Friedrich Schiller Denkmal
Friedrich Schiller



Hauptseite
       

Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Die drohende Katastrophe in Afghanistan verhindern

Von Dr. Pino Arlacchi

Dr. Pino Arlacchi ist Soziologieprofessor an der Sassari-Universität, ehemaliger Exekutivdirektor des UN-Büros für Drogenbekämpfung und Verbrechensverhütung und ehemaliger Afghanistan-Sonderberichterstatter des Europäischen Parlaments. Als Beitrag für die Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 13-14. November übermittelte er das folgende Interview, die Fragen stellte Claudio Celani.

Dr. Pino Arlacchi: Zunächst einmal: Ich bin überzeugt, daß die UN-Behörden heute die Wahrheit über Afghanistan sagen. Die Situation ist tragisch, denn der Winter ist sehr streng. Sie kennen das Land, ich kenne das Land sehr gut. Und die Taliban sind erst seit ein paar Monaten an der Macht. Es gibt nur eine sehr, sehr kleine Anzahl von Initiativen in Bezug auf humanitäre Hilfe aus den Nachbarländern – die einzigen, die mir bekannt sind. Die Europäische Union hat sich verpflichtet, weiterhin rund 1 Milliarde Dollar pro Jahr an nichtmilitärischer Hilfe für Afghanistan zu investieren, wie sie es schon seit langem getan hat, aber ich sehe keine Absicht und keinen Plan, diese Summe in der Notsituation auszugeben.

Über die USA weiß ich es wirklich nicht, denn die Amerikaner sind völlig still. Sie zeigen keinerlei Verantwortung für ein Land, das sie besetzt haben und für das sie 20 Jahre lang verantwortlich waren! Es ist wirklich erstaunlich, wie sie sich verhalten. Sie tun so, als wären sie nie dort gewesen.

Von außerhalb Afghanistans gibt es somit nur diesen kleinen Zustrom von humanitärer Hilfe aus den Nachbarländern.

Es gibt auch andere Formen der Hilfe, die man einsetzen könnte: Als erstes Afghanistan sein Geld zurückgeben! Das Geld der afghanischen Zentralbank ist eingefroren, es sind mindestens vier Milliarden Dollar, eingefroren von den Amerikanern. Schließlich ist das eine beträchtliche Summe. Vergessen Sie nicht, daß Afghanistans BIP nur 20 Mrd. Dollar beträgt! Es also ein beträchtlicher Teil ihres gesamten Geldes, ihres eigenen Geldes, ihres BIP eingefroren. Und ich verstehe nicht, warum man das weiterhin tut. Gut, man will das Geld nicht den Taliban geben. Aber humanitäre Hilfe kann direkt an die Bevölkerung geliefert werden. Es gibt viele Möglichkeiten, die Regierung da nicht mit hineinzuziehen. Und das macht diese Untätigkeit wirklich fast schon zum Verbrechen.

    Frage: Glauben Sie, daß die Taliban wegen der Sanktionen verstärkt auf den Drogenhandel setzen werden?

Arlacchi: Eher nein. Aber was auch immer sie in der Drogenfrage tun, es ist zu spät. Um etwas auf dem Markt verkaufen zu können, müßten sie mindestens bis April warten. Und wenn sie sich dagegen entscheiden, ist es auch zu spät, weil es zu spät ist, die Aussaat, den Anbau, die Anpflanzung der Opiumsamen zu stoppen. So oder so, sie müßten sowieso warten, bis sie eine Ernte haben und sie verkaufen können. Das bedeutet, daß wir in der Zwischenzeit eine humanitäre Katastrophe in dem Land erleben.

Ich glaube also nicht, daß das eine reale Gefahr ist, jedenfalls nicht im Moment. Die wirkliche Gefahr sehe ich in der völligen Gleichgültigkeit und dem zynischen Kalkül, die Bevölkerung auszuhungern, um einen Regimewechsel zu erreichen. Das ist die schlimmste Hypothese, das Schlimmste! Und ich fürchte, daß die kollektive Bestrafung eines Volkes eines der schrecklichsten internationalen Verbrechen nach dem Völkerrecht darstellt. Man kann eine Bevölkerung nicht bestrafen, weil sie eine Regierung hat, die einem nicht gefällt. Es gab in der Vergangenheit Situationen, wo die internationale Gemeinschaft – zum Beispiel in Nordkorea usw. – in der Lage war, etwas zu organisieren, wenn es ein Problem gab: Vor 15 Jahren fehlte es im ganzen Land an Lebensmitteln, und die internationale Gemeinschaft griff ein, obwohl die nordkoreanische Regierung völlig geächtet war.

