Der Plan des Schiller-Instituts zur Entwicklung Haitis
Von Richard Freeman und Cynthia Rush
– Erster Teil –
Jeder moralische, mitfühlende Mensch war entsetzt über die Bilder, die am
Wochenende des 18. und 19. September durch die Weltmedien gingen, als 12.000
haitianische Migranten unter der Del Rio International Bridge in Texas unter
unmenschlichen Bedingungen zusammengepfercht wurden, während sie verzweifelt
hofften, in den Vereinigten Staaten Asyl zu finden. Nach dem schrecklichen
Erdbeben in Haiti vom 12. Januar 2010 waren Zehntausende Haitianer aus ihrem
zerstörten Land geflohen und hatten Zuflucht in anderen iberoamerikanischen
Ländern gesucht, die sie nun wieder verließen, als das Gerücht aufkam, die USA
böten haitianischen Migranten einen Sonderstatus.
Das war nicht der Fall, und die Regierung Biden, die sich gerne ihrer
„humanen“ Einwanderungspolitik brüstet, begann am 19. September, Haitianer wie
Vieh in Flugzeuge zu verfrachten, um sie alle in den nächsten sechs Wochen in
ihre „Heimat“ zurückzubringen – obwohl Haiti von einer wütenden COVID-Pandemie,
einem Zusammenbruch der Wirtschaft und zusätzlich den Folgen des Erdbebens der
Stärke 7,2 vom 14. August geplagt ist. Von den vielen verschiedenen
Nationalitäten von Migranten, die sich an der US-Grenze versammelt haben, wurden
nur die Haitianer sofort abgeschoben. Viele, die am 20. September in der
Hauptstadt Port-au-Prince landeten, berichteten, daß man ihnen beim Einsteigen
nicht einmal sagte, wohin die Reise ging. Einige erklärten, sie seien während
des Fluges an Händen, Hüften oder Füßen gefesselt worden.
Man fühlt sich fast schon an die Judentransporte im Dritten Reich erinnert,
die auf Eisenbahnwaggons verladen und in den Tod geschickt wurden. Jedenfalls
erinnert es an den Rassisten Thomas Jefferson, der verkündete, nachdem er 1801
Präsident geworden war, sobald die kriegführenden Nationen Großbritannien und
Frankreich Frieden geschlossen hätten, würden die Vereinigten Staaten zusammen
mit ihnen daran gehen, „die Pest“ (der Schwarzen) auf die Insel Saint Domingue –
das heutige Hispaniola, wo Haiti liegt – „zu verbannen“.
Ein besonders erschütterndes Video der aktuellen Krise zeigt einen
US-Grenzschutzbeamten zu Pferd, der haitianische Migranten im Wasser des Rio
Grande (dem Grenzfluß zu Mexiko) mit den Zügeln bedroht und sie zusammentreibt,
als wären sie entflohene Sklaven einer Südstaatenplantage des 19.
Jahrhunderts.
Angesichts dieser „verwerflichen Gleichgültigkeit“ einer Regierung, welche
die Folgen ihrer mörderischen Politik bewußt ignoriert, flehen die haitianischen
Behörden die Vereinigten Staaten vergeblich an, die Abschiebungen zu stoppen,
weil sie unter den derzeitigen Krisenbedingungen keinen solchen Zustrom von
Menschen bewältigen können.
Am 20. September zitierte der Miami Herald den Leiter des
haitianischen Migrationsamtes, Jean Negot Bonheur Delva: „Wenn man in diesem
Moment Menschen nach Haiti zurückführt, angesichts von COVID-19, sollten die USA
versuchen, Haiti mit einem humanitären Moratorium zu helfen.“
Die schreckliche Situation schreit nach dringender humanitärer Hilfe, aber
auch nach einem Schnellprogramm für wirtschaftliche Entwicklung. Die USA und
andere müssen die Mission annehmen, die der verstorbene amerikanische Staatsmann
und Ökonom Lyndon LaRouche kurz nach dem Erdbeben von 2010 skizzierte, als er
die US-Regierung aufforderte, einen 25-jährigen Vertrag mit Haiti zu
unterzeichnen, um beim Wiederaufbau der Wirtschaft zu helfen. Das haitianische
Volk sei „einer schrecklichen Geschichte ausgesetzt gewesen. Man hat ihm dies
versprochen und es betrogen, man hat ihm das versprochen und es betrogen, und
wieder versprochen und betrogen. Aber nie erfüllt.“ Jetzt sei es an der Zeit,
die Zusagen zu erfüllen, betonte LaRouche damals. Keine Trostpflaster oder
Flickschusterei. „Wir schließen einen Vertrag mit der Regierung, einen Vertrag
zwischen den Vereinigten Staaten und Haiti, um den Wiederaufbau ihres Landes in
einer Form zu gewährleisten, in der es tatsächlich ein funktionierendes Land
sein wird, das überleben kann.“
Heute, ein Jahrzehnt später, kann und muß die von LaRouche beschriebene
Mission erfüllt werden, und jetzt muß auch China als wichtiger Partner
einbezogen werden, um Haiti aus der erdrückenden Armut zu befreien und es zum
Modellfall für die wirtschaftliche Entwicklung der westlichen Hemisphäre und der
Welt zu machen.
