Das jetzige Bildungssystem behindert die Entwicklung der Menschen
Von Dana Anex
Dana Anex ist Musiklehrerin in Chicago. Den folgenden Vortrag
hielt sie am 15. Oktober in der Konferenz des Schiller-Instituts „Beendet den
Krieg und stoppt den grünen Faschismus“.
Wie diejenigen von uns, die diese Konferenz verfolgen und an ihr
teilnehmen, wissen, befinden wir uns in einer Phase des Imperialismus, in der
die Produktionskapazitäten zerstört werden, um die Kontrolle über die
Ressourcen in den Händen der globalen Elite zu konzentrieren. Teil dieses
wirtschaftlichen Zerstörungsapparates ist das öffentliche Bildungssystem, das
in seiner jetzigen Form die Fähigkeiten der breiten Masse der Menschen
behindert. Es trennt die Eltern sieben oder mehr Stunden am Tag von ihren
Kindern, entfremdet die Familien vom Bildungsprozeß, fördert in der
Bevölkerung eine starke Abneigung gegen das Lernen und indoktriniert die
Kinder, den Imperialismus zu verteidigen, solange er eine sozialliberale
Fassade hat.
Bis zur Revolution müssen wir die Grenzen dessen, was im Rahmen der
bürgerlichen öffentlichen Bildung möglich ist, durch den Lehrplan verschieben.
Eltern, Arbeiter, Intellektuelle und Lehrer, die diese Probleme sehen, müssen
sich zusammenschließen, um eine Lösung zu finden, beginnend mit der Einführung
eines Lehrplans, der auf Lyndon LaRouches und Helga Zepp-LaRouches Konzept der
klassischen Bildung beruht. Nach einem klassischen Lehrplan lernen die Schüler
von klein auf, sich in ihrer Muttersprache durch Poesie auszudrücken,
entwickeln ihre Neugier auf Problemlösungen durch das Studium von Geometrie
und Physik und lassen sich durch klassische Musik auf einen kreativen
Entdeckungsprozeß ein.
Ich bin klassische Musikerin und unterrichte klassische Geigen-, Bratschen-
und Streichensemble-Klassen in außerschulischen Programmen an öffentlichen
Schulen in Chicago. Ich habe auch als Aushilfslehrerin und Assistentin in
Klassen während des regulären Schultages in vielen verschiedenen Stadtteilen
mit vielen verschiedenen wirtschaftlichen Bedingungen gearbeitet.
Unerfülltes intellektuelles Potential
Überall habe ich ein tragisches Ausmaß an unerfülltem intellektuellem
Potential unter den Schülern beobachtet. In den ärmeren Stadtteilen im Süden
und Westen der Stadt ist die Alphabetisierungsrate in der ersten, zweiten und
dritten Klasse sehr niedrig. Von einer Klasse mit 20 Zweitkläßlern, die ich
einen Tag lang betreute, konnten vielleicht drei Schüler lesen. Dieselben drei
Schüler konnten als einzige ohne Hilfe einstellige Zahlen addieren. In den
meisten Schulen in diesen Teilen der Stadt gehören Fremdsprachen, Kunst oder
Musik nicht zum Standardlehrplan. Es gibt praktisch keine Zeit zum Spielen,
und die Schüler werden den ganzen Tag von Lehrern und Personal für die
kleinsten Vergehen hart ausgeschimpft.
Die Schulen mit den schlechtesten Bedingungen sind weiße Flecken, es wäre
relativ einfach, dort einen klassischen Lehrplan einzuführen, weil es
eigentlich gar keinen nennenswerten Lehrplan gibt. Die unterbeschäftigte
intellektuelle Klasse muß in den Dienst der arbeitenden Massen gestellt werden
und sich durch diesen Prozeß selbst umerziehen.
Ich werde mich nun auf eine bestimmte Schule im äußersten Westen Chicagos
konzentrieren, an der ich in einem außerschulischen Kurs für Schüler der
vierten bis sechsten Klasse Streichinstrumente unterrichte. Das Programm
findet an vier Tagen in der Woche jeweils knapp zwei Stunden statt.
An dieser Schule sind die Bedingungen relativ besser als an anderen, die
ich kenne: Die meisten Schüler können in der dritten Klasse schon recht gut
lesen und schreiben. Sie haben einige wunderbare Lehrer, die ihnen mit Respekt
begegnen, und sie haben einen festen Musiklehrer, der einen sehr intelligenten
und sympathischen Eindruck macht. Dennoch bleiben diese Schüler aus
schulinternen sowie externen Gründen weit hinter ihren Möglichkeiten
zurück.
Chicago ist stark segregiert, und die besonders unterentwickelten und
gewalttätigen Gebiete, wie dieses, sind in der Regel mehrheitlich schwarz.
Entlang der Hauptstraße, weniger als eine Viertelmeile von der Schule
entfernt, in der ich unterrichte, sind vernagelte, heruntergekommene Gebäude
und Dutzende von Menschen, die auf der Straße herumtorkeln oder herumliegen
und unter Drogeneinfluß stehen. Ich sehe Eltern, die ihre Kinder auf dem
Nachhauseweg von der Schule durch diese Szenerie von Not und Elend begleiten.
Die hohe Rate an Gewaltverbrechen trifft sogar die Kinder im Schultag. Eine
sehr intelligente und musikalisch begabte Viertkläßlerin klagte täglich über
extreme Erschöpfung, weil in ihrer Straße nachts immer illegale Autorennen und
Schießereien zu hören sind. Inmitten solcher häßlichen und gewalttätigen
Bedingungen ist die Botschaft für diese Kinder, daß sie niemals Wohlstand,
Sicherheit und Schönheit haben werden.
