Aussichten für den Aufbau einer neuen internationalen
Sicherheitsarchitektur
Von Anatoli Antonow,
Botschafter der Russischen Föderation in den Vereinigten Staaten
Der russische Botschafter in den Vereinigten Staaten, Anatoli
Antonow, hielt in der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 9. April
den folgenden Vortrag.
Ich möchte dem Schiller-Institut und seiner Vorsitzenden Helga Zepp-LaRouche
für die Gelegenheit danken, meine Sicht der Perspektiven für die Schaffung einer
neuen Sicherheitsarchitektur darzulegen.
In den letzten hundert Jahren wurde das System der regionalen und globalen
Sicherheit dreimal umgestaltet. Nach dem Ersten Weltkrieg schufen die
siegreichen Länder eine europäische Ordnung, die jedoch nur 20 Jahre Bestand
hatte.
Der Zweite Weltkrieg führte zur Etablierung eines Systems internationaler
Beziehungen, welches das Gleichgewicht der Kräfte widerspiegelte und auf der
maximalen Berücksichtigung nationaler Interessen beruhte. Seine Kernelemente,
die alle Nationen vereinten, waren vielleicht die Gründung der UNO mit der
grundlegenden Rolle des Sicherheitsrats und der Rückgriff auf das
Völkerrecht.
Dennoch spaltete der Kalte Krieg die Welt. Es wurde ein psychologischer,
ideologischer und wirtschaftlicher Krieg gegen die Sowjetunion geführt. Wir
wurden als „Reich des Bösen“ und als Quelle ständiger globaler Spannungen
gebrandmarkt. Die Aufgabe des Westens bestand darin, die Entwicklung der
Sowjetunion zu unterdrücken, den Transfer von Spitzentechnologien zu verhindern
und unser Land zu einer Nation zweiten Ranges zu machen.
Der dritte Versuch, eine Weltordnung zu schaffen, wurde nach dem Zerfall der
UdSSR unternommen. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten erklärten sich
zu den Gewinnern des Kalten Krieges und begannen, die internationalen
Beziehungen so umzugestalten, daß sie ausschließlich ihren Interessen
entsprachen. In der Tat wurde zu diesem Zeitpunkt die Grundlage für die
berüchtigte „regelbasierte Ordnung“ geschaffen. In diesem neuen Umfeld wurde den
Vereinten Nationen und anderen internationalen Institutionen eine immer
geringere Rolle zugewiesen, sofern sie nicht von Washington beherrscht
wurden.
Aber selbst in einer solchen Realität versuchte das neue Rußland, dem Westen
auf halbem Wege entgegenzukommen. Wir waren übermäßig offen und gutgläubig. Wir
schlugen neue Kooperations- und Interaktionsprojekte vor. Wir zeigten uns
kompromißbereit und machten in einigen Fällen unverzeihliche Zugeständnisse. Der
Westen nutzte diese konstruktive Haltung zynisch aus. Heuchlerisch versuchte er
herauszustellen, daß Rußlands Platz von nun an am Rande der „neuen Weltordnung“
sei.
Der Warschauer Pakt ist verschwunden, aber die NATO wollte sich nicht
auflösen. Zudem hat die Welt in den letzten Jahren fünf Erweiterungswellen des
Bündnisses erlebt. Der Militärapparat des Bündnisses steht in der Tat vor
unserer Haustür.
In letzter Zeit hat die militärische Aktivität der NATO erheblich zugenommen.
Jährlich finden etwa 40 große Militärübungen in der Nähe der russischen Grenzen
statt. Die Streitkräfte des Nordatlantikbündnisses erkunden das Schwarze Meer
und die Ostsee.
Übrigens: Nach jüngsten Schätzungen des Stockholmer
Friedensforschungsinstituts übersteigen die Militärausgaben der NATO-Länder
zusammengenommen den Verteidigungshaushalt Rußlands um mindestens das
25-fache.
Seit Jahrzehnten demontiert der Westen kaltblütig das nach dem Zweiten
Weltkrieg entwickelte kollektive Sicherheitssystem. Wir haben wichtige globale
Sicherheitsabkommen verloren: den ABM-Vertrag, den INF-Vertrag und den Vertrag
über den Offenen Himmel. Das einzige Abkommen, das heute noch besteht, ist New
START, das weiterhin den nationalen Interessen Rußlands und der Vereinigten
Staaten entspricht. Es ist der „Goldstandard“ für strategische Stabilität, der
bewahrt werden muß.
Die russische Seite hält die Bemühungen der NATO-Länder, das Territorium der
Ukraine und Georgiens militärisch zu erschließen und ein Netz amerikanischer
Biolabore entlang unserer Grenzen einzurichten, für völlig inakzeptabel.
Die Situation ist extrem gefährlich geworden. Wir haben wiederholt gesagt,
daß jedes System der europäischen Sicherheit die nationalen Interessen aller
Staaten berücksichtigen muß, natürlich einschließlich Rußlands. Unser Land kann
nicht passiver Gegenstand irgendwelcher Phantom-Verteidigungsprojekte sein. Wir
müssen eine gleichberechtigte Partei der europäischen und globalen Sicherheit
sein, mit vollem Stimmrecht. Rußland hat nie auf einseitigen Vorteilen
bestanden. Alles, was wir gefordert haben, war die Achtung und Anerkennung der
nationalen Interessen Rußlands.
