Die Methode des Zusammenfalls der Gegensätze
Nur eine vereinte, weltweite Gesundheitsanstrengung ohne
Sanktionen kann die Pandemie besiegen
Von Helga Zepp-LaRouche
Guten Abend, oder guten Nachmittag für einige von Ihnen. Wie wir im ersten
Panel diskutiert haben, steht die Welt am Rande eines möglichen Krieges, und
es ist nicht so klar, wo die Lösung liegt. Es wurde auch breit darüber
diskutuíert, warum die Vereinten Nationen sehr wichtig sind, da für sie
derzeit keine Alternative besteht. Aber auch, dass man nach der jetzigen
Charta nicht wirklich verhindern kann, dass eines der Ständigen Fünf
Mitglieder des UN-Sicherheitsrates Maßnahmen blockiert, was im Moment zum
Nachteil vieler Länder ist, wie die, die von den Sanktionen betroffen
sind.
Die Frage ist also: Was ist zu tun? Gibt es eine Lösung? Sind wir als
menschliche Gattung dazu verdammt, immer wieder die gleichen Fehler zu
wiederholen? In den Ersten Weltkrieg sind wir schlafgewandelt; der Zweite
Weltkrieg war sozusagen eine logische Folge des Ersten Weltkriegs, weil er
nicht durch eine Friedensordnung gelöst wurde. Denn der Versailler Vertrag war
absolut keiner, der hätte funktionieren können.
Sind wir dazu verdammt, in einen Dritten Weltkrieg zu ziehen, den nach
allem, was wir darüber wissen, und nach der Natur der Atomwaffen vielleicht
niemand überleben würde und die menschliche Gattung aufhören würde zu
existieren? So haben sich mehrere Leute geäußert - Armageddon, totale
Katastrophe, Ende des Lebens, wie wir es auf diesem Planeten kennen. Diese
Formulierungen wurden in der letzten Zeit von vielen verwendet.
Die Methode aller Imperien ist das Teile und Herrsche, das Schüren
geopolitischer Konflikte, um ein Land gegen das andere auszuspielen, und sie
dann wie auf einem Schachbrett zu manipulieren. Das ist Brzezinskis „Großes
Schachspiel“ (dt. Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der
Vorherrschaft), die Strategie zur Niederlage Russlands. Gibt es einen
anderen Weg, als auf den eigenen Interessen gegen die Interessen der anderen
zu bestehen? Oder gibt es eine Methode des Denkens, wie man eine scheinbar
unmögliche Situation überwinden kann?
Wir haben auf den Konferenzen des Schiller-Instituts und an anderer Stelle
mehrfach über den Unterschied zwischen Aristoteles und Platon diskutiert.
Aristoteles sagt im Grunde, wenn etwas A ist, kann es nicht B sein; dieser
Widerspruch sei unüberwindbar. Platon hat schon mit seiner Konzeption der
höheren Hypothese, oder der Hypothese der höheren Hypothese einen Weg
aufgezeigt, wie der menschliche Geist auf eine höhere Ebene springen und durch
einen Veränderungsprozeß Lösungen neu definieren kann.
Nikolaus von Kues, und das war das Thema einer der vorangegangenen
Konferenzen, hat die Methode des „Zusammenfalls der Gegensätze“ entwickelt,
das ist die Idee, dass der mit Kreativität ausgestattete menschliche Geist für
jedes Problem immer eine ganz neue Lösungsebene definieren kann, eine höhere
Ebene als die, auf der der Konflikt entstanden ist. Denn das Eine ist von
höherer Ordnung als das Viele.
Das war auch das, was Einstein gesagt hat: Man darf nie versuchen, ein
Problem auf der Ebene zu lösen, auf der es entstanden ist. Man muß eine neue
Konzeption finden, eine mächtigere Konzeption.
Cusanus, Nikolaus von Kues, entwickelte die Idee, dass Harmonie im
Makrokosmos nur existieren kann, wenn sich alle Mikrokosmen entwickeln. Es
spielt dabei keine Rolle, ob dieser Mikrokosmos ein Mensch oder eine Nation
ist, sondern dass Harmonie dadurch erreicht werden kann, dass man die maximale
Entwicklung des anderen Mikrokosmos als sein Eigeninteresse ansieht und
umgekehrt. Und dass dann die Entwicklung all dieser Mikrokosmen ein Prozess
der Vervollkommnung ist, bei dem, je mehr Entwicklung im anderen Mikrokosmos
bewirkt wird, desto mehr dieser auf einen zurückwirkt und umgekehrt. Auf diese
Weise ist es ein Prozess der Entwicklung zu höheren Ebenen. Eine ähnliche
Konzeption finden Sie bei Leibniz und seiner Idee der Monaden, auf die ich
hier jetzt nicht näher eingehen möchte.
