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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Jenseits der Multipolarität: Die eine Menschheit

Von Helga Zepp-LaRouche

Helga Zepp-LaRouche ist die Gründerin und Präsidentin des Schiller-Instituts. Dies ist eine bearbeitete Abschrift ihres Vortrags im vierten Abschnitt der Konferenz des Schiller-Instituts am 27. Juni 2021. Die Zwischenüberschriften wurden hinzugefügt.

Lassen Sie mich zunächst Ihnen, Dr. Satcher, für Ihre Worte danken, die den Geist dessen, was wir zu tun versuchen, in sehr schöner Weise einfangen.

Ich könnte meine Ausführungen nicht beginnen, ohne an den unglaublichen Verlust von Mike Gravel zu erinnern. Wenn alle Menschen in den Vereinigten Staaten nach seinen Maßstäben leben würden, wäre die Welt ein sehr schöner und friedlicher Ort.

Ich möchte über den „Zusammenfall von Gegensätzen“ sprechen, was für einige Leute vielleicht seltsam klingt – warum sollte man einen so komplizierten Begriff verwenden? Aber manchmal braucht man für ein neues Konzept eine Metapher. Es ist neu, aber auch nicht neu, denn es stammt aus dem 15. Jahrhundert; es ist eine Denkmethode.

Zunächst noch eine etwas andere Bemerkung: Vor Jahren hörte ich von einem Science-Fiction-Buch oder -Film, in dem es darum ging, daß die Menschheit sich irgendwie selbst zerstört hat und keine Menschen mehr auf der Erde waren. Vertreter einer anderen, fortgeschritteneren Gattung von einem anderen Planeten landeten mit einem Raumschiff auf unserem Planeten, um den Grund für das Verschwinden der menschlichen Gattung zu erforschen. Das war schwierig, weil praktisch alles zerstört war. Der einzige Gegenstand, den sie fanden, war ein Buch über die Methoden der Mafia-Banden in Chicago, die miteinander bis auf den Tod um die Spitzenposition kämpften. In Ermangelung einer anderen Erklärung schlossen diese Besucher aus dem Weltraum, daß diese Art des Denkens, den „Feind“ bis zum Tod zu bekämpfen, zum Aussterben der Erdbewohner geführt hat.

Betrachtet man die Evolutionsgesetze unseres Universums über Hunderte von Millionen Jahren und die exponentielle intellektuelle und wissenschaftliche Entwicklung der menschlichen Spezies allein in den letzten 10.000 Jahren, dann wäre es ziemlich dumm, durch einen möglichen Atomkrieg die Existenz der Menschheit zu riskieren. Wir würden uns selbst der fortlaufenden Erfahrung berauben, eine unbegrenzte Anzahl kreativer Durchbrüche beim Verständnis dieses physikalischen Universums zu machen – das laut dem Hubble-Weltraumteleskop mindestens zwei Billionen Galaxien umfaßt –, und wir würden auf diese Weise die Menschheit der Möglichkeit berauben, die einzige unsterbliche Gattung in diesem Universum zu werden!

Grundsätze der friedlichen Koexistenz

Wir befinden uns eindeutig an einem entscheidenden Punkt in diesem evolutionären Prozeß. Es sollte klar sein, daß trotz der entgegengesetzten Behauptungen einiger Kräfte die Tage der unipolaren Welt definitiv vorbei sind. Wir bewegen uns definitiv auf eine multipolare Welt zu, aber das basiert nicht durchgängig auf denselben Prinzipien. Es besteht ein Konflikt zwischen denjenigen, die das Völkerrecht hochhalten, wie es in der UN-Charta verankert ist und wie es sich aus dem Westfälischen Frieden zu einer internationalen Verpflichtung zur Einhaltung von Rechten für alle Menschen entwickelt hat, und der Vorstellung, es gäbe eine „regelbasierte Ordnung“, in der diese Regeln von den Institutionen der westlichen Länder gemacht werden – von der Wall Street, der Londoner City, von supranationalen Bürokratien, die eine Politik im Interesse der Machteliten betreiben.