Richtig ist, daß Haiti im Einzugsbereich von Erdbeben und Wirbelstürmen
liegt. Das ist ein Problem, das man mit moderner Technik in den Griff bekommen
kann. Die größte Schwierigkeit ist, daß das Land unter einem ungeheuren Mangel
an moderner Infrastruktur leidet, die für den Aufbau eines universellen
Gesundheits- und Abwassersystems unverzichtbar ist. Für ein solches System
benötigt man sauberes Wasser, funktionierende Straßen- und Schienenkorridore,
Bildung, Stromversorgung, Häfen und Flughäfen. Alle diese Infrastrukturen
erfordern erdbebensichere Städte, mit Strukturen, wie man sie in Japan gebaut
hat, und den Aufbau einer landwirtschaftlichen Infrastruktur mit
Hochtechnologie, damit die Landwirte ein wachsendes, nahrhaftes
Nahrungsmittelangebot erzeugen können.
Der Wiederaufbau Haitis ist eine gewaltige Aufgabe, weil das Land zwei
Jahrhunderte lang absichtlich mit malthusianischer Politik zerstört wurde. Jeder
einzelne Sektor der physischen Wirtschaft muß von Grund auf neu oder wieder
aufgebaut werden, um der verarmten Bevölkerung zu helfen. Aber das ist keine
unlösbare Aufgabe, wenn China und die Vereinigten Staaten zusammen mit anderen
Ländern des Karibischen Beckens und Mittelamerikas im Rahmen einer erweiterten
Gürtel- und Straßeninitiative in der gesamten Region zusammenarbeiten.
Dazu muß Haiti diplomatische Beziehungen zu China aufnehmen. Es ist noch
eines der wenigen Länder der Welt, das stattdessen diplomatische Beziehungen zu
Taiwan unterhält. China besteht zu Recht darauf, nur mit Ländern
zusammenzuarbeiten, die das Ein-China-Prinzip anerkennen, und Haiti wäre gut
beraten, dem Vorbild der benachbarten Dominikanischen Republik zu folgen, die
kürzlich mit Taiwan brach und Beziehungen zu China aufnahm, wenn es Hoffnung auf
eine chinesische Beteiligung am Wiederaufbau haben will.
Vorsätzlicher Völkermord...
Jedesmal, wenn eine „Naturkatastrophe“ das Land heimsuchte, wurde Haiti einer
vorsätzlichen Entvölkerungspolitik unterworfen. Seit 125 Jahren wird Haiti von
der Londoner City, der Wall Street und anderen transatlantischen Banken
(besonders französischen) ausgeplündert, später kamen der Weltwährungsfonds
(IWF) und andere multilaterale Kreditgeber hinzu, und dem Land wird systematisch
das Recht verweigert, sich zu einer modernen Nation zu entwickeln. Angesichts
wiederholter Katastrophen hat man es immer wieder schutzlos sich selbst
überlassen – das Erdbeben vom 14. August 2021 ist nur der jüngste Fall.
Das Programm des Schiller-Instituts für den Wiederaufbau und Aufbau Haitis,
dessen erster Entwurf hier vorgestellt wird, umfaßt einen einheitlichen
Infrastrukturplan, der über ein Hamiltonisches System – das als zentrales
Element einer Konkurssanierung des zerfallenden internationalen Finanzsystems
eingerichtet werden muß – mit großzügigen projektgebundenen Krediten finanziert
wird. Nach vorläufigen Schätzungen des Schiller-Instituts wird ein tragfähiges
Wiederaufbauprogramm für Haiti zwischen 175 und 200 Milliarden Dollar kosten,
also 17,5-20 Mrd. Dollar jährlich über zehn Jahre.