Und ich bin ehrlich überrascht, daß ein sehr schlechter Präzedenzfall geschaffen wird, wenn man in Afghanistan nichts tut. Es wird das erste Mal sein, daß eine große humanitäre Krise von der internationalen Gemeinschaft nicht bewältigt wird.

    Frage: Wie denken Sie über die Konferenzen, die gerade zwischen den Nachbarländern stattfinden?

Arlacchi: Es ist zumindest etwas, das sich weiterentwickelt. Vielleicht ist es sogar positiv, denn Afghanistan sollte als eine regionale Angelegenheit behandelt werden. Die Nachbarländer, die Länder der Region sollten sich jetzt als erste um Afghanistan kümmern.

Die Europäer und die Amerikaner sollten ebenfalls eingreifen und sich aktiv am Wiederaufbau des Landes beteiligen, aber nur, weil sie das Land 20 Jahre lang regiert haben: Damit ist es ihre Verantwortung.

    Frage: Welche sofortigen Notmaßnahmen muß der Westen gegenüber Afghanistan ergreifen?

Arlacchi: Dringende finanzielle Intervention. Finanzielle Unterstützung für UN-Organisationen, die bereits vor Ort sind; schnelle Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen und afghanischen Einrichtungen, die Lebensmittel, Medikamente und Unterkünfte für die Bedürftigen verteilen. Und sofortige Freigabe des Geldes, das dem afghanischen Volk gehört und von den Amerikanern eingefroren wurde.

    Frage: Welche Maßnahmen sollten langfristig ergriffen werden?

Arlacchi: Der Westen sollte den Wiederaufbau des Landes unterstützen. Das Land war schon im Oktober 2001, als die Amerikaner einmarschierten, in einem sehr schlechten Zustand. Es handelt sich also um ein Land, das durch mehr als 30 Jahre Bürgerkrieg und eine ausländische Invasion zerstört wurde und das von Grund auf neu aufgebaut werden muß.

Wenn es irgendeine Art von Entwicklung gibt, dann die Entwicklung der Städte. Kabul zum Beispiel hat sich verändert, es ist jetzt eine viel größere Stadt als vor 20 oder 30 Jahren. Aber der größte Teil auch des nicht ländlichen Afghanistans ist noch genauso wie vor zehn Jahren. Natürlich gibt es mehr Schulen. Es gab einen Fortschritt, aber dieser Fortschritt war ganz natürlich. Das war in allen Teilen der Welt so, die in den letzten 20 Jahren gewachsen sind. Afghanistan wuchs nur etwas langsamer als der Rest der Region.

Ein großer Wiederaufbauplan für Afghanistan, der sich um die Ressourcen für das Land bemüht, ist also durchaus sinnvoll. Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt, aber das ist auf die Tragödie des Bürgerkriegs zurückzuführen. Potentiell ist es ein Land, das ein mittleres Einkommen haben könnte, sogar in relativ kurzer Zeit. In nicht mehr als 10-15 Jahren könnte Afghanistan völlig anders aussehen.

Und es hat Rohstoffe. Es gibt viele Emigranten, Menschen, die zurückkommen können und viele Ressourcen mitbringen. Außerdem ist es ein Land mit großem Potential, insbesondere in der Landwirtschaft und der Kleinindustrie.

    Frage: Wie wird Ihrer Ansicht nach die Feindseligkeit des Westens gegenüber Rußland und China den Wiederaufbau in Afghanistan beeinflussen?

Arlacchi: Ich hatte gehofft, daß eine solche Politik nicht betrieben würde, schon in der Vergangenheit. So wird Afghanistan in die Hände Chinas und Rußlands getrieben, weil sie vielleicht die einzigen beiden Großmächte sind, die sich um das Land kümmern. Und dann schiebt man die Schuld auf Afghanistan, weil es sich auf die sogenannte „andere Seite“ schlägt. Man schafft sich also im Grunde die Bedrohung selbst, und geht dann los, um die Bedrohung zu bekämpfen – und dann bitten sie vielleicht noch die Europäer, ihnen bei der Bekämpfung einer Bedrohung zu helfen, die sie selbst geschaffen haben!

Die Amerikaner haben das in den letzten 30 Jahren überall so gemacht. Erst schaffen sie die Bedrohung, und dann bitten sie um Hilfe und bieten Schutz vor dieser Bedrohung. Ich hoffe, daß sie das mit Afghanistan nicht wiederholen werden.