„Selbst die schlimmsten Dinge können sehr wichtige Ergebnisse haben“
Zum Abschluß des vierten Abschnitts der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 13. Dezember machte Helga Zepp-LaRouche die folgenden
Schlußbemerkungen.
Ich denke, es steht außer Frage, wenn man sich den Zustand der Menschheit
anschaut, daß er zum größten Teil schrecklich ist. Ich denke, wir befinden uns
in einer Krise der Zivilisation von wirklich beispiellosem Ausmaß.
Der Grund, warum ich das sage, ist der, daß es früher finstere Zeitalter
gab, wahrscheinlich mehrere in verschiedenen Kulturen. Aber es ist schlimmer,
wenn die Menschheit fortschreitet und man wieder zurückfällt, als wenn man
noch nicht oben ist. Wenn man unterentwickelt ist und noch kein hohes Niveau
erreicht hat, ist das nicht so schlimm, als wenn man ein höheres Niveau
erreicht hat und dann kollabiert.
Damit hat sich auch Schiller befaßt, der zu seiner Zeit fragte: Woran liegt
es, daß wir immer noch Barbaren sind? Und dann antwortete er genau das: Eine
Gesellschaft, die fortschreitet und noch nicht sehr entwickelt ist und noch
nicht das hohe Niveau erreicht hat, das ist schlecht – aber wenn eine
fortgeschrittenere Gesellschaft zurückfällt und degeneriert, dann ist das noch
viel empörender. Und er fragte an einer anderen Stelle: Was ist ein Barbar?
Das Wort „Barbar“ kommt eigentlich, glaube ich, aus dem Griechischen, und es
bezieht sich darauf, daß die Griechen dachten, die Barbaren sprächen alle:
„bar-bar, baba, bar-bara, ba-ba“...
In gewissem Sinne ist es also schrecklich, wenn Menschen, die einmal weiter
entwickelt waren, zu Barbaren werden, zu einer barbarischen Fraktion werden
und wirklich nicht mehr auf dem Niveau sind, auf dem sie einmal waren. Aber
vielleicht werden kommende Ereignisse die Menschen zum Umdenken bringen...
In Deutschland haben wir jetzt ein exponentielles Wachstum von COVID in
bestimmten Bereichen, die Regierung hat gerade heute beschlossen, daß sie ab
Mittwoch [16.12.] in eine harte Abriegelung gehen werden, was bedeutet, daß
nur Lebensmittelgeschäfte und Apotheken offen sind, alles andere wird
geschlossen sein. Sie gehen davon aus, daß wir allein im Einzelhandel weitere
250.000 Arbeitsplätze verlieren werden, und wenn ich mir die Zahlen in den USA
anschaue, gibt es auch ein exponentielles Wachstum in einigen Brennpunkten,
und so weiter. Insofern habe ich keine Ahnung, was in der nächsten Zeit noch
passieren wird. Hoffentlich bekommen wir das alles in den Griff, aber in
Deutschland wird es über die Weihnachtszeit einen Lockdown geben, bis ins neue
Jahr hinein.
Manche Leute werden denken: Das ist schrecklich, ich kann an den Feiertagen
meine Freunde nicht sehen. Aber eine Abriegelung kann manchmal auch eine
Chance sein: Denn man kann nachdenken. Wir brauchen eine Renaissance. Wir
brauchen dringend eine Renaissance-Bewegung von Menschen, die mehr erhabene
Ideen haben. Wie wäre es, wenn Sie mit solchen Zwängen konfrontiert sind und
dann sagen: „Ich werde intensiv lesen und schreiben und studieren und nicht
wie sonst die Zeit vergeuden. Ich werde diese Zeit wirklich nutzen, um etwas
Großes daraus zu machen.“
Ich selbst habe das einmal getan: Es gab eine Periode, Ende der 70er Jahre,
in der ich aus bestimmten Gründen fast ein dreiviertel Jahr lang im Lockdown
war, ich konnte mich nicht frei bewegen, und in dieser Zeit habe ich den
ganzen Schiller neu gelesen – nicht nur einmal, sondern mehrmals. Und das war
eine so unglaubliche Erfahrung, das war geballte Begeisterung und Erkenntnis,
und deshalb habe ich das Schiller-Institut gegründet. Ohne diesen Lockdown
hätte ich das nicht machen können.
Man sieht also, daß selbst die schlimmsten Dinge sehr wichtige Ergebnisse
haben können, wenn man eine Krise in eine Chance verwandelt. Und ich erinnerte
mich gerade daran, als John [Sigerson] über die De Visione Dei (Die
Gottesschau) von Cusa sprach, das ist eine sehr schöne Schrift. Es ist
eine manductio, eine Pädagogik, wie Cusa die Menschen dazu bringt, sich
dieser Mauer des Zusammenfallens der Gegensätze zu nähern, und die Person
tatsächlich zu dieser unglaublichen intellektuellen Herausforderung führt, die
darin besteht, über diese Mauer des Zusammenfallens der Gegensätze zu
blicken.
Ich möchte hier nicht alles verraten, denn das sollten Sie selbst lesen,
aber ich habe einen Artikel über diese spezielle Schrift als
Geburtstagsgeschenk zu Lyns 65. Geburtstag geschrieben. Und eine der Ideen,
die in dieser Schrift enthalten sind, ist, daß Cusa sagt: Die Süßigkeit der
Wahrheit ist viel süßer als jeder andere Genuß der Sinne, den man erleben
kann. Und das ist tatsächlich absolut wahr, denn wenn Sie diese Kreativität
einmal wirklich erfahren haben, in welchem Bereich auch immer – Sie wissen
schon, sei es in der Musik, in der Wirtschaft, in den
Geschichtswissenschaften, was auch immer –, wenn Sie diese kreative Mentalität
in sich selbst erfahren und erschlossen haben, dann werden Sie eine Erfahrung
machen, die Sie glücklich macht, und Sie erfahren die Süßigkeit der Wahrheit,
und Sie werden alle anderen Süßigkeiten wegwerfen, Und wenn Snickers zu teuer
wird, machen Sie sich darüber keine Gedanken mehr, denn Sie haben die
Süßigkeit der Wahrheit entdeckt, die viel süßer ist als alle Snickers der
Welt.
Ich denke also, wir sollten jetzt, gestärkt durch die Ideen, über die auf
dieser Konferenz diskutiert wird, in diese Periode gehen, und auf die
Klassiker zurückgreifen, von Platon bis Konfuzius, zu Lyndon LaRouche, zu all
den großen Komponisten, Dichtern, Denkern, Wissenschaftlern: Es gibt da ein
unglaubliches Arsenal. Und wenn Sie Ihr Leben so entwickeln, daß Ihr Geist
sich in einer Art Schule von Athen von Raffael befindet, wo man alle
diese Freunde hat, alle diese Denker, und man kann sie konsultieren und sie
mit anderen teilen – ich denke, dann wird man sehr reich, und dann ist man
bestens gerüstet, um mit dieser Situation umzugehen. Und ich denke, daß wir
eine sehr gute Chance haben, diese Situation herumzureißen, denn wir befinden
uns wirklich weltweit in einem revolutionären Moment, und das ist etwas, das
mit Ideen gefüllt und gestaltet werden muß.
So danke ich Ihnen allen für Ihre Teilnahme, und ich freue mich, Sie auch
meine Freunde nennen zu dürfen.
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