Über Hilfe hinausgehen
Die Gürtel- und Straßeninitiative und die Schuldenfrage
Von Dr. Yan Wang, Zentrum für globale Entwicklungspolitik,
Universität Boston
Dr. Yan Wang hielt am 12. Dezember bei der Internetkonferenz
des Schiller-Instituts den folgenden Vortrag. Die Zwischenüberschriften wurden
von der Redaktion hinzugefügt.
Hallo zusammen. Zunächst einmal möchte ich mich beim Schiller-Institut für
die Einladung bedanken. Es ist mir eine große Freude und Ehre, zu sprechen und
meine Forschungsergebnisse mitzuteilen.
Ich möchte mit einer Geschichte aus meiner Jugend beginnen. Ich bin während
der Kulturrevolution in China aufgewachsen. Als ich 15 Jahre alt war, wurde
ich aufs Land geschickt. Ich habe die schlechten Lebensbedingungen im
Nordosten Chinas miterlebt, ohne fließendes Wasser, ohne Elektrizität, ohne
Toilette.
Wie Sie wissen, begannen in China Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre
Reformen. Sie zielten darauf ab, daß China zu den Industriestaaten
aufschließt, aber wir fanden das sehr schwierig.
Dieser Vortrag basiert im wesentlichen auf meinem gemeinsamen Buch mit
Prof. Justin Lin, Going Beyond Aid: Development Cooperation for Structural
Transformation („Über Hilfe hinausgehen: Entwicklungszusammenarbeit für
strukturelle Transformation“).
Quelle: Maddison Project Database, Version 2018
Abb. 1: Entwicklung des realen BIP pro Kopf (in US$ 2011) in China und
Afrika, 1950-2016
Wie Sie sehen können (Abbildung 1), war Chinas Pro-Kopf-Einkommen in
den 80er Jahren, gemessen in Dollar, sehr niedrig, sogar niedriger als das von
Afrika. Das Pro-Kopf-Einkommen Chinas betrug die Hälfte dieser vier
afrikanischen Länder. Nach 40 Jahren raschen Wachstums hat China jetzt 800
Millionen Menschen aus der Armut geholt, und die Wirtschaft ist zur
zweitgrößten der Welt herangewachsen. Das Pro-Kopf-Einkommen ist mit derzeit
10.000 Dollar pro Kopf immer noch recht niedrig. Wie Afrika war auch China
jahrhundertelang in Armut gefangen. Daher hat die chinesische Staatsführung
einen starken Wunsch, aufzuholen.
Aber warum hat China mit der Entwicklungszusammenarbeit begonnen? Zum Teil
deshalb, weil die traditionelle Nord-Süd-Entwicklungszusammenarbeit, oder
Entwicklungshilfe, nicht effektiv ist. Obwohl seit den 60er Jahren vier
Billionen Dollar für Entwicklungshilfe ausgegeben wurden, sieht man immer noch
viele Länder in der Armutsfalle gefangen, und ihre Wirtschaft stagniert.
Chinas Entwicklungszusammenarbeit basiert auf einer Tradition aus dem
Konfuzianismus: Ren bedeutet Menschlichkeit, Wohlwollen, Altruismus und
Einfühlungsvermögen. Wir sind auch überzeugt, daß es besser ist, das Fischen
zu lehren, als Fische zu verteilen. Ausgehend von Chinas eigener
Entwicklungserfahrung können wir also Handel, Hilfe und Investitionen
kombinieren, um afrikanischen Ländern zu helfen. Durch Handel, Hilfe und
Investitionen kann China seine Wettbewerbsvorteile in drei Aspekten
nutzen:
- Erstens hat China einen komparativen Vorteil beim Aufbau der
Infrastruktur – Wasserkraft, Autobahnen und Eisenbahnen –, und das bei
niedrigeren Kosten dank der kostengünstigen Ingenieure und der
Größenvorteile.
- Zweitens hat China in 45 von 97 Teilsektoren des Warenhandels einen
komparativen Vorteil.
- Drittens haben aufstrebende asiatische Volkswirtschaften wie China
eine hohe Sparquote und ein geduldiges Kapital. Was ist geduldiges Kapital?