Wir müssen in den Vereinigten Staaten, in Europa und in der ganzen Welt eine Diskussion darüber führen, wie die menschliche Gattung wieder zu Legitimität und nicht nur zu Legalität in der internationalen Ordnung gelangen kann.

Der erste Schritt besteht darin, zu den „Fünf Grundsätzen der friedlichen Koexistenz“ zurückzukehren.1 Dies sind:

  • erstens die gegenseitige Achtung der territorialen Integrität und Souveränität anderer Nationen;

  • zweitens gegenseitige Achtung und Nichtangriff;

  • drittens Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Nationen;

  • viertens Gleichheit und Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen;

  • und fünftens friedliche Koexistenz.

Wenn wir zu diesen Grundsätzen zurückkehren, dann müssen die Vorstellungen, die in den letzten Jahrzehnten angenommen wurden – wie „Schutzverantwortung“ (R2P), „humanitäre Interventionen“, Kriege, Regimewechsel, Farbenrevolutionen, einseitige Sanktionen – allesamt verschwinden. Multilateralismus ist jetzt eine Tatsache, aber das ist noch nicht wirklich der Punkt, an dem die Menschheit sein sollte. Denn Multilateralismus birgt immer noch potentiell die Gefahr einer geopolitischen Konfrontation, bei der ein Block sagt: „Wir haben diese Interessen, die wir gegen die Interessen der anderen Blöcke verteidigen müssen.“ Deshalb müssen wir radikal umdenken und lernen, zuerst an die eine Menschheit zu denken. Das ist der Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) als Methode des Denkens.

Von Nikolaus von Kues lernen

Diese Idee ist in Nikolaus von Kues' Werk und Mission erstmals aufgetaucht. Im Jahr 1437 reiste er von Konstantinopel zum Konzil von Ferrara und Florenz, wo er eine ganze Delegation der griechisch-orthodoxen Kirche mitbrachte, alle wichtigen Denker jener Zeit: Plethon, Bessarion, den Patriarchen und viele andere. Diese Konferenz sollte die Vereinigung der griechisch-orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche herbeiführen, wozu Cusa viele wichtige Vorarbeiten und Beiträge geleistet hatte. Als er mehrere Wochen auf einem Schiff unterwegs war, hatte er plötzlich eine, wie er es nannte, „göttliche Eingebung“, und er sagte: „Plötzlich kann ich etwas denken, was noch nie ein Mensch zuvor gedacht hat.“

Der Kern dieser Idee war folgender. Bis zu diesem Zeitpunkt galt das Prinzip, keine widersprüchlichen Behauptungen zu tolerieren, als gemeinsames Axiom aller Philosophen, dabei war Aristoteles der berühmteste und eindeutigste.

In seinem zweiten Hauptwerk, De Docta Ignorantia, schreibt Cusa über das Wesen von Größen und Maßen und sagt, daß das Maximum auch das Eine ist, da es alles enthält, und deshalb ist es auch das Minimum, da nichts außerhalb von ihm ist.

Diese und die folgenden Beispiele aus De Docta Ignorantia sollte man als Metaphern verstehen. Es sind pädagogische, geistige Übungen, um über die Ebene der Sinne hinauszukommen.

In De Docta Ignorantia sagt er auch, daß eine unendliche gerade Linie gleichzeitig auch ein unendliches Dreieck, ein unendlicher Kreis und eine unendliche Kugel ist.

Der Grund dafür ist ganz einfach: Der Durchmesser eines Kreises ist eine gerade Linie; der Umfang ist eine gekrümmte Linie und länger als der Durchmesser. Je größer der Kreis ist, desto weniger gekrümmt ist der Umfang und desto gerader ist er; und die Krümmung sowohl des größten Kreises als auch der größten Linie ist Geradheit. Das Gleiche gilt für das größte Dreieck, den größten Kreis und die größte Kugel.

