Friedrich Schiller Denkmal
Friedrich Schiller



Hauptseite
       

Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Das jetzige Bildungssystem behindert die Entwicklung der Menschen

Von Dana Anex

Dana Anex ist Musiklehrerin in Chicago. Den folgenden Vortrag hielt sie am 15. Oktober in der Konferenz des Schiller-Instituts „Beendet den Krieg und stoppt den grünen Faschismus“.

Wie diejenigen von uns, die diese Konferenz verfolgen und an ihr teilnehmen, wissen, befinden wir uns in einer Phase des Imperialismus, in der die Produktionskapazitäten zerstört werden, um die Kontrolle über die Ressourcen in den Händen der globalen Elite zu konzentrieren. Teil dieses wirtschaftlichen Zerstörungsapparates ist das öffentliche Bildungssystem, das in seiner jetzigen Form die Fähigkeiten der breiten Masse der Menschen behindert. Es trennt die Eltern sieben oder mehr Stunden am Tag von ihren Kindern, entfremdet die Familien vom Bildungsprozeß, fördert in der Bevölkerung eine starke Abneigung gegen das Lernen und indoktriniert die Kinder, den Imperialismus zu verteidigen, solange er eine sozialliberale Fassade hat.

Bis zur Revolution müssen wir die Grenzen dessen, was im Rahmen der bürgerlichen öffentlichen Bildung möglich ist, durch den Lehrplan verschieben. Eltern, Arbeiter, Intellektuelle und Lehrer, die diese Probleme sehen, müssen sich zusammenschließen, um eine Lösung zu finden, beginnend mit der Einführung eines Lehrplans, der auf Lyndon LaRouches und Helga Zepp-LaRouches Konzept der klassischen Bildung beruht. Nach einem klassischen Lehrplan lernen die Schüler von klein auf, sich in ihrer Muttersprache durch Poesie auszudrücken, entwickeln ihre Neugier auf Problemlösungen durch das Studium von Geometrie und Physik und lassen sich durch klassische Musik auf einen kreativen Entdeckungsprozeß ein.

Ich bin klassische Musikerin und unterrichte klassische Geigen-, Bratschen- und Streichensemble-Klassen in außerschulischen Programmen an öffentlichen Schulen in Chicago. Ich habe auch als Aushilfslehrerin und Assistentin in Klassen während des regulären Schultages in vielen verschiedenen Stadtteilen mit vielen verschiedenen wirtschaftlichen Bedingungen gearbeitet.

Unerfülltes intellektuelles Potential

Überall habe ich ein tragisches Ausmaß an unerfülltem intellektuellem Potential unter den Schülern beobachtet. In den ärmeren Stadtteilen im Süden und Westen der Stadt ist die Alphabetisierungsrate in der ersten, zweiten und dritten Klasse sehr niedrig. Von einer Klasse mit 20 Zweitkläßlern, die ich einen Tag lang betreute, konnten vielleicht drei Schüler lesen. Dieselben drei Schüler konnten als einzige ohne Hilfe einstellige Zahlen addieren. In den meisten Schulen in diesen Teilen der Stadt gehören Fremdsprachen, Kunst oder Musik nicht zum Standardlehrplan. Es gibt praktisch keine Zeit zum Spielen, und die Schüler werden den ganzen Tag von Lehrern und Personal für die kleinsten Vergehen hart ausgeschimpft.

Die Schulen mit den schlechtesten Bedingungen sind weiße Flecken, es wäre relativ einfach, dort einen klassischen Lehrplan einzuführen, weil es eigentlich gar keinen nennenswerten Lehrplan gibt. Die unterbeschäftigte intellektuelle Klasse muß in den Dienst der arbeitenden Massen gestellt werden und sich durch diesen Prozeß selbst umerziehen.

Ich werde mich nun auf eine bestimmte Schule im äußersten Westen Chicagos konzentrieren, an der ich in einem außerschulischen Kurs für Schüler der vierten bis sechsten Klasse Streichinstrumente unterrichte. Das Programm findet an vier Tagen in der Woche jeweils knapp zwei Stunden statt.

An dieser Schule sind die Bedingungen relativ besser als an anderen, die ich kenne: Die meisten Schüler können in der dritten Klasse schon recht gut lesen und schreiben. Sie haben einige wunderbare Lehrer, die ihnen mit Respekt begegnen, und sie haben einen festen Musiklehrer, der einen sehr intelligenten und sympathischen Eindruck macht. Dennoch bleiben diese Schüler aus schulinternen sowie externen Gründen weit hinter ihren Möglichkeiten zurück.

Chicago ist stark segregiert, und die besonders unterentwickelten und gewalttätigen Gebiete, wie dieses, sind in der Regel mehrheitlich schwarz. Entlang der Hauptstraße, weniger als eine Viertelmeile von der Schule entfernt, in der ich unterrichte, sind vernagelte, heruntergekommene Gebäude und Dutzende von Menschen, die auf der Straße herumtorkeln oder herumliegen und unter Drogeneinfluß stehen. Ich sehe Eltern, die ihre Kinder auf dem Nachhauseweg von der Schule durch diese Szenerie von Not und Elend begleiten. Die hohe Rate an Gewaltverbrechen trifft sogar die Kinder im Schultag. Eine sehr intelligente und musikalisch begabte Viertkläßlerin klagte täglich über extreme Erschöpfung, weil in ihrer Straße nachts immer illegale Autorennen und Schießereien zu hören sind. Inmitten solcher häßlichen und gewalttätigen Bedingungen ist die Botschaft für diese Kinder, daß sie niemals Wohlstand, Sicherheit und Schönheit haben werden.

