auf der Erde, während das Einkommen des ärmsten Teils der
Weltbevölkerung nicht wächst. Es besteht eine erstaunliche Ungleichheit
zwischen den Ländern, gemessen am Pro-Kopf-BIP (in Kaufkraftparität): Die
Statistiken der Weltbank zeigen, daß dieser Indikator im Jahr 2018 in Niger
und Burundi 60- bis 70-mal niedriger war als in der Schweiz und den USA –
1.100 bzw. 700 Dollar pro Kopf gegenüber 65.000 Dollar und 62.900 Dollar.
Ein deutliches Beispiel für die zunehmenden Auseinandersetzungen um
Energieressourcen ist der Druck der USA gegen den Bau der Nord Stream-2- und
der South Stream-Pipeline. Was die Bedrohung der Weltwirtschaft durch das
Anwachsen der Staatsverschuldung und der Derivate betrifft, genügt es, an die
Warnungen unseres Lyndon LaRouche zu erinnern, der vor den ungeheuerlichen
sozialen und wirtschaftlichen Folgen warnte: dem Tod mehrerer Milliarden
Menschen, wenn die Derivateblase platzt.
Es sei darauf hingewiesen, daß die Zunahme der Spannungen in all diesen
Bereichen voranschreitet – trotz der Arbeit mächtiger internationaler
Institutionen, die solche Konflikte verhindern oder sie zumindest schnell und
gerecht lösen sollen. Ich meine die Organisation der Vereinten Nationen (UN),
die Welthandelsorganisation (WTO), die Weltbank und die Europäische Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE). Aber das Völkerrecht funktioniert nicht,
und immer mehr Streitfragen auf der Weltbühne werden gewaltsam gelöst.
Verschiedene Arten von Sanktionen, Aufstände und bewaffnete Konflikte,
„Farbenrevolutionen“ und Staatsstreiche, die vom Ausland aus geführt werden:
Sie alle liefern eine überzeugende Bestätigung dafür, daß dies der Fall
ist.
Der wichtigste Regisseur und Lenker dieser Prozesse sind die Vereinigten
Staaten. Wenn diese doch wenigstens selbst unerschütterliche Macht und
Stabilität an den Tag legen würden! Aber nein, im Gegenteil! Heute sind in den
USA alle Voraussetzungen für eine zerstörerische soziale Explosion
zusammengekommen. Die US-Demokraten haben ihre Techniken der
„Farbenrevolution“ in verschiedenen Ländern der Welt verfeinert. Aber nachdem
Hillary Clinton kürzlich dem Präsidentschaftskandidaten Joe Biden geraten
hatte, unter keinen Umständen einen Sieg Trumps zu akzeptieren, wurde klar,
daß auch für die Vereinigten Staaten eine „Farbenrevolution“ vorbereitet wird.
Der Kampf auf Leben und Tod zwischen den Trump-Nationalisten und den
demokratischen Transnationalisten könnte zu einem Bürgerkrieg und zum Zerfall
des Landes führen. Und das ist ein enormes Problem für die
Weltgemeinschaft.
Unter diesen Bedingungen ist jede Stärkung der Macht Rußlands und Chinas
für die USA tödlich. Dies erklärt ihre beharrlichen Bemühungen, die Ukraine
dazu zu bringen, den Krieg im Donbaß fortzusetzen und in Weißrußland anstelle
von Lukaschenko ihre Marionette einzusetzen.
Weißrußland
Zunächst zu Weißrußland, einem Land, das ich gut kenne; ich besuche es
praktisch jedes Jahr. Am 9. August errang Alexander Lukaschenko bei den
dortigen Präsidentschaftswahlen einen klaren Sieg, einen Sieg, den er sich
verdient hatte, denn während der 26 Jahre seiner Präsidentschaft hat Belarus
seine Wirtschaft wiederbelebt und entwickelt sie gut. Und sie bewahrten die
staatseigenen Unternehmen (als verläßliche Basis für die Lösung sozialer
Fragen), das öffentliche Eigentum an Grund und Boden, die kostenlose
Gesundheitsversorgung, Wohnraum und Versorgungseinrichtungen zu
erschwinglichen Preisen, Kultur und Sport – und das bei gleichzeitiger
Integration mit Rußland in den „Unionsstaat“.
Die Ukraine ist das genaue Gegenteil. Hier sind die Ergebnisse: In den
letzten 26 Jahren schrumpfte die Bevölkerung Weißrußlands um 5% (500.000
Menschen), dagegen ging die der Ukraine um 40% (20 Millionen Menschen) zurück.
In der Ukraine befinden wir uns nun im siebten Jahr des blutigen Gemetzels am
Donbaß, wo 15.000 Menschen getötet, Hunderttausende verwundet und Millionen
Menschen zu Flüchtlingen gemacht wurden. Das durchschnittliche Pro-Kopf-BIP
(in Kaufkraftparität) ist in Weißrußland während der Präsidentschaft
Lukaschenkos um das 18fache gestiegen, während es in der Ukraine 2019 nur noch
80% des Niveaus von 1990 erreichte. Nach den Statistiken der Weltbank für das
Jahr 2020 war das Pro-Kopf-Nationaleinkommen in Belarus fast doppelt so hoch
wie in der Ukraine (6280 $ gegenüber 3370 $ pro Kopf). Die Oligarchen dagegen
haben sich in der Ukraine vervielfacht. Das sind Milliardäre und Millionäre,
die ihre Gewinne von vielen hundert Millionen Dollar im Ausland anlegen oder
für parasitären Konsum ausgeben.