Ende letzten Jahres hat unser Land konkrete Vorschläge zur Korrektur der
ungerechten Weltordnung unterbreitet. Unsere Ideen wurden in zwei Entwürfen von
Verträgen mit den Vereinigten Staaten und der NATO zusammengefaßt. Im
wesentlichen haben wir eine friedliche Initiative vorgeschlagen, die unsere
Vision einer Sicherheitsarchitektur bietet.
Diese Entwürfe wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie umfaßten
Themen wie die Nichterweiterung der NATO, die Nichtstationierung von
Waffensystemen, die eine Bedrohung für die Russische Föderation darstellen, in
der Nähe unserer Grenzen, ein Moratorium auf die Stationierung von INF-Raketen
sowie spezifische Initiativen zur Verbesserung der Vorhersehbarkeit und
Reduzierung gefährlicher militärischer Aktivitäten. Unsere wichtigsten
Vorschläge wurden jedoch abgelehnt.
Politiker, die versuchen, das ganze Thema auf die Krise in der Ukraine zu
reduzieren, ignorieren die Ursprünge und führen die Diskussion in eine
Sackgasse. Sie betrachten die Situation oberflächlich und lassen die eigentliche
Ursache der Ereignisse außer acht. Nach dieser Logik könnte man Rußland –
zusammen mit den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich – die
Besetzung Nazideutschlands im Jahr 1945 vorwerfen, das so viel Böses getan und
der ganzen Welt so viel Leid zugefügt hat. Allein die Sowjetunion hat in diesem
Krieg 27 Millionen Menschen verloren.
Heute ist es äußerst wichtig, die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der
Ukraine zu erreichen. Es gilt, den atomwaffenfreien Status Kiews und sein
Bekenntnis zu internationalen Abkommen über die Nichtverbreitung von
Massenvernichtungswaffen zu festigen. Wir müssen alles tun, um die Aushöhlung
des Atomwaffensperrvertrags zu verhindern. Vom ukrainischen Territorium darf
keine Bedrohung für die Russische Föderation ausgehen. Das ist das Ziel unserer
besonderen Militäroperation.
Es ist äußerst wichtig, daß die westlichen Länder damit aufhören, Öl ins
Feuer zu gießen, indem sie das Regime in Kiew mit Waffen versorgen. Darüber
hinaus müssen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten die Ukraine dringend
auffordern, das humanitäre Völkerrecht zu achten. Wir werden die Erschießung von
Zivilisten sowie die Tötung und Folterung gefangener russischer Soldaten niemals
dulden.
Ich möchte betonen, daß der Verbreitung von Fake News, welche die
große Aufgabe des russischen Militärs in Mißkredit bringen, unverzüglich ein
Ende gesetzt werden muß. Ein eklatantes Beispiel sind die Verleumdungen gegen
uns in Bezug auf die Situation in Butscha. Inszenierte Szenen, die die Wahrheit
verzerren, dürfen nicht hingenommen werden.
Unser Land setzt sich für dringende Maßnahmen auf der internationalen Bühne
ein. Das Prinzip der gleichen und unteilbaren Sicherheit muß wiederhergestellt
werden. Es bedeutet, daß kein Staat das Recht hat, seine Sicherheit auf Kosten
der Sicherheit anderer zu stärken. Wenn der politische Wille vorhanden ist, kann
dies durch die Entwicklung ernsthafter langfristiger rechtlicher Garantien
leicht erreicht werden.
Wir betonen die Notwendigkeit, das Völkerrecht zu stärken und die Rolle der
Vereinten Nationen und ihres wichtigsten Organs – des Sicherheitsrats – zu
festigen.
Die russischen Vorschläge verletzen nicht die Sicherheit der NATO-Länder. Im
Gegenteil, sie schaffen die Voraussetzungen für eine Deeskalation in Europa, die
Wiederherstellung des Vertrauens und die Intensivierung der Interaktion zur
Bewältigung globaler Herausforderungen wie der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie,
der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln, dem
Wiederaufbau der Volkswirtschaften und der Lösung ernster Klimafragen.
Abschließend möchte ich an die Ideen eines amerikanischen Staatsmannes, des
ehemaligen Außenministers Henry Kissinger, erinnern. In seinem Buch
Diplomatie sagte er das Scheitern des sogenannten Wilson-Modells der
Außenpolitik über die „Verbreitung der Demokratie“ voraus. Ich darf zitieren:
„Wie mächtig Amerika auch sein mag, kein Land hat die Fähigkeit, dem Rest der
Menschheit alle seine Präferenzen aufzuzwingen... Amerika wird lernen müssen, in
einem System des Mächtegleichgewichts zu operieren...“
Kissinger sagte auch: „Die russisch-amerikanischen Beziehungen brauchen
dringend einen ernsthaften Dialog über außenpolitische Fragen..., der auf der
gegenseitigen Achtung der nationalen Interessen der jeweils anderen Seite
beruht.“
Lassen Sie mich Ihnen versichern, daß unser Land immer offen für einen
solchen Dialog ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
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