Wenn der Denkprozeß nicht über die Sinne hinausgeht, versteht man nicht, daß eine Linie auch ein Dreieck, ein Kreis und eine Kugel ist. Für einen Menschen, der auf der Ebene des Verstehens des Denkprozesses denkt, ist es sehr einfach.

Da die beiden Seiten eines Dreiecks nicht kürzer sein können als die dritte, folgt daraus, daß in einem Dreieck, wenn eine Seite unendlich ist, auch die beiden anderen Seiten unendlich sein müssen. Und da es nicht mehrere Unendlichkeiten geben kann, fallen sie in einer einzigen zusammen.

Sie finden viele weitere Überlegungen dieser Art in diesem Buch, und ich erwähne sie nur, um Ihnen Appetit zu machen auf die Lektüre der Bücher von Nikolaus von Kues.

Der Zusammenfall der Gegensätze ist kein statischer Zustand, sondern ein Konzept der Veränderung, der Entwicklung vom Unbelebten zum Belebten, zur Vernunft, wie Megan Dobrodt im zweiten Panel dieser Konferenz entlang der Ideen von Wladimir Wernadskij entwickelt hat, der sagte, „Kusansky“ sei „das große Sprungbrett“ zu seinem eigenen Wissenskörper gewesen.

Cusa teilte die Erkenntnis in vier Ebenen ein: erstens die Ebene der Sinne, zweitens die Ebene des Verstehens, drittens die Ebene der Vernunft und viertens das, was er visio, Vision, nannte: die Ebene des Zusammenfalls von Gegensätzen, wo er sagte, man müsse so denken, als springe man hinter eine Mauer, um „das Eine“ zu denken, aber dies vom Standpunkt der Hypothese und der Zukunft und zukünftiger Entdeckungen tun.

Wir müssen die Menschen dazu erziehen, mindestens auf der Ebene der Vernunft zu denken – was schon eine große Leistung wäre –, aber um es auf die Ebene des Zusammenfalls der Gegensätze zu steigern, muß man an die eine Menschheit denken, vor jedem nationalen Interesse, und das nationale Interesse darf niemals im Widerspruch zum Interesse der Menschheit als Ganzes stehen.

In die Zukunft

Mahatma Gandhi, von dem viele der Grundsätze stammen, die ich vorhin erwähnt habe, fügte den Grundsatz hinzu, den er Sarvodaya nannte: die Idee, daß man dafür sorgen muß, daß die am weitesten Zurückgebliebenen die Ersten sein werden und daß der Fortschritt der Gesellschaft am Zustand der Schwächsten und Verletzlichsten gemessen wird.

Dies erfordert eine Emotion, die im christlichen Sprachgebrauch als (Nächsten-) Liebe, agapē, bezeichnet wird. In der konfuzianischen Philosophie heißt sie ren, und sie erfordert, daß wir unsere Emotionen so erziehen, daß sie auf der gleichen Ebene stehen wie die Vernunft. Und das ist Friedrich Schiller zufolge durch ästhetische Erziehung möglich; daß man seine Gefühle erzieht, bis man ihnen blind folgen kann, weil sie einem nie etwas anderes sagen werden, als die Vernunft verlangt.

Deshalb ist das Schiller-Institut nach Friedrich Schiller benannt, weil wir glauben, daß eine solche ästhetische Erziehung aller Menschen möglich ist und erreichbar ist, vielleicht sogar noch zu unseren Lebzeiten.

Und deshalb denke ich, daß die erste wirkliche Zäsur in diesem Bemühen sein muß, im Zusammenhang mit dieser Pandemie und der Gefahr neuer Pandemien für ein modernes Gesundheitssystem in jedem Land der Welt zu kämpfen, was im Eigeninteresse eines jeden von uns wie als auch jeder Nation liegt. Aber ich denke, das muß der absolute Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit werden - die Einleitung einer neuen Epoche, in der die Menschheit an erster Stelle steht.

Ich danke Ihnen.


Anmerkung

1. Diese Prinzipien wurden zuerst 1954 zwischen Indien und China und dann 1955 auf der asiatisch-afrikanischen Konferenz im indonesischen Bandung vereinbart.