Für einen Dialog der Zivilisationen brauchen wir gemeinsame Kultivierung – mit China!
Von Ole Döring, Berlin und Changsha
Prof. Dr. Ole Döring ist habilitierter Philosoph und promovierter
Sinologe. Er hat eine ordentliche Professur an der Hunan Normal University,
Foreign Studies College, Changsha, China, er ist außerordentlicher Professor an
der Universität Peking, Abteilung für globale Gesundheit und Privatdozent am
Karlsruher Institut für Technologiezukunft, KIT, Deutschland. Den folgenden
Vortrag hielt er am 14. November in einer Internetkonferenz des
Schiller-Instituts, er wurde aus dem Englischen übersetzt.
1. Kontext: Dem Frühling den Grund bereiten
Nach 1979 öffnete sich China und machte sich auf den Weg, um zu lernen, um
besser zu werden. Wie das erreicht werden sollte und was das eigentlich
bedeutete, war damals noch nicht klar. Dies war allerdings der Beginn eines
beispiellosen Lernprozesses.
Tatsächlich tragen viele der atemberaubenden Errungenschaften des gemeinsamen
Wohlstands, deren Zeuge wir alle sind, einen Subtext: Laßt uns herausfinden, wie
wir nicht nur besser werden können, sondern auch, was das eigentlich bedeutet
und wie man es am besten machen kann!
Diese Selbstreflexion fand hinter den Kulissen statt, in den Köpfen, in der
Wissenschaft, in der politischen Führung, während die Leistungen beim Aufbau der
Wirtschaft, der Infrastrukturen und des Wissens immer besser wurden.
Wie diese Leistungen allmählich größeren gesellschaftlichen Gütern dienen
konnten, blieb offen. Die Methode des Erfolgs reiste in einigen Waggons des
Zuges mit, den Deng Xiaoping ersonnen hatte, und lenkte alle Ressourcen zur
Lokomotive. Die Aufgabe bestand darin, zu reparieren, zu überleben und zu
konsolidieren, während das Leben weiterging. Das selbstreflektierte Lernen und
die Anpassung gingen weiter und wurden auch in der Folgezeit besser.
Zwei Jahrzehnte später, in den 1990er Jahren, war dann der nächste Schritt
ein tragfähiges Machtwachstum im globalen Maßstab. Es war an der Zeit, China auf
einer angemessenen Ebene unter den Nationen zu etablieren. Chinas Bestrebungen
wuchsen durch die internationalen Institutionen (wie in der WTO und im
UN-Rahmen), so daß es nun eine angemessene Verantwortung in der globalen
Governance übernimmt und die Instrumente der internationalen Diplomatie und des
internationalen Rechts beherrscht.
Vor kurzem wurde mit der „zweifachen Zirkulation“ (dual circulation)
der nächste Schritt in diesem Prozeß vollzogen. Der Zeitpunkt wurde durch die
aggressive Politik anderer Länder erzwungen und begann wohl etwas vor seinem
idealen Moment. Dennoch zeigt sich auch hier eine Konsolidierung des
grundlegenden Lernprozesses. Als souveräne Nation gewinnt China nach zwei
Jahrzehnten der strategischen Öffnung die Kontrolle zurück. So löst es
beispielsweise ungesunde Verbindungen zu kommerziellen Anbietern von
Bildungsdienstleistungen, sichert dem Souverän die Zuständigkeit für das
Bildungswesen und nimmt damit die Verantwortung für das soziale Wohlergehen und
die öffentliche Gesundheit sowie die Fürsorge für benachteiligte Bürger für
einen gerechten Zugang zu angemessener Bildung wahr, um die Standards für ein
ausgewogenes Wachstum zu gewährleisten, und zwar zu seinen eigenen Bedingungen
und mit seinen eigenen Mitteln.
China würde und konnte niemals eine Nation werden, die sich mit „Kopieren und
Nachmachen“ zufrieden gibt, weder im kleinen Maßstab der Produktion, noch durch
den Import von Blaupausen für die Wissenschafts- und Bildungsindustrie, noch in
Bezug auf sein politisches System. China will es richtig machen, das heißt, es
will lernen, besser zu werden. Zu dieser Logik gehört natürlich auch, daß
Scheitern und Fehler zugegeben und richtig behoben werden müssen.
Verantwortung ist ein gesellschaftliches Gut, das mit Vertrauen verbunden ist
und alle Politikbereiche betrifft. Es steht offensichtlich viel auf dem Spiel,
wenn man das Wettbewerbsumfeld betrachtet, das durch Kampagnen angeheizt wird,
die Mißtrauen säen und Chinas öffentliches „Gesicht“ untergraben, die meist auf
Unwissenheit, Gier oder Feindseligkeit beruhen.
