Eine syrische Perspektive
Von Dr. Bouthaina Shaaban
Dr. Bouthaina Shaaban ist Politik- und Medienberaterin der
syrischen Präsidentschaft. Sie hielt den folgenden Vortrag am 20. März im
zweiten Abschnitt der Internetkonferenz des Schiller-Instituts.
Zunächst möchte ich Helga LaRouche und Ihnen allen dafür danken, daß
Sie mich eingeladen haben, auf dieser sehr wichtigen Konferenz zu sprechen,
mit der ich viele gemeinsame Schnittpunkte habe, über die ich sprechen
kann.
Da unser Thema „Die strategische Krise der Menschheit“ ist, möchte ich mit
der „Interim National Security Strategic Guidance“1 beginnen, die
US-Präsident Biden im März 2021 vorgelegt hat, um zunächst zu klären, in
welche Richtung diese neue amerikanische Regierung geht, und was unsere
Erwartungen sind. Wie sollen wir diese Leitlinien verstehen – als Menschen,
die stets amerikanischer Politik unterworfen sind und nicht Teilnehmer an der
Formulierung der Weltpolitik?
Für diejenigen unter Ihnen, die sie nicht gelesen haben: Die von Präsident
Biden vorgelegte Strategische Leitlinie geht von dem Konzept der westlichen
Vormachtstellung aus. Was Präsident Biden betont, ist das amerikanische
Bündnis und die Partnerschaft mit Europa oder der NATO, und was er zu
erreichen versucht, ist, Länder in der Welt dazu zu bringen, eine Welt-NATO zu
schaffen, statt nur eine transatlantische NATO.
Das Problem hier ist, daß diese Strategische Leitlinie diesen Block von
Ländern, von NATO-Ländern, als diejenigen betrachtet, die Demokratie fördern,
die Menschenrechte anerkennen und der Welt beibringen sollten, wie man
ähnliche Systeme aufbaut. Jeder oder jedes Land, das nicht in dieses Kriterium
paßt, wird entweder als Autokrat oder als Aggressor betrachtet, einschließlich
Rußland und China. Das sind dieser Leitlinie zufolge autokratische Systeme,
und sie stellen eine Bedrohung für diese Demokratie dar.
Also, hier ist das Problem: daß es eine Reihe von Ländern gibt, die eine
Allianz formulieren und die sich selbst für höherwertig in der Welt halten,
übrigens verbunden mit Interessen – immer, wenn sie über Werte sprechen,
sprechen sie auch über die Durchsetzung amerikanischer Interessen und die
Förderung amerikanischer Werte. Diese Länder sind also diejenigen, die diese
Werte haben oder besitzen, und jeder, der sich ihnen anschließt, wird Teil
dieses Bündnisses und dieser Partnerschaft, und jeder, der das nicht tut oder
der eine andere Vorstellung von Regierungsführung oder eine andere Lebensweise
hat, wird entweder als Autokrat oder als Aggressor betrachtet. Und die andere
Bedrohung, die dieser Gruppe von Ländern in den Sinn kommt, ist die
Technologie, ist der Aufstieg Chinas. Diese Leitlinie scheint geradezu davon
besessen zu sein, wie man den Aufstieg Chinas stoppen kann.
Interessenpolitik im Namen der Demokratie
Das Problem, das ich hier sehe, ist, daß sie in dieser Leitlinie nicht auf
die Welt als menschliche Gemeinschaft schauen. Sie schauen darauf vom
Standpunkt der weißen Überlegenheit und schauen auf andere Länder, die auch so
im Sinne dieser weißen Überlegenheit handeln sollen, im Namen der Demokratie
und der Menschenrechte – wie auch immer man es nennen mag.
