Die geostrategischen Hintergründe des US-Engagements in Afghanistan
Von Dr. Matin Baraki
Dr. Matin Baraki vom Zentrum für Nah- und Mitteloststudien am
Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg berichtete am
17. Januar im Internetseminar des Schiller-Instituts aus afghanischer Sicht über
die jahrzehntelangen Leiden des Landes durch geopolitisch motivierte
militärische Interventionen ausländischer Mächte. Das Video der Veranstaltung
finden Sie auf der Internetseite des Schiller-Instituts unter https://schillerinstitute.com/blog/2022/01/16.
Ja, vielen Dank! Schönen Abend zusammen, ich bedanke mich ganz herzlich, daß
ich mitdiskutieren und teilnehmen darf. Ich sehe meine Aufgabe darin, die
geostrategischen Hintergründe des Engagements der Vereinigten Staaten in
Afghanistan und auch in der NATO darzulegen.
Afghanistan war immer ein armes Land, und das einzige, was dieses Land hat,
war immer seine geostrategische Bedeutung – von der Antike angefangen bis heute.
Alexander der Große, der nach Indien wollte, zog über Afghanistan. Die Briten im
19. Jahrhundert wollten Afghanistan besetzt halten, um die Region des Mittleren
Ostens zu kontrollieren. Die Sowjetunion hat interveniert, 1979, auch unter dem
Gesichtspunkt der geostrategischen Bedeutung. Und auch die Vereinigten Staaten
haben unter diesem Aspekt in Afghanistan militärisch interveniert.
Jetzt ist die Frage: Was ist eigentlich in Afghanistan passiert, daß die Lage
so ist, wie wir es heute erleben?
1978 haben Offiziere in der afghanische Armee einen Aufstand gemacht, und
eine Partei, die Herr [Graham] Fuller als Kommunisten bezeichnet, ist an die
Macht gekommen. Aber diese Partei war keine kommunistische Partei, die haben
sich auch nie Kommunisten genannt, sondern das ist eine Erfindung der CIA; die
CIA hat die Partei als Kommunisten eingestuft. Dadurch konnte man die Leute
mobilisieren, die Afghanen mobilisieren und sagen: Hier sind diese Kommunisten,
euer Glaube oder Religion, der Islam, ist in Gefahr. Dafür hat [Zbigniew]
Brzezinski gesagt, wir sollten die Mudschaheddin erfinden. Brzezinski ist der
Erfinder der Mudschaheddin.
Was haben diese sogenannten Kommunisten machen wollen? Afghanistan war sehr
rückständig, unter feudalistischen Verhältnissen haben die Menschen gelebt, und
sie haben gesagt, wir wollen das feudalistische System reformieren. Sie wollten
eine Bodenreform durchführen. Über 90 Prozent der Menschen konnten nicht lesen
und schreiben, sie wollten den Menschen das Lesen und Schreiben beibringen.
Afghanistan ist ein islamisches Land. Die Männer dürfen vier Frauen haben. Diese
Regierung sagte: Jetzt machen wir das nicht mehr, ab heute ist es verboten,
Polygamie ist verboten.
Henry Kissinger sagte: Wir müssen aufpassen, was in Afghanistan passiert.
Wenn Afghanistan Schule macht, dann wird die gesamte Region revolutioniert, dann
ist unser Öl in Gefahr.
Daher hat man die Mudschaheddin unterstützt. Jedes Jahr wurden 65.000 Tonnen
Waffen nach Pakistan geschickt, damit die afghanischen Mudschaheddin gegen die
afghanische Regierung kämpfen. Aus 50 islamischen Ländern, aus den arabischen
Ländern wurden Mudschaheddin nach Pakistan gebracht, und diese Leute haben dann
Al-Kaida gegründet, mit der Unterstützung der CIA. Osama bin Laden war eng
befreundet mit der Familie Bush, er hat für sie in den USA sogar Häuser
gebaut.
Als die afghanische Regierung gemerkt hat, daß die Gefahr besteht, daß sie
gestürzt werden, hat sie mit der Sowjetunion einen Freundschafts- und
Beistandsvertrag geschlossen, im Dezember 1978. Und es bestand die Gefahr – ich
habe Dokumente, die habe ich auch veröffentlicht –, daß von Pakistan aus
Mudschaheddin mit Hubschrauber nach Kabul gebracht werden und mit Fallschirmen
abspringen sollten, um die afghanische Regierung zu stürzen.
Ich habe Dokumente. Nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war, habe ich
Dokumente aus dem Archiv der Kommunistischen Partei der Sowjetunion erhalten,
daß die afghanische Regierung insgesamt 21 Mal die Sowjetunion um Militärhilfe
gebeten hat. Das letzte Mal, die letzte Anfrage, war am 17. Dezember 1979. Und
als dann die Gefahr bestand, daß die Regierung gestürzt würde, hat die
Sowjetunion militärisch interveniert.