Der Staatsmann und Wirtschaftswissenschaftler Lyndon LaRouche sagte in einem
internationalen Internetforum am 13. März 2010 über die Prioritäten der
Entwicklung:
„Schauen Sie sich den Fall [der Erdbeben] in Kalifornien an, das ist in
gewissem Sinne ein vergleichbarer Fall... Schauen Sie sich die Zahl der
Todesopfer, Verletzten und anderes bei den kalifornischen Beben im Vergleich zu
Haiti an. Was macht den Unterschied? Die Infrastruktur!“
Früher hatte LaRouche in einem Radiointerview am 4. März 2004 über Haiti
folgendes gesagt:
„Meiner Meinung nach sollte man immer vom schlimmsten Fall ausgehen, um eine
Strategie festzulegen. Im eigenen Land schaut man sich die ärmste
Bevölkerungsschicht an und fragt sich: ,Wird diese Strategie für ihre Kinder und
Enkel funktionieren?‘ Und wenn sie für die Ärmsten funktioniert, dann wird sie
wahrscheinlich für alle funktionieren. So wie Franklin Roosevelt das definiert
hat: Wendet euch immer an den ,vergessenen Mann‘. Nehmt die Menschen, die am
meisten Opfer von Ungerechtigkeit oder Vernachlässigung sind, und fangt dort an;
und beweist, daß ihr euch wirklich für das Allgemeinwohl der Menschen einsetzt,
indem ihr zeigt, daß ihr bereit seid, euch diesem Problem zu stellen. Seht dem
Problem ins Auge und sprecht darüber, wie es zu lösen ist.“
© EIR
Abb. 1: Parameter der physischen Ökonomie
a) Hunger, Armut, Analphabetenrate
b) Zugang zu Kanalisation und Elektrizität
c) Ausbau der Eisenbahnen (km/km2 Landfläche) und Kindersterblichkeit (pro 1000 Geburten)
Wenn die dramatischen Defizite der haitianischen Infrastruktur, insbesondere
in den Bereichen Energie und Gesundheitswesen, nicht überwunden werden, ist die
Bevölkerung zu einer Zukunft in Primitivität, Unterentwicklung und endloser
Armut verurteilt. Gegenwärtig hat dieses Land mit elf Millionen Einwohnern die
höchste Sterblichkeitsrate bei Säuglingen und Kindern unter fünf Jahren sowie
die höchste Müttersterblichkeit in der westlichen Hemisphäre, sogar schlimmer
als die vieler afrikanischer Länder. Die Lebenserwartung liegt bei 64,3 Jahren
und ist mit Abstand die niedrigste in ganz Iberoamerika. Berichten zufolge sind
40% der Arbeitskräfte arbeitslos, aber die Realität ist weitaus schlimmer: 59%
der Bevölkerung verdienen weniger als 2,43 Dollar pro Tag, ein „Lohn“, der die
Mehrheit in ein Leben unterhalb des Existenzminimums getrieben hat, das
menschenunwürdig ist. Einigen schockierenden Schätzungen zufolge sind 80% der
Bevölkerung von Armut betroffen. Das Welternährungsprogramm der Vereinten
Nationen berichtet, daß 40% der haitianischen Bevölkerung, 4,4 Millionen
Menschen, von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, wobei auch diese Zahl
wahrscheinlich eher zu niedrig angesetzt ist. Im vergangenen Jahr belegte Haiti
auf dem Welthunger-Index Platz 104 von 107 Ländern.
Die drei hier vorgestellten Diagramme ausgewählter vergleichender
physisch-ökonomischer Parameter (siehe Abbildungen 1a, 1b und 1c)
geben eine Momentaufnahme dieser Zerstörung. Sie basieren auf den neuesten
verfügbaren Daten (in der Regel aus der Mitte der 2010er Jahre) der Vereinten
Nationen, der Weltbank und anderer multilateraler Organisationen, um konsistente
Zeitreihen für die verglichenen Länder darzustellen. Bei einigen Parametern wird
die schreckliche Realität in Haiti noch deutlich untertrieben.
Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das diese Situation hervorgerufen hat, und
die kriminelle Gleichgültigkeit, die die Weltgemeinschaft über Jahrzehnte und
Jahrhunderte an den Tag gelegt hat, hatten zur Folge, daß große Teile der
haitianischen Wirtschaft vom internationalen Drogenhandel (der von der Londoner
City aus organisiert wird) und seinen kriminellen Banden übernommen wurden. In
immer neuen Flüchtlingswellen flohen die Menschen von der Insel. Heute leben
etwa zwei Millionen Haitianer im Ausland, die Hälfte davon in den USA, die
andere Hälfte in Ländern Iberoamerikas und in Europa.