Als Syrerin, die zehn Jahre Krieg in Syrien erlebt hat, finde ich diese
Logik extrem gefährlich, zumal ich weiß und wir erleben, daß die Demokratie,
von der sie reden, nur dazu dient, unsere Länder zu Satellitenstaaten ihrer
Länder zu machen, was bedeutet, daß es kein Gefühl der Gleichheit oder
menschlichen Brüderlichkeit zwischen ihren Ländern und unserem Land gibt.
Die Logik, die ich von China und Rußland höre, ist die Logik, die sagt:
Wohlstand sollte für alle zur Verfügung stehen. Wir sollten zum Beispiel die
Armut bekämpfen, das sagen die Chinesen – und sie tun es auch, sie bekämpfen
die Armut in China, aber wir sollten die Armut überall auf der Welt bekämpfen,
denn wir leben in einer Welt: Wir sollten Ressourcen teilen, und wir sollten
gemeinsam für den Wohlstand handeln.
Im Fall von Syrien haben die westlichen Rufe nach Demokratie und Freiheit,
die in der Realität dazu geführt haben, daß Tausende, Hunderttausende von
Terroristen in unser Land gekommen sind, daß unsere Schulen und unsere
Infrastruktur zerstört wurden – all diese Rufe haben unser Land um hundert
Jahre zurückgeworfen.
Und aus meiner Sicht als Syrerin, die immer in diesem Land gelebt hat und
die immer in diesem Land leben wird, egal was passiert, kann ich Ihnen sagen,
daß der Grund für diesen Krieg gegen Syrien ist, daß Syrien eine unabhängige
politische Meinung hat und unabhängige politische Entscheidungen trifft. Und
das ist bei diesen Kreisen, die wollen, daß die ganze Welt eine Kopie dessen
ist, was sie denken, was sie wollen, überhaupt nicht willkommen.
Und niemandem gestehen sie das Recht zu, zum Beispiel eine andere Form der
Demokratie zu haben oder eine andere Lebensweise oder eine andere Kultur, die
wir hier in Syrien eben schätzen, wohingegen andere Menschen eben andere Dinge
schätzen!
Das Problem, das ich bei dieser Strategie sehe, ist also, daß sie der
Vielfalt der menschlichen Natur, der Vielfalt der menschlichen Kultur, der
Vielfalt der menschlichen Vorlieben und Abneigungen keinen Raum läßt. So hatte
Syrien zum Beispiel im Jahr 2010 die viertstärkste Wirtschaft unter den
Entwicklungsländern der Welt. Und jetzt haben sie unsere Wirtschaft zerstört,
sie haben unsere Schulen zerstört, sie haben unsere Lebensweise zerstört! Sie
haben unsere Identität zerstört, durch eine Flut von Terroristen, die
bekanntlich über die Türkei in unser Land kamen.
Und es heißt – ich bin sicher, daß alle von Ihnen das so hören –, daß die
Vereinigten Staaten angeblich im Nordosten von Syrien sind, um gegen den
Islamischen Staat (IS) zu kämpfen und um den Terrorismus zu besiegen. Nun,
wenn wir den Terrorismus bekämpfen – was wir auf jeden Fall tun, denn es ist
in unserem Interesse und es ist wichtig für unser Leben, vom Terrorismus
befreit zu sein – und wenn sie hier sind, um den Terrorismus zu bekämpfen,
warum können wir nicht unsere Kräfte bündeln, um den Terrorismus zu bekämpfen?
Ich sage Ihnen, die Vereinigten Staaten und die mit ihnen verbündeten
Streitkräfte in Syrien sind hier, um die Terroristen zu schützen, und
das ist es, was sie taten und tun. Wenn die US-Streitkräfte nicht in Tanf
präsent wären und wenn sie unsere Streitkräfte nicht militärisch angreifen
würden, hätten wir längst das gesamte syrische Territorium vom Terrorismus
befreit.
Das andere Ziel für sie ist, jede Beziehung zwischen dem Irak und Syrien zu
verhindern, denn eine Beziehung zwischen dem Irak und Syrien ist für das
syrische Volk und für das irakische Volk äußerst wichtig.
