Roundtable des Schiller-Instituts zu Afghanistan
Mit der neuen Regierung zusammenarbeiten und
Wirtschaftsprojekte umsetzen – das empfiehlt eine Expertenrunde
zur Lage in Afghanistan.
Während im Westen weiter Hysterie über den „chaotischen“ Abzug der
NATO-Truppen aus Afghanistan und die Übernahme des Landes durch die Taliban
verbreitet wird, organisierte das Schiller-Institut am 21. August unter dem
Titel „Afghanistan – eine Chance für eine neue Epoche der Menschheit“ eine
rationale Diskussion darüber, was zu tun ist. Drei Hauptthemen wurden während
des Dialogs zwischen den Rednern immer wieder angesprochen:
- das Paradigma der „endlosen Kriege“ muß vollständig beendet
werden;
- mit der neuen afghanischen Regierung muß man reden, anstatt sie zu
verteufeln;
- und man muß so schnell wie möglich mit wirtschaftlichen
Wiederaufbauprojekten beginnen.
Teilnehmer des virtuellen Roundtable waren neben der Vorsitzenden des
Schiller-Instituts Helga Zepp-LaRouche der deutsche Militär- und
Philosophieexperte Oberstleutnant a.D. Ulrich Scholz, der ehemalige Leiter des
UN-Büros für Drogenbekämpfung (1997-2002) Pino Arlacchi, heute Professor an
der Universität Sassari in Italien, Hassan Daud aus Pakistan, Leiter der
Investmentbehörde der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, Ray McGovern, ehemaliger
CIA-Analyst und Mitbegründer der Veteran Intelligence Professionals for Sanity
(VIPS) sowie Nipa Banerjee, Professorin an der Universität Ottawa.
Westliche Strategie mehr denn je in Frage gestellt
Helga Zepp-LaRouche erklärte in ihrer Eröffnungsrede, die Geschehnisse in
Afghanistan seien eine verheerende Niederlage für die Politik der endlosen
Kriege und geopolitischen Spiele. Der Schlüssel zur Stabilisierung der Lage in
Afghanistan sei eine rasche wirtschaftliche Entwicklung und damit die Aussicht
auf eine vielversprechende Zukunft ohne Krieg. „Afghanistan gehört schon zu
den zehn ärmsten Ländern der Welt, es wurde von einer schrecklichen Dürre
heimgesucht. Jeder dritte Einwohner Afghanistans ist von
Ernährungsunsicherheit betroffen. Und dann gibt es bekanntlich eine Pandemie.
Das Schlimmste, was passieren könnte, ist, daß einige schlaue – oder nicht so
schlaue – Leute im Westen an einen Finanzkrieg denken und sagen: ,OK, die
militärische Option ist ausgeschlossen, weil man in Afghanistan nicht gewinnen
kann. Das haben die Briten, die Sowjets und jetzt die NATO bewiesen. Warum
verlegen wir also nicht auf finanzielle Kriegsführung?'“
Bereits jetzt hätten die USA die Guthaben der afghanischen Zentralbank bei
der Federal Reserve und anderen US-Finanzinstituten von über 9 Mrd.$
eingefroren. Die Europäische Union habe am 17. August bis zur „Klärung der
Lage“ die gesamte Entwicklungs- und staatliche Hilfe eingestellt, nachdem
Deutschland dies für seine nationale Entwicklungshilfe bereits entschieden
hatte. Wenn der Westen in einer derart fragilen Situation beschließe, „einen
militärischen Aufstand in Kombination mit einem Finanzkrieg“ anzuzetteln, in
der Hoffnung, Chaos zu stiften und die Taliban irgendwie zur Aufgabe der Macht
zu zwingen, „wäre das die größte Dummheit, die man sich vorstellen kann“. Die
einzige Möglichkeit zur Verbesserung der Lage bestehe darin, Afghanistan und
der neuen Regierung, die aus den laufenden Gesprächen hervorgehen wird, Hilfe
anzubieten und geopolitische Spielchen zu vermeiden.
In der Diskussion betonte Zepp-LaRouche, das bedeute nicht, den Taliban
einen Blankoscheck auszustellen oder blind auf deren Versprechungen zu
vertrauen: „Natürlich müssen die Taliban in die Pflicht genommen werden.“ Aber
um einen politischen Wandel herbeizuführen, müßten wirtschaftliche Entwicklung
und die Aussicht auf regionale Integration, z.B. im Rahmen der Gürtel- und
Straßen-Initiative, gewährleistet sein. Anstatt sich in ideologische Debatten
zu stürzen oder die Bedeutung dieses oder jenes Wortes zu analysieren, gebe es
reale und sehr ernste Probleme zu lösen – auch für die Taliban.