Die sanitären Einrichtungen in Haiti sind völlig unzureichend, erst recht
angesichts der COVID-19-Pandemie; sauberes Wasser und Abfallbehandlung sind fast
nicht vorhanden. Der Aufruf der Gründerin und Vorsitzenden des
Schiller-Instituts Helga Zepp-LaRouche, die Pandemie durch den Aufbau moderner
Gesundheitssysteme in allen Ländern der Welt zu bekämpfen, muß in Haiti
umgesetzt werden. Wie sie in einer Grundsatzrede am 8. Mai 2021 sagte: „Der
Aufbau eines modernen Gesundheitssystems in jedem Land kann und muß der Anfang
sein, um die Unterentwicklung der Entwicklungsländer dauerhaft zu überwinden.“
Die Armut, der Mangel an zureichender Ernährung und die außer Kontrolle geratene
COVID-19-Pandemie machen dies dringend erforderlich.
Das Fehlen eines angemessenen Gesundheitssystems in Verbindung mit dem Fehlen
erdbebensicherer Gebäude führte zu der Situation, die der UNICEF-Vertreter in
Haiti, Bruno Maes, am 2. September beschrieb: „Das Leben von Tausenden vom
Erdbeben betroffenen Kindern und Familien ist jetzt in Gefahr, nur weil sie
keinen Zugang zu sicherem Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygiene haben.“
Unter Berufung auf UNICEF berichteten die Vereinten Nationen am selben Tag, daß
mehr als eine halbe Million Kinder im Südwesten Haitis keinen Zugang zu
Unterkunft, Trinkwasser und sanitären Einrichtungen haben und „zunehmend von
akuten Atemwegsinfektionen, Durchfallerkrankungen, Cholera und Malaria bedroht
sind“.
Es ist erschreckend, daß Haiti unter den 200 Ländern der Welt den letzten
Platz beim Stromverbrauch pro Kopf einnimmt und 75% seiner Energie aus Holzkohle
(die durch Verbrennung von Holz gewonnen wird) bezieht, einer Technologie aus
dem 16. Jahrhundert, die wirtschaftlichen Fortschritt unmöglich macht und eine
gefährliche Umweltverschmutzung sowie ein Gesundheitsrisiko darstellt. Die
installierte Stromerzeugungskapazität beträgt gerade einmal 350 MW, und der
durchschnittliche jährliche Stromverbrauch pro Kopf liegt bei 37
Kilowattstunden. Zum Vergleich: In Spanien lag der jährliche
Pro-Kopf-Stromverbrauch im Jahr 2020 bei 5275 Kilowattstunden, mehr als 140 Mal
höher als in Haiti.
... keine „natürlichen“ Katastrophen
Neoliberale Politik, „Strukturanpassungen“ und Privatisierungsprogramme des
IWF hatten Haitis Wirtschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts bereits weitgehend
ruiniert. Doch das verheerende Erdbeben der Stärke 7,0 am 12. Januar 2010, bei
dem 319.000 Menschen ums Leben kamen, war nochmals ein Wendepunkt. Im Oktober
jenes Jahres folgte eine schreckliche – und vorhersehbare – Cholera-Epidemie,
und in den Jahren danach folgten eine Reihe weiterer extremer Wetterereignisse.
Zusammen versetzten sie einer schwachen Nation tödliche Schläge. Als sich das
Erdbeben ereignete, dessen Epizentrum Port-au-Prince war, flüchteten fast zwei
Millionen Einwohner aus der Hauptstadt und wurden obdachlos in elenden,
unhygienischen Lagern zusammengepfercht, deren einziger Schutz Zelte, oft aber
auch nur Planen oder Bettlaken waren.
Unmittelbar nach dem 12. Januar warnte Lyndon LaRouche, es werde zu einer
Gesundheitskatastrophe kommen, wenn nicht sofort Maßnahmen ergriffen würden, um
die Obdachlosen zu evakuieren, sie in höher gelegene Gebiete zu bringen und in
Notunterkünften unterzubringen, bevor die Regenzeit beginnt. Er forderte, das
Pionierkorps der US-Armee einzusetzen, um die notwendigen Unterkünfte und
medizinischen Einrichtungen zu bauen und sauberes Wasser bereitzustellen.
