Wir brauchen ein System, das auf souveränen Staaten gründet
Von Marco Zanni
Marco Zanni, Vorsitzender der Fraktion „Identität und Demokratie“
des Europäischen Parlaments, hielt bei der Internet-Konferenz des
Schiller-Instituts den folgenden Vortrag.
Guten Tag allerseits, und vielen Dank an das Schiller-Institut, daß Sie mir
die Gelegenheit geben, in einer so wichtigen Konferenz und vor einem so
wichtigen Publikum zu sprechen.
Es liegt auf der Hand, daß wir gerade jetzt in besonderen Zeiten leben, in
dem Sinne, daß heute die Schwierigkeiten, die die Europäische Union bereits vor
der COVID-19-Krise hatte, durch diese Pandemie noch komplizierter und
schädlicher werden, verglichen mit dem Wirtschaftsmodell, für das wir uns
entschieden haben und das wir seit vielen Jahren nutzen.
Heute werde ich versuchen, meine Perspektiven als Mitglied des Europäischen
Parlaments und auch als italienischer Politiker darzulegen, zu den Geschehnissen
vor der Pandemie und insbesondere unmittelbar nach der Finanzkrise 2008, die die
ganze Welt in Mitleidenschaft gezogen hat, wie die Pandemie die Welt prägt, und
was wir in Zukunft brauchen, um Wohlstand, Wachstum und Multilateralismus in der
Welt wiederherzustellen.
Ich werde aus der europäischen Perspektive beginnen. Sie wissen, daß sich die
Europäische Union und insbesondere die Eurozone, nachdem sie von der
Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 betroffen war, die sich in der Eurozone in
eine Staatsschuldenkrise verwandelte, nie ganz von dieser Krise erholen konnte.
So hatte die Eurozone Mühe, das Niveau der wirtschaftlichen Aktivität, das wir
vor 2008 hatten, wieder zu erreichen. Dabei stützten wir uns auf schlechte
Regeln – d.h. auf Austerität, die sich auf das Niveau der wirtschaftlichen
Aktivitäten auswirkte, insbesondere auf die Höhe der Investitionen in die
Infrastruktur in der Europäischen Union, die heute in den europäischen Ländern
auf historischen Tiefständen sind, und auf die Macht einer unvollständigen
Zentralbank, wie es die EZB [Europäische Zentralbank] heute ist. Aber leider gab
es nichts anderes, und so versuchte die EZB, mit ihrer außergewöhnlichen und
unkommerziellen Geldpolitik, das gesamte Konstrukt der Europäischen Union mit
ihrem falschen Wirtschafts- und Entwicklungsmodell aufrechtzuerhalten und zu
retten.
Wir erlebten also, wie ich bereits sagte, ein verlangsamtes
Wirtschaftswachstum, historisch niedrige Investitionen insbesondere in die
Infrastruktur, ein historisch niedriges Niveau der wirtschaftlichen und
industriellen Aktivitäten in einigen Ländern – sehr schwere Zeiten bei dem
Versuch, die Lücke zu anderen Entwicklungsländern auf der Welt zu schließen,
z.B. in Bezug auf Investitionen in neue Technologien, in künstliche Intelligenz,
in „Fin-Tech“ [Finanztechnologie], in neue Technologien, die bei der Entwicklung
der Welt helfen könnten.
Und zu dieser Schwierigkeit addierte sich die Pandemie ab Dezember 2019 und
Januar 2020. Wir alle erlebten aufgrund der COVID-19-Krise einen enormen
Rückgang des BIP, unserer wirtschaftlichen Aktivitäten, im Grunde auf der ganzen
Welt. Wir haben heute Schwierigkeiten, zu verstehen, wie wir uns von dem
gewaltigen Schlag erholen können, den wir erlebt haben und immer noch erleben –
aber auch, wie wir diese Situation, diese Krise nutzen können, um die
Wirtschafts- und Entwicklungsmodelle, auf denen die modernen Volkswirtschaften
basierten und auf die sie sich in den letzten 20 Jahren gestützt haben, einer
gründlichen Überprüfung zu unterziehen. Und auch, wie man die multilateralen
Institutionen, die zur Unterstützung dieses Systems geschaffen wurden, so
gestalten kann, daß sie besser geeignet sind für die Realwirtschaft, für die
Menschen und für einen sicheren Weg des Wachstums und des Wohlbefindens für
unsere Menschen und unsere Länder. Das ist nicht leicht, denn das Modell, von
dem wir ausgehen, hat unsere Volkswirtschaften zerrüttet, hat Divergenzen
geschaffen und stützt sich auf Strategien, die die Fähigkeiten unserer Länder
noch mehr einschränken. Wir brauchen diese Fähigkeiten und das Konzept der
nationalen Souveränität.
Was war falsch?
Schauen wir uns an, was an unserem Wirtschafts- und Entwicklungsmodell falsch
war; schauen wir uns an, was die Pandemie zu unseren Schwierigkeiten beigetragen
hat; schauen wir uns die Krise des Multilateralismus an, der auf spekulativer
Finanzierung, auf spekulativem Handel statt auf der Realwirtschaft beruht. Ich
kann mir eine neue Art der Entwicklung vorstellen, die nicht mehr auf
spekulativer Finanzierung, auf Banken, auf Derivaten und auf der Kluft zwischen
Armen und Reichen beruht - einen Multilateralismus, der auf dem Konzept der
souveränen Nationen beruht.