Geduldiges Kapital ist langfristiges Kapital mit einer Laufzeit von mehr als
zehn Jahren, das in die Entwicklung eines Landes investiert wird.
Quelle: China Africa Research Initiative
Abb. 2: Chinas Darlehen an Afrika
Abb. 3: Chinesische Investitionen in Afrika nach Wirtschaftssektoren
Abb. 4: Beispiele von China realisierter Projekte in Afrika: die Normalspurbahn Mombasa-Nairobi und die Maputo-Bay-Brücke in Mosambik [unten]
Quelle: China Global Investment Tracker, American Enterprise Institute
Quelle der Daten: UNCTAD
Abb. 5: Direktinvestitionen aus den BRICKS-Nationen im Ausland, 2000-2018 (Mrd.$)
Quelle: Justin Yifu Lin und Yan Wang, 2015
Abb. 6: Weltweite Investitionen:
Der Anteil der Entwicklungsländer an den weltweiten Investitionen wächst,
derjenige der entwickelten Länder sinkt
Quelle: Justin Yifu Lin und Yan Wang, 2015
Abb. 7: Vier Ebenen der Entwicklungsfinanzierung
Chinas Engagement in Afrika
Wie Sie sehen können, zeigt dieses Diagramm Chinas Darlehen an Afrika
(Abbildung 2). Eigentlich begann China mit der Darlehenskooperation und
-hilfe in den 1960er und 1970er Jahren. Die berühmte Tazara-Eisenbahn
[Tansania-Sambia-Bahn] wurde 1974 fertiggestellt. Im Laufe der vielen Jahre
hat China viele Ärzteteams und Ärzte in afrikanische Länder entsandt. Und nach
2000 haben chinesische Banken damit begonnen, Afrika Darlehen für den Ausbau
der Infrastruktur zu gewähren.
Wie Sie sehen können (Abbildung 3), ist die sektorale Verteilung der
chinesischen Investitionen in Afrika wie folgt: 33% werden in den
Verkehrssektor investiert, 33% in Energie, darunter Stromerzeugung, Stromnetze
und so weiter, 2% in die Landwirtschaft und ebenso viel in Technologie.
Diese Fotos zeigen einige berühmte Projekte, die von China umgesetzt wurden
(Abbildung 4). Eines davon ist die Normalspurbahn Mombasa-Nairobi in
Kenia, das andere die Maputo-Bay-Brücke in Mosambik, und das dritte ist die
mit chinesischem Geld errichtete Wanbao-Reisfarm in der Provinz Gaza in
Mosambik. Diese Projekte sind für afrikanische Länder recht vorteilhaft.
Die chinesische Führung schlug 2013 die „Belt and Road Initiative“ (Gürtel-
und Straßen-Initiative, BRI) vor. Ziel ist es, die Verbindungen zwischen den
Ländern durch umfassende Konsultationen, gemeinsame Bauvorhaben und gemeinsame
Vorteile zu verbessern.
China tätigte auch ausländische Direktinvestitionen (FDI) in afrikanischen
Ländern. Dieses Diagramm (Abbildung 5) zeigt, daß China bei den
ausländischen Direktinvestitionen unter den BRICS-Ländern führend ist, wobei
der Höhepunkt 2016 mit Auslandsinvestitionen in Höhe von 196 Mrd. US-Dollar
erreicht wird. In den letzten Jahren war sie rückläufig.
Viele Medien fragen: Wie viele Arbeitsplätze hat China geschaffen? Dazu
gibt es eine Studie von Ernest Young, aus der hervorgeht, daß China in diesem
Zeitraum 259 Projekte in Afrika durchgeführt hat. Die Zahl der Projekte ist
geringer, die Zahl der geschaffenen Arbeitsplätze jedoch höher als bei jedem
der oben genannten Länder, darunter die USA, Frankreich und das Vereinigte
Königreich. Zwischen 2014 und 2018 wurden insgesamt 137.000 Arbeitsplätze
geschaffen.