2. Wachstum ermöglichen
Wie behält Zivilisiertheit die Oberhand? Nachdem in den 1990er Jahren mit
systematischer Regulierung und Gesetzgebung begonnen wurde, als eine Übung in
Social Engineering, bei der mit verschiedenen Strategien, mal durch Beteiligung
– mal autoritär, experimentiert wurde, brachte China mit der BRI und der
inländischen Entwicklung riesige Infrastrukturinitiativen auf den Weg. Dies
wurde bald mit der Aufmerksamkeit für Soft Skills, für die Bedeutung von
Vertrauen und Zusammenarbeit über Kulturen und Schichten hinweg kombiniert.
Gekonntes soziales Engagement ist hierbei entscheidend: Angesichts einer immer
besser ausgebildeten, diversifizierten und anspruchsvolleren Bevölkerung ist ein
neuer Ansatz erforderlich, um den Menschen gerecht zu werden. Es kombiniert
verantwortungsvolle Innovation im öffentlichen und privaten Sektor der sozialen
Güter, vor allem im Bildungsbereich.
Auf diese Weise wird die Fortsetzung des Lernens und der fortlaufenden
Anpassung an das Machbare ermöglicht. Andere Sektoren werden diesem Weg folgen,
wie Gesundheit und Umwelt, die sehr unter der neoliberalen globalen Monokultur
gelitten haben. Andere Bereiche werden besonders sensibel sein, wie die
Kontrolle über kommerzielle digitale und KI-Technologien. Solange der
Gesellschaftsvertrag hält und die Stabilität aufrechterhalten werden kann, ist
es möglich, daß dieser Kurs beibehalten wird, indem immer größere
Bevölkerungsgruppen als Nutznießer integriert werden.
So wurden seit den von Zhu Xi (1130-1200) angeregten Bildungsreformen
Kultivierung und Macht als das Yin und Yang des Wohlstands Chinas und der
Chinesen verankert. Die Mandarine installierten die Meritokratie als Modell für
eine legitime Herrschaft, aus der Verknüpfung von Macht und Kompetenz, die durch
Bildung als Motor der sozialen Mobilität belebt wurde. Dies war keine
akademische Philosophie, sondern eine philosophische Einsicht, die sich für
soziale Güter einsetzte. Dieses ultimative tertium comparationis für
alles vernunftgeleitete Denken fehlt heute, wenn wir ernsthaft die Silos des
Denkens in Nationen, Sprachen und Disziplinen überwinden und die Kulturen
entsprechend der Schönheit der wahren menschlichen Kultur verbinden wollen.
Egozentrische Kulturen der Philosophie haben es nicht leicht gehabt, im
globalisiertem 21. Jahrhundert. Als entsprechender kultureller Horizont mit
unseren globalen Realitäten kann die Philosophie selbst neu erfunden werden und
zur Inspiration für eine humane Zusammenarbeit werden. Dies ist eine gemeinsame
Aufgabe. Ein einheitliches philosophisches Curriculum, das die klassische
Wissenschaft der Weltphilosophien, etwa der chinesischen und europäischen
Traditionen, integriert, gibt es als akademische Einrichtung weder in China noch
in Deutschland. Die Notwendigkeit und der potentielle Nutzen einer solchen
Renaissance sind so offenkundig und die materiellen und politischen
Investitionen dafür so gering, daß es nicht aus vernünftigen Gründen zu
verstehen ist. Wir können es schaffen, wenn wir das tun, was diese
philosophischen Traditionen anfangs immer getan haben. Aufklärung betreiben,
erforschen und kritisieren.
Die Zukunft ist ein offenes Buch. Wir sollten es gemeinsam schreiben, in
einer gemeinsamen Sprache, ehrlich und wahrhaftig. Welche Sprache könnte das
sein, die alles Wissen integriert und ausdrückt, das in unseren natürlichen
Sprachen und kulturellen Erfahrungshorizonten enthalten ist?
3. Nachhaltig wachsen
Lassen Sie uns dieses Wissen zu Rate ziehen. Das Buch des Philosophen Meng
(Meng Zi, 4. Jh. v. Chr.) behauptet und bestätigt diesen Anspruch indem es ihn
erläutert: „Ich verstehe Worte. Ich bin gut darin, meinen intelligiblen Geist /
Qi zu nähren.“
Der Philosoph Meng (Meng Zi) wies auf die Sprache der Philosophie hin, die
reflektiertes Nachdenken und gelenktes Handeln aus einer letzten, verbindenden
Quelle ermöglicht, Alltagssprache und Orientierungswissen begleitet. Zu seiner
Zeit argumentierte er gegen (wie wir heute sagen würden:) utilitaristische
Behavioristen wie den Philosophen Gao (Gao Zi). Meng Zi’s Hauptargument war, daß
das Verständnis der menschlichen Natur, der Ontologie, der Erkenntnistheorie und
der Ethik bedeutet, Verantwortung für das menschliche Handeln zu übernehmen und
das Wollen mit der Kompetenz und Verantwortung in Einklang zu bringen. Das
zugrundeliegende Wissen und die treibenden Motive regulieren sich selbst.