Über Afghanistan hinaus sei die gegenwärtige Krise „Ausdruck eines sehr
tiefsitzenden Problems darin, wie der Westen diese endlosen Kriege geführt hat
– Afghanistan, Irak, Syrien, Jemen, Libyen, die Liste ist sehr lang“. Die
westlichen Regierungen müßten ernsthaft darüber nachdenken, ob diese Politik
tragfähig ist, oder ob die Niederlage in Afghanistan nicht vielmehr das
„Menetekel“ für die westliche Zivilisation ist, das den eigenen Untergang
ankündigt, so wie es Heinrich Heine in seinem Gedicht Belsazar beschreibt.
Zum Abschluß ihrer Rede fragte Zepp-LaRouche: „Ist es nicht höchste Zeit,
die axiomatischen Annahmen über Rußland, über China, über die Gürtel- und
Straßen-Initiative zu ändern? Denn das Angebot zur Zusammenarbeit steht immer
noch, von den Chinesen, von den Russen. Ich denke daher, daß wir uns in einer
unglaublich dramatischen Situation befinden, so wie wir dies vor drei Wochen
besprochen haben, aber in der Zwischenzeit haben die Ereignisse bewiesen, daß
unsere Diskussion äußerst vorausschauend war.“
In der Tat unterstreichen die Ausraster des ehemaligen Premierministers
Tony Blair und anderer britischer Vertreter, wie sehr der Abzug der US-Kräfte
nach 20 Jahren Krieg und Zerstörung die Chance bietet, das „Meisterwerkzeug“
des Empire, die Geopolitik, abzuschaffen.
Prof. Arlacchi betonte, was wir jetzt nicht bräuchten, sei „Talibanologie“,
d.h. Spekulationen aus der Ferne über die Absichten der Taliban. Viele andere
stimmten zu und erklärten, die USA und Europa müßten mit anderen Großmächten
wie Rußland, China und Indien sowie den unmittelbaren Nachbarn Afghanistans –
Iran, Pakistan, die zentralasiatischen Staaten – bei humanitärer Hilfe und
wirtschaftlichen Initiativen zusammenarbeiten.
Zu der Frage, wie man die neue Taliban-Regierung beurteilen kann, sagte Ray
McGovern, man brauche einen ehrlichen Überwachungsprozeß vor Ort, z.B. durch
die UN. Der vor einigen Jahren vom US-Kongreß eingesetzte Sonderinspekteur für
afghanischen Wiederaufbau habe wahrheitsgetreu über die Aktivitäten der USA
und der NATO in Afghanistan Buch geführt, und diese Fakten bestätigten, daß
die US-Regierung jahrelang bewußt über angebliche „Fortschritte“ in
Afghanistan gelogen habe. Prof. Banerjee stimmte in diesem Punkt ausdrücklich
zu. Diese Dokumente wurden 2019 von der Washington Post veröffentlicht
– „das einzig Nützliche, was die Washington Post in den letzten 20
Jahren getan hat“, so McGovern.
Hassan Daud faßte die Hauptaspekte der wirtschaftlichen Entwicklung für die
Region zusammen und merkte an: „Wenn die afghanische Regierung stark und
stabil ist, kann sie China die Hand reichen“ und mit der Gürtel- und
Straßen-Initiative (BRI) sowie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit
(SCO) zusammenarbeiten, in der sie Beobachterstatus hat.
Internationale Aufmerksamkeit
Die Veranstaltung schloß an das erfolgreiche Webinar des Schiller-Instituts
vom 31. Juli (vor dem Abzug) an, bei dem ein Überblick über
Entwicklungschancen für Afghanistan und die Region gegeben wurde (wir
berichteten, siehe https://schillerinstitute.com/blog/2021/07/29/afghanistan-a-turning-point-in-history-after-the-failed-regime-change-era/)
und das in internationalen Medien Aufmerksamkeit fand, insbesondere in China
und im Iran.
So produzierte beispielsweise Chinas internationale Medienorganisation
CGTN ein sechsminütiges Video mit Auszügen aus der Grundsatzrede, die
Helga Zepp-LaRouche am 31. Juli gehalten hatte. Das CGTN-Video trägt
den Titel: „Afghanistan: Die glänzende Zukunft für die kommende Zusammenarbeit
der Großmächte“ (https://news.cgtn.com/news/2021-08-20/Afghanistan-Bright-future-for-the-coming-cooperation-of-great-powers-12QYAxWPJe0/index.html).
Am 20. August wurde der Südwestasien-Koordinator des Schiller-Instituts,
Hussein Askary, vom iranischen PressTV eingeladen, um über die
strategischen Beziehungen des Irans zu Rußland und China unter der neuen
Regierung in Teheran sowie über die Zukunft Afghanistans und die BRI-Strategie
zu sprechen. (Das Interview in englischer Sprache finden Sie unter: https://www.presstv.ir/Detail/2021/08/21/664878/Iran%E2%80%99s-ties-with-China-&-Russia)
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