Wird sich die Finanzierungslücke in der Zukunft verringern? Die Antwort
lautet nein. Langfristiges Kapital nimmt tatsächlich ab. Wir denken, daß die
Entwicklungsfinanzierung „über Hilfe hinausgehen“ muß, indem sie Handel, Hilfe
und Investitionen kombiniert. Die Finanzierung wird weniger aus der
offiziellen Entwicklungshilfe und mehr aus anderen Finanzströmen kommen,
darunter OOF-ähnliche Darlehen [s.u.] und Kapitalbeteiligungen.
Dieses Diagramm (Abbildung 6) zeigt, daß der Anteil der
Entwicklungsländer an den weltweiten Investitionen im Jahr 2015 den Anteil der
Länder mit hohem Einkommen überholt hat. Es besteht jedoch nach wie vor ein
Mangel an langfristigem Kapital. Die weltweiten Direktinvestitionen sind
zurückgegangen.
Prof. Justin Lin und ich sind der Meinung, daß wir die Definition der
Entwicklungsfinanzierung erweitern müssen. Es gibt vier Ebenen dieser
Definition, wie Sie aus dieser Grafik (Abbildung 7) ersehen können:
- Die Kernschicht ist die offizielle Entwicklungshilfe, wie sie von der
OECD definiert wird – die ODA.
- Die zweite Schicht sind die anderen offiziellen Ströme (OOF),
einschließlich der Exportkredite.
- Die dritte Schicht sind OOF-ähnliche Kredite, einschließlich der
Kreditfinanzierung durch die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank [AIIB],
die CDB [China Development Bank], die EXIM-Bank und andere Entwicklungsbanken
wie die Weltbank.
- Und die vierte Ebene sind OOF-ähnliche Investitionen, die von Fonds,
einschließlich Staatsfonds, bereitgestellt werden. Dazu gehören der
China-Afrika-Entwicklungsfonds und der Seidenstraßenfonds sowie die CDC im
Vereinigten Königreich und die neu gegründete Development Finance Corporation
(DFC) in den USA.
Diese Definition ist also weiter gefaßt und umfassender.
Tragfähigkeit der Schulden
Die letzte Frage betrifft die Schuldentragfähigkeit. Wir sind der Ansicht,
daß der vom IWF verwendete Maßstab, Verschuldung im Verhältnis zum BIP, zu eng
und irreführend ist.
- Bei diesem Verhältnis wird nicht unterschieden, um welche Art von
Schulden es sich handelt – ob es inländische oder ausländische Schulden sind
oder ob sie auf US-Dollar oder Inlandswährung lauten.
- Zweitens, wie werden Schulden verwendet – zur Finanzierung des
Konsums, d.h. von Renten und Gehältern, oder zur Finanzierung von
Investitionen? Natürlich sind die Ergebnisse unterschiedlich.
- Drittens: Wie wird das BIP auf lange Sicht beeinflußt – schließlich
steht das BIP im Nenner? Wenn also das BIP-Wachstum nach den langfristigen
Investitionen steigt, sinkt das Verhältnis. Wir sind der Ansicht, daß man
beide Seiten der Bilanzen der Regierungen betrachten muß, einschließlich der
Aktiva und Passiva. Es ist das Nettovermögen des öffentlichen Sektors, das
zählt.
Quelle: IWF Fiscal Monitor, Oktober 2018
Abb. 8: Nicht das Verhältnis der Schulden zum BIP sollte als Kriterium für die
Tragfähigkeit der Schulden einer Regierung betrachtet werden, sondern das
Nettovermögen des öffentlichen Sektors (schwarze Punkte).
Quelle: Kratz et al, 2020, Rhodium Group

Abb. 9: Umstrukturierung der chinesischen Schulden nach Ergebnis und Jahr
Die IWF-Studie Managing Public Wealth aus dem Jahr 2018 untersuchte
sowohl die Aktiva als auch die Passiva der Regierungen, und sie kommt zu dem
Schluß, daß das „Vermögen des öffentlichen Sektors“ – die schwarzen Punkte in
der Grafik (Abbildung 8) – von Bedeutung ist. In diesem Diagramm stehen
der rote Balken für Verbindlichkeiten, der blaue Balken für nichtfinanzielle
Vermögenswerte und die schwarzen Punkte für das Nettovermögen. Wie Sie sehen
können, befinden sich die USA in der Mitte, mit nur wenig, kaum Vermögen.