Was ich also sagen möchte, ist, daß die Welt heute in einer Krise steckt,
daß die neue amerikanische Regierung sich auf Allianzen und Partnerschaften
konzentriert, konfrontativ gegenüber China und Rußland und gegenüber jedem
Land, das es wagt, anders zu sein als sie, das es wagt, seine eigene
Demokratie zu haben, das es wagt, seine eigenen unabhängigen Ressourcen zu
nutzen. Wie um alles in der Welt könnten die USA sonst rechtfertigen, daß sie
unser Öl und unseren Weizen plündern und unser Volk von unseren natürlichen
Ressourcen fernhalten?
Der Unterschied zwischen Worten und Taten
Hier komme ich zum zweiten Problem in deren Strategie und den Leitlinien
zur Strategie, nämlich dem Unterschied zwischen dem, was man rhetorisch von
sich gibt, und den Taten direkt vor Ort. Die Praxis vor Ort ist, daß dieser
westliche Block, wie Biden ihn nennt, mit seinen Partnern und seinen
Allianzen, uns nicht als Menschen sieht: Sie sehen unser Öl, sie sehen unseren
Weizen, sie sehen unsere geographische Lage, aber es kümmert sie überhaupt
nicht, was für ein Leben wir führen, was für Probleme sie uns schaffen.
Meine Schlußfolgerung daraus ist, daß wir ein anderes Paradigma für die
Zukunft der Menschheit brauchen, und ich sehe, daß China und Rußland und der
Iran und Syrien und Venezuela und das Schiller-Institut und alle von Ihnen,
die an die Würde der menschlichen Existenz glauben und an die Unabhängigkeit
und an die Souveränität jedes Staates auf der Welt, ob groß oder klein – daß
sie alle sich für diese Brüderlichkeit einsetzen, unter allen Ländern der
Welt, ohne Überlegene und Unterlegene, ohne Gruppen, die meinen, daß alles
gleichförmig sein soll. Nein, eine einzige Schablone paßt nicht für alle: Wir
kommen aus einer anderen Kultur, wir haben eine andere Sichtweise, wir möchten
unsere Zukunft so gestalten, wie wir es wollen, wie wir es genießen, wie wir
es wertschätzen.
Das ist es, was die Welt retten würde: anzuerkennen, daß Gott uns alle an
verschiedenen Orten mit verschiedenen Kulturen, mit verschiedenen Sprachen
geschaffen hat, aber nur, um sich über die Unterschiede zu freuen, und nicht,
um einen Freibrief für diejenigen zu geben, die glauben, daß sie anderen
überlegen sind, so wie sie es mit den indigenen Völkern getan haben, die von
ihnen ausgelöscht wurden, was einen riesigen, schrecklichen Verlust für die
menschliche Geschichte und für den menschlichen Reichtum und für die
menschliche Bildung und für die menschliche Zivilisation verursacht hat.
Ich hoffe, daß wir gemeinsam, die Menschen im Osten und im Westen, unsere
Kräfte bündeln, um eine Welt zu schaffen, in der sich die Menschen respektiert
fühlen, und in der die Menschen das Gefühl haben, daß ihre unterschiedliche
Kultur eine Bereicherung ist und nicht etwas, das bestraft werden muß, oder
etwas, das wenn möglich ausgehöhlt werden muß.
Ich danke Ihnen, daß Sie mich zu dieser Konferenz eingeladen haben, und ich
hoffe wirklich, daß wir eine aktive Partnerschaft eingehen können, die der
Welt eine viel bessere Zukunft sichert, in der es keine Vorherrschaft, keine
Besatzung und keinen Terrorismus gibt.
Ich danke Ihnen sehr.
Anmerkung
1. Strategische Leitlinie für die nationale Sicherheit, https://www.whitehouse.gov/wp-content/uploads/2021/03/NSC-1v2.pdf
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