US-Präsident Barack Obama lehnte LaRouches Vorschläge ab und ließ statt
dessen zu, daß Port-au-Prince von einem Heer gut finanzierter
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) überflutet wurde, die mit Millionen um sich
warfen, aber nichts Konkretes leisteten. Es geschah nichts, um die gefährlichen,
erbärmlichen Bedingungen in der Hauptstadt und anderen vom Erdbeben betroffenen
Städten zu verbessern. Armselige „provisorische“ Unterkünfte wurden nach dem
Beben zum jahrelangen Dauerzustand, und der Choleraausbruch im Oktober des
Jahres war vorprogrammiert. Selbst heute noch sind in einigen Gebieten am
Stadtrand von Port-au-Prince die nach dem Erdbeben von 2010 errichteten
„provisorischen“ Lager dauerhafte Gemeinschaften, darunter die ursprünglichen
Zelte für die Opfer und andere aus Ziegelsteinen und allerlei minderwertigen
Materialien zusammengebastelte „Häuser“.
Das Erdbeben, das Haiti am 14. August dieses Jahres erschütterte und dessen
Epizentrum 150 km westlich von Port-au-Prince nahe der Stadt
Petit-Trou-de-Nippes lag, richtete in dem Land, das sich nie von der Katastrophe
von 2010 erholt hatte, erneut enorme Zerstörungen an. Haiti hatte keine
Technologien zum Erdbebenschutz oder irgendwelche andere Hilfe erhalten, um sich
mit modernen Methoden von dem Erdbeben von 2010 zu erholen.
So folgte auf diese Katastrophe die durch das El-Niño-Phänomen verursachte
Dürre von 2015 bis 2017, die den mangels Mechanisierung und Bewässerung ohnehin
schwachen Landwirtschaftssektor auslöschte und in einigen Landesteilen
Ernteverluste bis zu 70% verursachte.
Im Oktober 2016 wütete der Hurrikan Matthew im Südwesten Haitis und zerstörte
rund 200.000 Häuser teilweise oder vollständig, so daß 1,4 Millionen Menschen
humanitäre Hilfe benötigten. In zwei der zehn haitianischen Departements,
Grand`Anse und Sud, wurde die Ernte fast vollständig zerstört, was die
bestehende Nahrungsmittelknappheit erheblich verschärfte.
Der endgültige Schlag kam im Februar 2018, als der IWF strategisch
intervenierte, um die Wirtschaft gezielt zu zerstören, indem er ein mageres
Paket von 96 Millionen Dollar an zinsgünstigen Darlehen und Zuschüssen unter der
Bedingung anbot, daß die Regierung die Treibstoffsubventionen kürzte. Als die
Regierung im Juli dieser Forderung nachkam, schoß der Benzinpreis für den
Durchschnittsbürger um 38% in die Höhe und lag mit 4,60 Dollar pro Gallone sogar
über dem Preis in den Vereinigten Staaten. Der Preis für Dieselkraftstoff stieg
um 47%, der für Kerosin um 51%. Die Folge waren verbreitete und oft gewalttätige
Straßendemonstrationen.
So war das Land nicht in der Lage, sich gegen das Erdbeben vom 14. August
2021 zu wehren, bei dem nach Regierungsangaben mehr als 2200 Menschen starben
und mehr als 300 vermißt werden, die vermutlich unter Trümmern begraben sind.
Mehr als 12.000 Menschen wurden verletzt, und schätzungsweise 600.000 Menschen
benötigen humanitäre Hilfe; mehr als 50.000 Häuser sind völlig zerstört und
weitere 77.000 beschädigt, insgesamt also 127.000. Seit Jahrzehnten werden
Häuser in Haiti nicht vorschriftsmäßig gebaut, weil Bauherren die Kosten für so
wichtige, aber teure Materialien wie Zement scheuen. Daher waren die Häuser
nicht erdbebensicher, und viele dieser schlampig gebauten Häuser stürzten
innerhalb von Minuten unter einer Staubwolke ein.
Dabei kann eine moderne Infrastruktur und grundlegende wirtschaftliche
Entwicklung die schlimmsten Folgen von Stürmen, Erdbeben und Dürren zu fast 95%
oder mehr beseitigen oder abmildern. Japan zum Beispiel hat große Summen in die
Erdbebenvorsorge investiert und die Forschung dazu vorangetrieben. Von den 14
oder 15 bekannten tektonischen Platten der Welt laufen vier in Japan zusammen,
wo es über 2000 aktive Verwerfungen gibt; jedes Jahr ereignen sich mehrere
Erdbeben, doch meistens mit geringen Folgen. Japans Geheimnis:
Grundlagenforschung und Investitionen in die Infrastruktur – was sich im Falle
Haitis leicht wiederholen läßt.