Das erste, was wir also tun müssen, um unser wirtschaftliches
Entwicklungsmodell zu verbessern, ist, das Konzept souveräner Nationen
als zentral zu bekräftigen, denn eine Zusammenarbeit, von der alle profitieren,
kann nur garantiert werden, wenn wir die Souveränität anderer Länder anerkennen
und die Tatsache, daß souveräne Nationen der Hauptpfeiler moderner Demokratien
sind. Es handelt sich hier nicht um Globalisierung auf der Grundlage
spekulativer Finanzen, sondern um eine multilaterale Zusammenarbeit auf der
Grundlage souveräner Nationen.
Dazu müssen wir die Art und Weise, wie wir damit in den vergangenen Jahren
umgegangen sind, neu gestalten. Wir wissen, daß der Tiefe Staat in modernen
Volkswirtschaften versucht, den Aufstieg oder die Renaissance souveräner
Nationen zu verhindern. Sie zogen es eindeutig vor, unser Entwicklungsmodell auf
eine unkontrollierte Globalisierung und unkontrollierte Finanzen zu stützen.
Aber dieses Modell führte uns in eine Krise, weil diese unkontrollierte
finanzielle Freiheit Finanzblasen fütterte. Um das Platzen dieser Finanzblasen
zu verhindern, mußten die Zentralbanken eingreifen und noch mehr Finanzblasen
füttern. Dieses System, das System, das von den Eliten auf der ganzen Welt, in
vielen entwickelten Ländern vom Tiefen Staat unterstützt wird, schadet also dem
Überleben unserer Volkswirtschaften sehr.
Wir müssen dem Einhalt gebieten. Wir müssen unsere multilateralen
Institutionen umgestalten. Wir müssen ein neues Konzept souveräner Staaten
schaffen. Wir müssen das respektieren, und wir müssen unser wirtschaftliches
Entwicklungsmodell auf der Grundlage eines Multilateralismus mit souveränen
Nationen umgestalten.
Ich denke, was im November in den Vereinigten Staaten geschehen wird, wird
von grundlegender Bedeutung dafür sein, wie es in Zukunft weitergeht. Und dafür,
ob wir unser System auf die Art und Weise umgestalten können, von der ich
spreche.
Ich denke, was Herr Trump bisher getan hat, war wirklich erstaunlich.
Bedenken Sie, daß er vom Tiefen Staat der USA bekämpft wurde, der keinen Frieden
in der Welt will, der kein System will, das aus einer multilateralen
Win-Win-Kooperation besteht. Wenn es Trump also gelingt, ein zweites Mandat zu
erhalten, werden meiner Meinung nach alle Spannungen, die wir in der
Vergangenheit zwischen den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union, China
und Rußland erlebt haben, überwunden sein. Und der Win-Win-Multilateralismus
wird endlich etabliert werden.
Ich denke, daß dies die Gelegenheit sein wird, alle führenden Politiker der
Welt – USA, Europäische Union, Rußland, China, Japan, Entwicklungsländer, G-20 –
an einen Tisch zu bringen, um das Tempo für ein neues Wirtschaftssystem
festzulegen, das nicht mehr auf spekulativen Finanzen, nicht mehr auf zu großen
Banken und auf Derivaten basiert, sondern auf einer Politik, die für die
Realwirtschaft gemacht ist, und einer Politik, die darauf abzielt, die Kluft
zwischen den reichsten und den ärmsten Menschen zu verringern.
Diese Kluft hat in den letzten 20 Jahren zugenommen. Wir brauchen ein System,
das diese Kluft schnell verringert – ein System, das viel in die Infrastruktur
und in neue Technologien investiert. Wir brauchen dies nicht nur in
Volkswirtschaften, die in Bezug auf BIP und Wachstum düstere Zeiten erlebt
haben, wie mein Land Italien, sondern auch in vermeintlich reichen Ländern wie
Deutschland. Das Niveau der Infrastruktur in Deutschland ist noch
problematischer als in Italien oder anderen europäischen Ländern. Dasselbe gilt
für die Vereinigten Staaten. Wir brauchen ein System, das Werte für unsere
Bürger und unsere Unternehmen schafft, statt nur für die Banker. Das ist das
System, das ich will.
Die Pandemie gibt uns die Gelegenheit, unser Wirtschafts- und
Entwicklungsmodell neu zu gestalten, es zu überdenken. Wir werden bei der
Wiederherstellung des Wachstums, bei der Wiederherstellung des Wohlstands in
unseren Ländern und bei unseren Menschen nur erfolgreich sein, wenn wir
verstehen, daß das, was wir in der Vergangenheit gemacht haben, falsch ist. Das
Füttern von Wirtschafts- und Finanzblasen bedroht unser System, bedroht unsere
Lebensweise. Wir müssen zu einem System übergehen, das nicht mehr auf
spekulativen Finanzen beruht, sondern auf sichtbar souveränen Staaten, die in
einer Win-Win-Kooperation zusammenarbeiten. Das ist die Art und Weise, wie wir
mit der enormen Krise umgehen müssen, mit der wir heute leben.
Nochmals herzlichen Dank an meine Freunde vom Schiller-Institut. Vielen Dank
an Ihre Zuhörer, und ich hoffe, Sie alle bald persönlich zu sehen, damit wir
unsere Ideen für eine bessere Welt aus souveränen Nationen, die miteinander
kooperieren, besser entwickeln können. Auf Wiedersehen.
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