China befindet sich auf der rechten Seite, an dritter Stelle. China hat das
größte Nettovermögen des öffentlichen Sektors, das dritthöchste Nettovermögen
unter diesen Ländern.
Gibt es also eine „Schuldenfalle“? Es gibt keine empirischen Belege für
eine sogenannte „Schuldenfallen-Diplomatie“. Im wesentlichen handelt es sich
bei der Infrastruktur, wie Wasserkraft, das Stromnetz sowie Straßen, Häfen und
Brücken, um Vermögenswerte des öffentlichen Sektors, die zur Schaffung von
Arbeitsplätzen und zur Generierung von Einnahmen genutzt werden können.
Chinesische Staatsbetriebe sind Inhaber von geduldigem Kapital, und andere
Studien enthalten keine Beweise für einen „Vermögensentzug“ – es gibt keine
Beweise für eine Schuldenfalle.
Vielmehr hat China beträchtliche Nachsicht und Flexibilität im Umgang mit
Schulden gezeigt.
Dieses Diagramm (Abbildung 9) zeigt die Umstrukturierung der
chinesischen Schulden nach Ergebnis und Jahr. Wie Sie sehen können, gab es bis
zur Finanzkrise 2008 mehrere Runden von Schuldenerlassen, China hat
afrikanischen Ländern Schulden erlassen. Nach der Finanzkrise von 2008 gab es
allerdings immer weniger Fälle von Schuldenerlassen, dafür aber mehr
Umschuldungen und Refinanzierungen. Gemäß dieser Studie gibt es mehr
Möglichkeiten der Umschuldung und Refinanzierung.
Abschließend möchte ich das chinesische Wort weiji verwenden, das
„Krise“ und „Chance“ bedeutet.
Die gegenwärtige Pandemiekrise kann zu einer stärker polarisierten und
fragmentierten Weltwirtschaft führen. Aber es gibt Möglichkeiten für
regionalen Handel und regionale Integration, wie die BRI und die EU, 16+1, die
Afrikanische Kontinentale Freihandelszone [AfCFTA] und RCEP für Asien. Wir
glauben, daß mehr Handel und Integration zu einer friedlicheren Welt führen
werden. Wir demonstrieren die Süd-Süd-Entwicklungszusammenarbeit, indem wir
den komparativen Vorteil jedes Partners nutzen, was gut für die
Industrialisierung und den Strukturwandel ist und für beide Seiten von Vorteil
ist. China lernt weiter, ein besserer Partner zu werden. Im Hinblick auf die
Schuldenkrise oder Schuldentragfähigkeit argumentieren wir, daß das
Nettovermögen der Regierung zählt, und China ist ein Anbieter von öffentlichem
Vermögen.
Es gibt mehrere Vorschläge für eine Umstrukturierung in Bezug auf die
Schuldenfrage:
- Erstens befürworten wir den Multilateralismus, und wir unterstützen
den Vorschlag, daß der IWF mehr Sonderziehungsrechte (SZR) ausgibt, da
Sonderziehungsrechte antizyklisch und bedingungslos sind.
- Zweitens befürworten wir mehr Notfall-Liquiditätskredite der MDBs
[multilateralen Entwicklungsbanken], darunter die Weltbank, die ADB
(Asiatische Entwicklungsbank) und die AIIB.
- Drittens befürworten wir maßgeschneiderte Lösungen von bilateralen
Gebern für unter Verschuldung leidende Länder.
- Viertens gibt es einen Vorschlag für einen Schulden-für-Klima-Swap,
aber darüber muß man diskutieren.
Im allgemeinen ist es für Entwicklungsländer wichtig zu wissen, was der
Staat besitzt, d.h. sein Vermögen, und was der Staat schuldet, d.h. die
Verbindlichkeiten; und diese Länder sollten ihre Fähigkeit zur Verwaltung von
Vermögen verbessern, um Arbeitsplätze und Einnahmen zu schaffen.
Ich danke Ihnen vielmals. Lassen Sie mich an dieser Stelle abbrechen, und
ich beantworte gerne Ihre Fragen.
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