Wirtschaftliche Soforthilfe ist der einzige Weg, um chronische Armut,
Unterernährung und Krankheiten zu beenden und den Haitianern die Chance zu
bieten, ihre schöpferischen Fähigkeiten zu entfalten, um ihre Wirtschaft auf
eine höhere Entwicklungsstufe zu heben.
Ein grundlegendes chinesisches Projekt
Chinas Engagement ist von zentraler Bedeutung für ein haitianisches und
regionales Wiederaufbau- und Entwicklungsprogramm, das zwangsläufig die
Dominikanische Republik, die sich die Insel Hispaniola mit Haiti teilt, und die
anderen Nationen des Karibischen Beckens und Mittelamerikas einbeziehen muß, die
gemeinsam als Teil der Weltlandbrücke fungieren werden. Wie China mit den vielen
Projekten, die es im Rahmen seiner Gürtel- und Straßeninitiative (BRI) in
anderen Teilen der Welt finanziert, bewiesen hat, verfügt es über die
finanziellen Mittel, das technologische Know-how und vor allem den Willen, die
gewaltigen Herausforderungen von Situationen wie der auf Haiti zu bewältigen –
ähnlich dem, was China in Afrika unternimmt.
Wenn Haiti Chinas diplomatischen Status ändert, kann China sofort mit bereits
fertig geplanten Projekten beginnen, um in Port-au-Prince die Kanalisation, die
Wasser- und Abwasseraufbereitung, das Verkehrsnetz und moderne Wohnungen
komplett neu aufzubauen.
© SMEDRIC/Bati Ayiti Video
Abb. 2: Komponente des SMEDRIC-Entwicklungsplans: Bau von Abwasserkanälen und
einer Kläranlage für 180.000 m 3 Abwasser täglich.
Abb. 3: Komponente des SMEDRIC-Entwicklungsplans: Bau einer
Wasseraufbereitungsanlage für 225.000 m 3 Trinkwasser täglich.
Abb. 4: Komponente des SMEDRIC-Entwicklungsplans: Straßen und
Eisenbahnen.
Abb. 5: Komponente des SMEDRIC-Entwicklungsplans: Regenwassersammlung und
-ableitung.
Abb. 6: Komponente des SMEDRIC-Entwicklungsplans: Stromerzeugung und
-verteilung.
Im August 2017 haben zwei chinesische Unternehmen – das Southwest Municipal
Engineering and Design Research Institute of China (SMEDRIC) und die
Metallurgical Corporation of China (MCC) – eine Reihe detaillierter Projekte im
Wert von 4,7 Mrd. Dollar für den Wiederaufbau der Hauptstadt und ihrer Umgebung
vorgeschlagen. Bei der Veröffentlichung seines Vorschlags und in einem dazu
produzierten kurzen Video wies das Unternehmen SMEDRIC darauf hin, daß diese
Projekte für Haitis Hauptstadt Teil eines umfassenderen
30-Milliarden-Dollar-Vorschlags für das gesamte Land seien. Einem
Telesur-Artikel vom 1. September 2017 zufolge entstand die Idee für diese
Reihe von Projekten auf dem BRI-Gipfeltreffen vom 14.-15. Mai 2017 in Peking.
Kurz darauf unternahm eine chinesische Delegation einen achttägigen
Planungsbesuch in Haiti und traf sich mit lokalen Beamten.
Die Vorschläge von SMEDRIC für Port-au-Prince sind beeindruckend, wie die
folgenden Grafiken veranschaulichen.
- Bau einer neuen Kläranlage in Port-au-Prince, die 180.000 Kubikmeter
Abwasser pro Tag behandeln kann (siehe Abbildung 2). Die Kläranlage wird
nach dem dreistufigen Prinzip von Vorbehandlung, Erstbehandlung und biologischer
Zweitbehandlung arbeiten. Bisher gibt es in der Stadt, in deren Großraum mehr
als drei Millionen Menschen leben, keine einzige Kläranlage. Weder in
Port-au-Prince noch in anderen haitianischen Städten gibt es eine zentrale
Kanalisation.
- Bau einer Wasseraufbereitungsanlage, die 225.000 Kubikmeter pro Tag zu
sicherem und reinem Trinkwasser aufbereiten kann (siehe Abbildung 3).