Aber ich möchte einiges darüber sagen, wie Nikolaus von Kues zu dieser
wirklich revolutionären Denkweise kam. Er war sich dessen sehr bewußt; er
sagte, ich schlage eine Denkweise vor, die noch nie zuvor von einem Menschen
gedacht worden ist, und es ist eine völlig neue Art, an die Dinge
heranzugehen.
Diese Idee kam Nikolaus auf einer Schiffsreise von Byzanz, Konstantinopel,
nach Italien auf dem Weg zu den Konzilen von Ferrara und Florenz. Er sagte,
ganz plötzlich hatte ich einen Gedanken, der von oben kam, von Gott, eine
göttliche Eingebung. Dann entwickelte er die Idee der Koinzidenz von
Gegensätzen im Denken.
Es ist ganz offensichtlich, dass dies Cusanus' Denken sein ganzes Leben
lang beeinflusst hat. Denn etwas später, als Konstantinopel unterging, war
dies die letzte Schlacht, die über das Schicksal des byzantinischen Reiches
entschied. Es war eine ziemlich blutige Schlacht. Mehmet II., ein junger
osmanischer Herrscher, hatte sich in den Kopf gesetzt, Konstantinopel zu
erobern. Er bereitete sich gut darauf vor; er baute eine riesige Armee von
150.000 Soldaten auf, mit einer großen Flotte. Daran arbeitete er etwa zwei
Jahre lang. Die Vorbereitungen waren getroffen, er hatte ein ganz
ausgeklügeltes System zum Bau von Tunneln, zum Bau verschiedener Flanken.
Der Verteidiger von Konstantinopel, Konstantin XI., konnte die anderen
christlichen Streitkräfte nicht wirklich zur Unterstützung mobilisieren. Er
hatte nur etwa 40.000 Mann, und er war in einer verwundbaren Situation. Ich
erspare Ihnen alle die sehr interessanten Aspekte, wie es dazu kam, aber
letztendlich fiel Konstantinopel nach heftigen Kämpfen. Die Türken stürmten in
die Stadt, und man sagte ihnen, sie könnten die Stadt drei Tage lang in Besitz
nehmen, und alles, was sie plündern, würde ihnen danach für immer gehören.
Da Menschen verhielten sich dann natürlich wirklich so, wie sich Menschen
unter solchen Umständen verhalten. Und es muss ziemlich brutal gewesen sein,
es ist viel Blut geflossen, viele Menschen wurden getötet. Viele Frauen wurden
verschleppt und zu Sklavinnen gemacht. Es war eine absolute Katastrophe, eine
Horrorshow, wie ein früher Kampf der Kulturen zwischen dem abendländischen
Christentum und der orientalisch-muslimischen Welt. Es gab Horrorgeschichten
über das, was passiert ist.
Unter dem Eindruck dieser absoluten Horrorgeschichten - Tausende verloren
ihr Leben – wandte Nikolaus von Kues die Methode der Koinzidenz der Gegensätze
an und schrieb einen wunderschönen Dialog über Frieden und Glauben, De Pace
Fidei. Er sagte, nachdem wir all diese Horrorgeschichten über
Konstantinopel gehört haben, müssen wir einen Weg finden, dies zu lösen.
Also entwirft er einen sokratischen Dialog, in dem 17 Vertreter
verschiedener Nationen und Religionen zu Gott gehen und sagen: „Schau, Logos,
du mußt uns helfen, denn wir alle töten uns gegenseitig in Deinem Namen, und
das kann nicht Deine Absicht sein. Kannst Du uns nicht einen Rat geben, was
wir tun sollen?“
Dann spricht Gott zu allen, den Syrern, den Italienern und zu den
verschiedenen Religionen. Er sagt: „Ihr alle seid Vertreter der Philosophie,
ihr liebt die Wahrheit, denn ihr seid Philosophen in eurem eigenen Land und
ihr werdet dafür respektiert.“
Sie alle sagen: „Ja, ja, wir sind Philosophen, das ist richtig. Aber was
machen wir? Wir bekämpfen uns immer noch gegenseitig. Kannst du uns
helfen?“
Und Gott sagt: „Nun, ja. Als Philosophen wisst ihr, dass es nur eine
Wahrheit gibt. Und der Fehler, den ihr macht, ist, dass ihr die eine Wahrheit,
die von Gott kommt, mit den vielen Interpretationen verwechselt, die von den
Propheten gemacht wurden.“
Sie sagen: „Ja, wir sehen, dass die Wahrheit Gottes eine höhere Wahrheit
sein muss als die Auslegung der Propheten. Aber das ist nicht genug; kannst du
uns trotzdem helfen?“
Dann sagt Gott: „Ja, und ihr macht den anderen Fehler, dass ihr diese eine
göttliche Wahrheit mit der Tradition verwechselt. Jeder von euch hat
verschiedene Traditionen, und sie scheinen sich zu widersprechen, aber die
Wahrheit ist nur eine.“
Da sagen sie: „Das alles macht Sinn, aber du kannst nicht von uns
verlangen, dass wir zu unserem Volk zurückgehen und ihm sagen, dass es einer
neuen Religion folgen solle, wo doch so viel Blut für die alte vergossen
wurde.“
Dann sagt Gott: „Nein, ich spreche nicht von einer neuen Religion. Ich
spreche von der einen Religion, die über den Religionen steht; ich spreche von
der Religion, die vor allen Religionen steht.“
Dem stimmten sie zu, und sie konnten sehen, dass es nur eine Wahrheit,
einen Gott und eine Religion gibt.