Ein Pilotprojekt
Dieses Jahr arbeite ich daran, einen Lehrplan für klassische Bildung in
diesem außerschulischen Programm einzuführen, und ich werde die Fortschritte
dokumentieren für diejenigen, die einen ähnlichen Lehrplan an ihren Schulen
einführen möchten. Obwohl die Probleme, die wir im Bildungssystem beobachtet
haben, nicht allein durch Änderungen des Lehrplans gelöst werden können, sehe
ich schon in einem frühen Stadium der Umsetzung tiefgreifende Veränderungen
bei meinen Schülern, insbesondere in Bezug auf ihre Selbstdisziplin,
intellektuelle Neugier und Problemlösungsfähigkeiten.
Der klassische Lehrplan besteht aus drei großen Studienkategorien. Die
erste bezeichne ich als „Repertoire und Poesie“, die zweite ist die
„Praktische Musiktheorie“ – der Zweig der Musiktheorie, der sich mit der
Entwicklung der notwendigen Fähigkeiten befaßt, um effektiver zu spielen, zu
singen oder zu komponieren –, und die dritte ist die „Spekulative
Musiktheorie“ – der Zweig der Musiktheorie, der sich mit den
wissenschaftlichen und philosophischen Aspekten der Musik beschäftigt.
In dem Teil ihres Unterrichts, der dem Erlernen von Repertoire und Poesie
gewidmet ist, lernen die Schüler, die Melodie der Ode an die Freude auf
ihren Instrumenten zu spielen.
Ich nutze die Gelegenheit, um ihnen Paul Robesons Interpretation der Ode
an die Freude vorzuspielen, in der er sowohl das deutsche Original als
auch eine englische Übersetzung singt.1 Die Aufnahmen von Paul
Robeson bieten eine Fülle von melodischem und poetischem Material für die
Schüler, vor allem, wenn man bedenkt, daß er Lieder aus dem klassischen
Repertoire, traditionelle amerikanische Lieder und Arbeitslieder aus der
ganzen Welt interpretierte. Die Musik und der Text sind so einfach, daß die
Kinder sie verstehen und nachahmen können, aber sie sind schön, bedeutungsvoll
und werden auf höchstem musikalischen Niveau vorgetragen. Ich denke auch, daß
es für die Schüler wichtig ist, diese Klassiker von einer schwarzen
amerikanischen Stimme gesungen zu hören, denn die klassische Kultur, die wir
hier entwickeln, wird nicht einfach von anderswo verpflanzt, sondern wird eine
typisch amerikanische klassische Kultur sein.
Im Rahmen der praktischen Musiktheorie-Ausbildung arbeiten sie an der
Entwicklung der Fähigkeiten, die sie für die Komposition und den Einsatz von
Kontrapunkt benötigen. Derzeit lernen die Schüler, in einigen Dur-Tonarten zu
schreiben und zu spielen und Intervalle zu erkennen. Ich lasse sie einige
gängige kontrapunktische Muster spielen, die etwa seit der Zeit Mozarts in der
Komposition verwendet wurden. Sobald sie ihre Fähigkeiten weiterentwickelt
haben, sollen sie lernen, diese Muster zu erkennen, zu verwenden und in der
Praxis zu vertiefen.
Heutzutage wird diese Art von Musik oft als „formelhaft“ verspottet, aber
ich denke, das rührt von einem falschen Verständnis von Kreativität her.
Lyndon LaRouche betonte, wie wichtig es für Kinder ist, im Kontrapunkt zu
komponieren, weil sie dadurch lernen, wie wichtig Konventionen und Ordnung im
kreativen Prozeß sind. Sowohl die klassische Kultur als auch die Populärkultur
sind derzeit im Niedergang begriffen, gerade weil individualistische Störungen
des kollektiven kreativen Schaffens massiv gefördert und angeregt werden.
Statt dessen sollten wir die jüngere Generation ermutigen, in ihren kreativen
Prozessen auf unsere zeitlosen Traditionen und Ideen zurückzugreifen.
Für ihre spekulative Musiktheorie werden sie die Erfahrungen der antiken
Musiktheoretiker nachempfinden. Die spekulative Musiktheorie der Antike
beruhte auf Experimenten mit den Eigenschaften einer schwingenden Saite. Es
ist sogar für einen Anfänger möglich, die harmonischen Reihen auf einem
Instrument zu spielen und zu hören, so daß die Schüler schon sehr früh in
ihrer Ausbildung damit beginnen können, die Beziehung zwischen der Akustik und
den vom Menschen erfundenen musikalischen Praktiken, wie den Konventionen der
harmonischen Tonalität, zu verstehen, also die typische Harmonie und Struktur
von Musik in Dur- und Molltonarten.
Mit dieser einfachen praktischen Tätigkeit beginnen sie zu lernen, Merkmale
der natürlichen Welt in Hinsicht auf menschliche Wahrnehmung, Verständnis und
kreative Tätigkeit zu analysieren. Durch diese Analyse können sie verstehen,
daß zum Beispiel die Musik von Bach nicht einfach „ihm eines Tages eingefallen
ist“. Sein Genie war zu einem großen Teil das Ergebnis jahrhundertelanger
kreativer Entdeckungen.
Nachdem ich nun eine ganz bestimmte Sicht auf den derzeitigen Zustand des
Bildungssystems und eine ganz bestimmte Reihe von Lösungen dargelegt habe, bin
ich daran interessiert, daß andere ihre Sichtweise, ihre Lösungen und ihre
Argumente darlegen. Auf dieser Grundlage können wir uns ein allgemeineres Bild
von der Situation machen und unseren Weg nach vorn bestimmen.
Anmerkung
1. Siehe https://www.youtube.com/watch?v=_3DYdSOzw0U
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