- Installation von 450 öffentlichen Toiletten, drei pro km², Einrichtung
einer geordneten Müllabfuhr und Bau einer Mülldeponie, die 1500 Tonnen pro Tag
aufnehmen kann.
- Wie in dem Kurzvideo von SMEDRIC dargestellt wird, ist ein weiterer Teil
des Plans „Straßenbau, wie z.B. Aus- und Wiederaufbau, Verbreiterung, Sanierung
und Verkehrseinrichtungen. Der Bereich umfaßt zwölf Hauptstraßen mit
begleitenden Einrichtungen mit einer Gesamtlänge von 100 km, wobei die
Straßenentwässerung ein wichtiger Bestandteil der Arbeiten ist.“ Hundert
Kilometer mögen nicht viel erscheinen, aber wenn es sie in und um Port-au-Prince
gibt, mit Entwässerung und verbreitert, ist das sehr wichtig (siehe Abbildung
4).
- In einer Reihe von Plänen wird der Bau von Entwässerungsanlagen
vorgeschlagen, die Überschwemmungen bei „100- und 50-jährlichen Hochwassern“
verhindern können, d.h. Überflutungen, die als solche eingestuft werden, weil
sie so außergewöhnlich sind und so viel Wasser ansammeln, daß sie nur einmal in
100 oder 50 Jahren auftreten. Das Regenwasser wird in Rohren aufgefangen und in
die Flüsse und das Meer abgeleitet. Dies ist ein erster wichtiger Schritt zur
Eindämmung von Überschwemmungen, insbesondere angesichts der Tatsache, daß
Port-au-Prince in einem extrem gefährdeten Überschwemmungsgebiet liegt (siehe
Abbildung 5).
- Bau eines 600-Megawatt-Erdgaskraftwerks, das auf 2000 Megawatt erweitert
werden kann (siehe Abbildung 6).
- Bau eines neuen Rathauses als zentrales Wahrzeichen im Rahmen des
Wiederaufbaus der Altstadt von Port-au-Prince.
Der Bürgermeister von Port-au-Prince, Ralph Youri Chevery, befürwortete den
Plan in einem Schreiben vom 25. August 2017 an Xie Yong Jian, Berater des
Southwest Municipal Engineering Design and Research Institute of China,
enthusiastisch: „Wir freuen uns, den Vorschlag für die Bauplanung des
Port-au-Prince Municipal Renovation Project zu akzeptieren.“
Zur gleichen Zeit, als SMEDRIC seine Vorschläge machte, veröffentlichte das
haitianische Ingenieurbüro Bati Ayiti, das mit der Metallurgical Corporation of
China (MCC) zusammenarbeitet, eine eigene Broschüre mit dem Titel „Ein
Infrastrukturprojekt für Haiti in Zusammenarbeit mit der Metallurgical
Corporation of China“. Sie enthielt diese zusätzliche Information: „Der
chinesische Staat und weitere chinesische Privatinvestoren streben ein
Investitionsziel von 30 bis 70 Milliarden Dollar in Haiti und bis zu 100
Milliarden Dollar auf dem karibischen Markt an, mit dem Ziel, Haiti in den
nächsten zehn Jahren zu einem wichtigen Entwicklungszentrum zu machen.“
Diese wundervollen Vorschläge, deren Umsetzung den Prozeß der völligen
Verwandlung von Port-au-Prince und dem ganzen Land eingeleitet hätte, sind nie
über das Planungsstadium hinausgekommen.
Das Schiller-Institut erfuhr damals, daß der Internationale Währungsfonds und
die damit verbundenen Wall-Street-Interessen Druck auf Haiti ausübten, die
Vorschläge abzulehnen. Die US-Regierung und ihr Außenministerium, die bereits
nervös waren, weil Panama nur zwei Monate zuvor, am 13. Juni, mit Taiwan
gebrochen hatte, wollten keinen Plan tolerieren, für den Haiti mit Taiwan
brechen würde.