Die Weißrussen wissen das und sehen es selbst. Deshalb stimmten bei 84%
Wahlbeteiligung 80% für den amtierenden Präsidenten. Und dann erklärte sich
plötzlich die völlig unbekannte Hausfrau Swjatlana Zichanouskaja, die 10% der
Stimmen erhielt, zur Siegerin! Dafür gibt es keine Beweise, trotzdem
unterstützt der Westen sie vehement!
Die Erklärung ist einfach: Die Regierungen der USA und der EU haben
beschlossen, Lukaschenko zu stürzen und die Macht an ihre Marionette zu
übergeben, um Weißrußland zu plündern, sein Volk in die Knie zu zwingen und es
zu Rußlands Feind zu machen. Und sobald Weißrußland in der Gewalt der NATO
ist, werden sein Land, seine Banken, seine Fabriken und seine Infrastruktur in
den Händen ausländischer Herren sein. Schauen Sie sich nur die Ukraine an! Wie
in der Ukraine sind die Nazis der Motor der Verleumdungen gegen Lukaschenko
und dieser „weißen Revolution“ in Weißrußland. Sie wurden vom Westen
ausgebildet, vorbereitet und großzügig finanziert – der Westen gab 6 Mrd.$ für
die Unterstützung der Opposition aus –, so daß die Nazis ihre Metastasen in
der ganzen Gesellschaft verstreut haben. Sie sind noch nicht sichtbar. Bisher
sieht man Frauen in weißen Gewändern, mit weißen Blumen, friedliche
Demonstrationen, Künstler, Lieder...
Das haben wir (in der Ukraine) bereits hinter uns. Es gibt verschiedene
Nuancen, aber es ist derselbe hybride Krieg. Unter dem Schafspelz verbergen
sich die Reißzähne eines Wolfes, der mit Slogans über die Sorge um die
weißrussische Sprache Russophobie und Haß auf alles Russische sät. Mit einem
Slogan über das nationale Gedächtnis bereiten sie sich darauf vor, die
Geschichte neu zu schreiben, Kollaborateure zu Helden zu machen und die Taten
unserer Väter und Großväter, die den Faschismus besiegt haben, mit Füßen zu
treten. Mit Parolen über die Sorge um die Wirtschaft bereiten sie die totale
Privatisierung und den freien Verkauf von Land vor. Mit Parolen über die
Notwendigkeit einer eigenen Kirche bereiten sie die Auslöschung der Orthodoxie
vor. Mit Parolen über die Sorge um das Wohlergehen der Weißrussen drängen sie
die Lage in Richtung Krieg mit Rußland – unter der Schirmherrschaft der NATO
und mit amerikanischen und EU-Geldern.
In diesem Fall wartet das Schicksal der Ukraine auf Weißrußland. Die
Ukraine verlor ihre Verbindungen zu Rußland, ließ sich zur Magd des Westens
und zum Kanonenfutter für die NATO machen, sie verlor damit ihre Souveränität
vollständig und bewegt sich unaufhaltsam auf eine Katastrophe zu. Und sie wird
die europäische Gemeinschaft zumindest in den Strudel ihrer Probleme
hineinziehen. 2004 und 2014, nach der Inszenierung zweier Revolutionen, ist
die Ukraine zu einem Ort des Bürgerkriegs, einer zerstörten Wirtschaft und der
ärmsten Bevölkerung Europas geworden. Es ist ein Land, in dem Hitlers Schergen
rehabilitiert und zu Helden gemacht wurden, in dem Nazi-Banden auf den Straßen
wüten (unter dem Schutz der Strafverfolgungsbehörden), in dem Journalisten und
Politiker verprügelt oder ermordet werden und Menschen aus politischen Gründen
lebendig verbrannt werden (wie am 2. Mai 2014 in Odessa). Niemand untersucht
all dies, niemand bestraft die Schuldigen. Die Ukraine hat sich im
wesentlichen in einen Nazi-Staat verwandelt, was auf einen Krieg gegen Rußland
abzielt.
Heute wird dieselbe Art von Staatsstreich mit denselben Zielen in
Weißrußland durchgeführt. Armenien und Kasachstan werden die nächsten sein.
Die Politik des Westens, angeführt von den USA, besteht darin, die ehemaligen
Sowjet-Republiken in die NATO zu ziehen, und faschistische und
nationalistische Parteien und Bewegungen werden dazu benutzt, dies zu
erreichen.
Der amerikanische Film Armageddon kam zu dem Schluß: „Um eine
Katastrophe zu verhindern, brauchen wir ein Wunder – oder die gemeinsame
Anstrengungen der Besten der Besten, zusammen mit der gesamten technischen
Macht der Menschheit.“
Ich denke, unsere Konferenz sollte ein Komitee zur Rettung der
Weltzivilisation initiieren. Ich bin überzeugt, daß Helga Zepp-LaRouche die
Person ist, die würdig ist, dieses Komitee zu leiten. Und dann werden wir
unseren Beitrag dazu leisten, Armageddon zu verhindern und die Menschheit zu
retten.
|