Als ich vor vielen Jahren diesen Dialog untersuchte, fragte ich mich:
„Ergibt das einen Sinn? Kann man eine Ähnlichkeit in den verschiedenen
Religionen bezüglich dieses Konzepts finden? Und ich schaute mir verschiedene
Philosophien an, wie den Konfuzianismus, den Hinduismus, das Christentum; und
in der Tat, ich fand, dass man in jeder von ihnen ein Prinzip hat, das diesem
Dialog und dieser einen Wahrheit entspricht. Das ist die Gesetzmäßigkeit des
Universums, der Schöpfung Gottes. Im Christentum nennt man es Naturgesetz. Im
Konfuzianismus Kosmologie oder das Mandat des Himmels. Im Hinduismus spricht
man auch von Kosmologie, aber man nennt es Sanatana Dharma, diesen göttlichen
Funken, der in jedem von uns steckt.
Es scheint mir also, dass die Frage, ob die Menschheit als Gattung
überleben wird oder nicht, ob wir uns selbst ausrotten werden oder nicht,
vollständig von der Frage abhängt, ob wir es vermeiden können, diesem
imperialen Denken des „Teile und Herrsche“ zum Opfer zu fallen – dass wir uns
entweder in diesem oder jenem Lager befinden, das dem anderen Lager feindlich
gegenübersteht? Oder können wir irgendwie in uns und in anderen die Qualität
der inneren Selbstentfaltung im Zusammenhalt mit der Gesetzmäßigkeit der
Schöpfung des Universums hervorrufen?
Es scheint mir, dass diese Methode jetzt unbedingt angewendet werden muss.
Ich denke, dass wir bei der Frage, die geopolitische Konfrontation zu
überwinden, oder wie man die Spaltungen der Identitätspolitik überwindet,
diesen inneren Mechanismus finden müssen, diese innere Idee, die uns alle zu
Menschen macht, die zu der einen menschlichen Gattung gehören.
Mir scheint, dass wir angesichts der Pandemie und der Tatsache, dass wir
uns in einer unglaublichen Krise befinden – einer moralischen Krise, einer
politischen, medizinischen, militärischen Krise, einer Wirtschaftskrise, einer
Finanzkrise –, dass wir irgendwo anfangen müssen, indem wir das ansprechen,
was uns alle menschlich macht, und das ist die Heiligkeit jedes menschlichen
Lebens auf diesem Planeten.
Ich denke, der entscheidende Hebel, um die Situation zu verändern, ist die
Schaffung eines Weltgesundheitssystems, die Schaffung eines modernen
Gesundheitssystems in jedem einzelnen Land, denn ohne das werden wir diese
Pandemie nicht besiegen können. Denn in den Ländern, denen nicht geholfen
wird, werden sich neue Virenstämme entwickeln, die alle Anstrengungen zunichte
machen könnten, die wir mit den Impfungen in den Ländern unternommen haben,
die mehr Glück hatten, sie anwenden zu können.
Ich denke, dass die Idee, eine bessere Welt zu schaffen, und ich meine
wirklich eine bessere Welt, darin besteht, in jedem Land ein Gesundheitssystem
zu schaffen; was natürlich bedeutet, daß die Sanktionen beseitigt werden
müssen. Wir müssen ein Gesundheitssystem in Syrien, im Jemen, im Irak, in
Haiti, in Mali, im Niger, in allen Ländern aufbauen. Ich glaube, dass wir dazu
in der Lage sind, weil ich glaube, dass die Menschen das Potential haben,
menschlich zu sein, und das ist es, worum es uns geht.
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