Die Eisenbahnlinie Haiti-Dominikanische Republik
Ein Vorschlag der China Civil Engineering Construction Corporation (CCECC)
für den Bau einer Eisenbahnlinie zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik
erweitert die Diskussion über die Umgestaltung Haitis mit chinesischer Hilfe um
eine weitere Dimension. Am 20. Februar 2018 veröffentlichte die haitianische
Online-Publikation Hougansydney.com einen Artikel mit dem Titel „Projekt
zum Bau einer internationalen Eisenbahnlinie zwischen Haiti und der
Dominikanischen Republik, das dem [dominikanischen] Präsidenten Danilo Medina
vorgeschlagen wurde“. Darin wird der Vorschlag des Dominikanischen Regionalen
Entwicklungsrats (CRD) aus der Region Cibao an Medina beschrieben, eine
Bahnstrecke zu bauen, die im Südosten des Landes in der Hafenstadt Haina
beginnt, gegen den Uhrzeigersinn verlaufend die Hafenstädte miteinander
verbindet und durch den Norden der Dominikanischen Republik führt, bis „die
Reise in Haiti endet“. Damit dies funktioniert, muß es in Haiti eine Eisenbahn
geben.
Dieser Vorschlag ist nicht neu, er wird seit Jahren diskutiert und geht
bereits auf das Jahr 2008 zurück. Aber nachdem die dominikanische Regierung am
1. Mai 2018 bekannt gegeben hatte, daß sie mit Taiwan gebrochen und
diplomatische Beziehungen zu Peking aufgenommen hatte, legten der CRD und die
China Civil Engineering Construction Corporation (CCECC) im September desselben
Jahres Medina einen offiziellen Vorschlag für den Bau einer internationalen
Eisenbahnlinie vor. Sie sollte von der CCECC finanziert werden und die
Dominikanische Republik mit Haiti verbinden; der Vorschlag umfaßte auch mehrere
große Infrastrukturprojekte, die in der Dominikanischen Republik gebaut werden
sollten. Laut einem Bericht von BNamericas hat der CRD den Vorschlag im
Mai 2021 wieder aufgegriffen, aber Quellen in der Dominikanischen Republik
zufolge hat der derzeitige Präsident Luis Abinader, der seit seinem Amtsantritt
im August 2020 von den USA unter Druck gesetzt wird, sich von China zu
distanzieren, den Vorschlag nicht weiter verfolgt.
Da derartige Projekte stets von Chinas Nationaler Entwicklungs- und
Reformkommission (der alten Fünfjahresplanbehörde) geprüft und genehmigt werden,
kann man davon ausgehen, daß die Regierung den Plan für wichtig hält. Die von
der Metallurgical Corporation of China genannte Investitionssumme von 30-70 Mrd.
Dollar in Haiti entspricht den geplanten Investitionen für den gesamten
strategischen China-Pakistan-Wirtschaftskorridor (CPEC), die sich auf 62 Mrd.
Dollar belaufen. Das deutet darauf hin, daß es den Chinesen ernst damit ist,
Haiti „in den nächsten 10 Jahren zu einem wichtigen Entwicklungszentrum“ in der
Karibik zu machen, wobei dies immer auch Mittelamerika einschließt.
© EIR
Abb. 7: Vorgeschlagene Projekte für eine Belt & Road-Initiative in
Mittelamerika und der Karibik.
Die Pläne würden dann in eine Reihe von Vorschlägen für die Seidenstraße zu
Lande und zu Wasser integriert. Sie wären verbunden mit dem erweiterten
Panamakanal, dem vorgeschlagenen Großen Interozeanischen Kanal in Nikaragua, dem
Bau einer Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnlinie durch die Darien-Lücke, dem Bau
einer bi-ozeanischen, transkontinentalen Eisenbahn (eine der Strecken würde im
brasilianischen Hafen Santos am Atlantischen Ozean beginnen und Bolivien bis zum
peruanischen Callao-Distrikt am Pazifischen Ozean durchqueren) sowie weiteren
Projekten im Zusammenhang mit der Weltlandbrücke. China hat für mehrere dieser
Projekte Entwürfe entwickelt und die Finanzierung angeboten.
Ein neuer Tiefwasserhafen in Fort Liberté an der Nordküste Haitis wird
zusammen mit ähnlichen Projekten in Ponce (Puerto Rico) und Mariel (Kuba) als
Teil der Maritimen Seidenstraße einen wichtigen Umschlagplatz für den weiteren
Frachttransit zur Golf- und Atlantikküste der USA bilden (siehe Abbildung
7).
Der zweite Teil, den wir in der kommenden Woche abdrucken, behandelt im
einzelnen die folgenden Bereiche eines umfassenden Aufbauplans:
1. Energie und Elektrizität,
2. ein universelles Gesundheitssystem,
3. Hunger und Landwirtschaft,
4. Eisenbahnen und Straßen,
5. Flug- und Seehäfen,
6. sanitäre Einrichtungen und Wasseraufbereitung,
7. Industrie und Arbeitskräfte,
8. Bildung.
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