Ein Pilotprojekt

Dieses Jahr arbeite ich daran, einen Lehrplan für klassische Bildung in diesem außerschulischen Programm einzuführen, und ich werde die Fortschritte dokumentieren für diejenigen, die einen ähnlichen Lehrplan an ihren Schulen einführen möchten. Obwohl die Probleme, die wir im Bildungssystem beobachtet haben, nicht allein durch Änderungen des Lehrplans gelöst werden können, sehe ich schon in einem frühen Stadium der Umsetzung tiefgreifende Veränderungen bei meinen Schülern, insbesondere in Bezug auf ihre Selbstdisziplin, intellektuelle Neugier und Problemlösungsfähigkeiten.

Der klassische Lehrplan besteht aus drei großen Studienkategorien. Die erste bezeichne ich als „Repertoire und Poesie“, die zweite ist die „Praktische Musiktheorie“ – der Zweig der Musiktheorie, der sich mit der Entwicklung der notwendigen Fähigkeiten befaßt, um effektiver zu spielen, zu singen oder zu komponieren –, und die dritte ist die „Spekulative Musiktheorie“ – der Zweig der Musiktheorie, der sich mit den wissenschaftlichen und philosophischen Aspekten der Musik beschäftigt.

In dem Teil ihres Unterrichts, der dem Erlernen von Repertoire und Poesie gewidmet ist, lernen die Schüler, die Melodie der Ode an die Freude auf ihren Instrumenten zu spielen.

Ich nutze die Gelegenheit, um ihnen Paul Robesons Interpretation der Ode an die Freude vorzuspielen, in der er sowohl das deutsche Original als auch eine englische Übersetzung singt.1 Die Aufnahmen von Paul Robeson bieten eine Fülle von melodischem und poetischem Material für die Schüler, vor allem, wenn man bedenkt, daß er Lieder aus dem klassischen Repertoire, traditionelle amerikanische Lieder und Arbeitslieder aus der ganzen Welt interpretierte. Die Musik und der Text sind so einfach, daß die Kinder sie verstehen und nachahmen können, aber sie sind schön, bedeutungsvoll und werden auf höchstem musikalischen Niveau vorgetragen. Ich denke auch, daß es für die Schüler wichtig ist, diese Klassiker von einer schwarzen amerikanischen Stimme gesungen zu hören, denn die klassische Kultur, die wir hier entwickeln, wird nicht einfach von anderswo verpflanzt, sondern wird eine typisch amerikanische klassische Kultur sein.

Im Rahmen der praktischen Musiktheorie-Ausbildung arbeiten sie an der Entwicklung der Fähigkeiten, die sie für die Komposition und den Einsatz von Kontrapunkt benötigen. Derzeit lernen die Schüler, in einigen Dur-Tonarten zu schreiben und zu spielen und Intervalle zu erkennen. Ich lasse sie einige gängige kontrapunktische Muster spielen, die etwa seit der Zeit Mozarts in der Komposition verwendet wurden. Sobald sie ihre Fähigkeiten weiterentwickelt haben, sollen sie lernen, diese Muster zu erkennen, zu verwenden und in der Praxis zu vertiefen.

Heutzutage wird diese Art von Musik oft als „formelhaft“ verspottet, aber ich denke, das rührt von einem falschen Verständnis von Kreativität her. Lyndon LaRouche betonte, wie wichtig es für Kinder ist, im Kontrapunkt zu komponieren, weil sie dadurch lernen, wie wichtig Konventionen und Ordnung im kreativen Prozeß sind. Sowohl die klassische Kultur als auch die Populärkultur sind derzeit im Niedergang begriffen, gerade weil individualistische Störungen des kollektiven kreativen Schaffens massiv gefördert und angeregt werden. Statt dessen sollten wir die jüngere Generation ermutigen, in ihren kreativen Prozessen auf unsere zeitlosen Traditionen und Ideen zurückzugreifen.

Für ihre spekulative Musiktheorie werden sie die Erfahrungen der antiken Musiktheoretiker nachempfinden. Die spekulative Musiktheorie der Antike beruhte auf Experimenten mit den Eigenschaften einer schwingenden Saite. Es ist sogar für einen Anfänger möglich, die harmonischen Reihen auf einem Instrument zu spielen und zu hören, so daß die Schüler schon sehr früh in ihrer Ausbildung damit beginnen können, die Beziehung zwischen der Akustik und den vom Menschen erfundenen musikalischen Praktiken, wie den Konventionen der harmonischen Tonalität, zu verstehen, also die typische Harmonie und Struktur von Musik in Dur- und Molltonarten.

Mit dieser einfachen praktischen Tätigkeit beginnen sie zu lernen, Merkmale der natürlichen Welt in Hinsicht auf menschliche Wahrnehmung, Verständnis und kreative Tätigkeit zu analysieren. Durch diese Analyse können sie verstehen, daß zum Beispiel die Musik von Bach nicht einfach „ihm eines Tages eingefallen ist“. Sein Genie war zu einem großen Teil das Ergebnis jahrhundertelanger kreativer Entdeckungen.

Nachdem ich nun eine ganz bestimmte Sicht auf den derzeitigen Zustand des Bildungssystems und eine ganz bestimmte Reihe von Lösungen dargelegt habe, bin ich daran interessiert, daß andere ihre Sichtweise, ihre Lösungen und ihre Argumente darlegen. Auf dieser Grundlage können wir uns ein allgemeineres Bild von der Situation machen und unseren Weg nach vorn bestimmen.


Anmerkung

1. Siehe https://www.youtube.com/watch?v=_3DYdSOzw0U