Er erzählt uns ein Gleichnis, die Geschichte des Mannes aus dem Staat Song,
der ging, um „An den Sprossen zu zerren, damit sie wachsen 予助苗長”
„Es gab einen Mann in Song, der sich darüber ärgerte, daß sein junges
Getreide nicht besser wuchs, und so riß er an ihm. Als er das getan hatte,
kehrte er nach Hause zurück, sah sehr dumm aus und sagte zu seinen Leuten:
,Jetzt bin ich so müde. Ich habe dem Getreide beim Wachsen geholfen.‘
Sein Sohn lief hin, um nachzusehen, und fand das Getreide ganz verheert.
Es gibt nur wenige auf der Welt, die sich nicht darum bemühen, daß das
Getreide wächst.
Manche finden es sinnlos, sich darum zu kümmern, bleiben zu Hause und jäten
kein Unkraut.
Diejenigen, die sich besondere Mühe geben, damit es wächst, reißen ihr Korn
aus.
Was sie tun, ist nicht nur nutzlos, es ist sogar schädlich.“ (Das Buch
Mengzi, Gongsun Zhou / 2a2)
Diese Geschichte illustriert eine gut etablierte Philosophie. Die menschliche
Vernunft kann unsere natürliche Intelligenz beeinflussen, indem sie eine
Perspektive der Rechtschaffenheit, des Anstands, des Gleichgewichts und der
gesunden Beziehungen bietet. Sie erkundet die mögliche Einheit von Wissen und
Handeln, die Verbindung von Technologie und Leben. Wie man ein Gleichgewicht
zwischen richtiger Ernährung und der Vermeidung von Schaden durch übereifrige
Anstrengung erreicht.
Wenn man Meng Zi bittet, das Wesen dieser Verbindung zu definieren, sagt er:
„Das ist Qi – der wahre intelligible Geist: Es verschmilzt Yi (das Rechte)
und Dao (den Weg) miteinander. Ohne es gibt es Elend.
Es fügt Yi für die Kreativität (Sheng / Leben / Geburt) zusammen; und es kann
nicht erreicht werden, indem man Yi (das Richtige) angestrengt zusammenfügt.
Wenn das Handeln nicht mit unserem Herzen (Xin) übereinstimmt, verkommt es.
Deshalb sage ich: ,Gao hat das Wissen des Rechten nie gekostet, weil er es
externalisiert.
In allen Angelegenheiten können wir nicht ohne Korrektur (Zheng) auskommen,
damit das Herz nicht vergißt, und das Wachstum ohne maßlose Anstrengung erfolgen
kann.‘“
Gelehrte wie Gottfried Wilhelm Leibniz und Matteo Ricci fanden in den
Nachrichten, die sie zu ihrer Zeit über die chinesische Philosophie erhielten,
einen tiefen Sympathie-Grund, der von den deutschen Weimarer Klassikern,
insbesondere durch Schiller und Goethe, in ihren philosophischen Gedanken über
Pädagogik und Erziehung aufgegriffen wurde: Im Streben nach dem Wahren, Schönen
und Guten liegt ein innerer Zusammenhang. Es ist eine Hoffnung und ein
Versprechen für diejenigen, die den Weg der „Bildung“ (Xue / kultivierendes
Lernen) gewählt haben – der Mensch zu werden, der wir sein wollen, indem wir
unser inneres Wissen zum Ausdruck bringen und aus reflektierter Erfahrung und
Anleitung lernen. Die Ethik schwingt von innen heraus.
Schillers „Spieltrieb“ hält uns in Bewegung, wenn wir auf dem Weg der
Kultivierung die Regeln des „Spiels“ des Lebens einüben und neu bewerten. Dieses
Rezept für nachhaltiges Wachstum beschränkt sich nicht auf die Ökonomie oder auf
eine umsichtige Planung, sondern wird von der Menschlichkeit kultiviert und
kultiviert die Menschlichkeit in einem offenen Prozeß, der die gesamte
Menschheit einbezieht.
Im Großen und Ganzen hat China in den 1970er Jahren begonnen, von anderen zu
lernen, in den 1990er Jahren hat es begonnen, mit anderen zu lernen, und es
bietet Gelegenheiten zum gegenseitigen Lernen, während es die Qualität des
Lernens, auf das es ankommt, fördert. Was können Länder wie Deutschland China
anbieten, damit es nicht der Versuchung erliegt, für andere zu lernen?
Lassen Sie uns unsere Wurzeln als Menschen heilen und nähren! „Umschlingen“
wir, mit Schillers Ode an die Freude, unseren „eigenen intelligiblen Geist“ und
– lassen wir ihn „grenzenlos fließen“ 浩然之氣 !
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