Brzezinski ist gefragt worden, ob die USA, also die CIA, die Mudschaheddin
unterstützt haben. Er sagte: Ja, wir haben sie unterstützt, und ich habe Jimmy
Carter gesagt, wenn wir das tun, dann wird möglicherweise die Sowjetunion
intervenieren. Wir haben die Sowjetunion nicht aufgefordert, zu intervenieren,
aber die Möglichkeit, daß sie es tun, haben wir wissentlich erhöht. Wir wollten,
daß die Sowjetunion interveniert.
Als dann die Sowjetunion intervenierte, wurde der Afghanistan-Konflikt
internationalisiert. Bis Gorbatschow an die Macht kam, hat die Sowjetunion
diesen Krieg weitergeführt, und die Mudschaheddin wurden von den USA, anderen
NATO-Ländern und arabischen Ländern unterstützt.
Als Gorbatschow in der Sowjetunion die Macht übernommen hat, kam es in Genf
zu Verhandlungen zwischen Pakistan und Afghanistan; die Sowjetunion und die USA
waren Garantiemächte. Die haben beschlossen, die sowjetische Armee aus
Afghanistan abzuziehen. Die Sowjetunion und USA haben sich verpflichtet, ihre
jeweiligen Partner nicht mehr zu unterstützen. Die Sowjetunion hat ihre Armee
aus Afghanistan abgezogen, aber die USA haben weiter die Mudschaheddin
unterstützt.
Mohammed Nadschibullah wollte das Land verlassen und flüchtete in die
UN-Vertretung in Kabul, und als die Taliban nach Afghanistan kamen, haben sie
ihn umgebracht. Die Nachfolger von Nadschibullah haben die Macht an die
Mudschaheddin übergeben.
Ja, die Afghanen haben gesagt, das ist sehr schön, die Sowjets sind weg. Die
linke, pro-sowjetische Regierung ist weg, und jetzt sind unsere Brüder,
die Mudschaheddin gekommen, jetzt wird alles gut.
Aber was nicht gut geworden ist, das war Afghanistan. Die Mudschaheddin –
sechs Gruppen aus Iran, sechs Gruppen aus Pakistan – sind gekommen, aber sie
haben nicht gemeinsam regiert, sondern gegeneinander gekämpft. In Kabul wurden
50.000 Menschen umgebracht. Kabul wurde so zerstört wie die großen deutschen
Städte im Zweiten Weltkrieg.
Und irgendwann war dann die Sowjetunion nicht mehr da. Und die Firma UNOCAL –
ein Energiekonzern in den USA, Dick Cheney war im Aufsichtsrat von UNOCAL – hat
gesagt: Wir wollen jetzt die Gas- und Ölreserven in Mittelasien und im Kaukasus
ausbeuten. Sie wollten diese Rohstoffe von Zentralasien durch Pipelines nach
Südasien ausführen.
Die Mudschaheddin haben weiter Krieg geführt. Sie sind eingeladen worden zum
Auswärtigen Ausschuß des US-Kongresses. Man hat ihnen gesagt, sie sollten mit
dem Krieg aufhören: Ihr könnt davon auch profitieren. Dann könnt ihr Geld
bekommen von uns. Da haben sie gesagt: Ja, wir beenden den Krieg.
Aber sie haben den Krieg fortgesetzt. Da hat die CIA gesagt, wir haben doch
die Taliban als Reserve, wir schicken die Taliban nach Afghanistan, die sollen
die Mudschaheddin vertreiben. Und die Taliban sind hingegangen, und zuletzt
haben sie 90 Prozent des Landes unter Kontrolle bekommen. Aber der Krieg hat
nicht aufgehört. Deswegen konnte die Firma UNOCAL diese Pipeline nicht
durchziehen.
Dann sagte Präsident Clinton, wir wollen einen Krieg gegen die Taliban, aber
die Russen müssen das akzeptieren. Die mittelasiatischen Republiken sollen ihre
militärische Infrastruktur zur Verfügung stellen. Aber die Länder haben das
nicht gemacht. Das war in der Endphase der Regierung Clinton.
Das war Bestandteil der Strategie von Brzezinski, der nach dem Ende der
Sowjetunion die Idee hatte, die einzige Weltmacht nach dem Ende der Sowjetunion
sind die USA: Wir wollen die Politik in dieser Region bestimmen. Das war Teil
dieser Strategie.
Danach hat die Bush-Administration die Greater Middle East Strategie
entwickelt, und im Rahmen dieser Strategie haben sie auf einen Anlaß gewartet,
um diese Strategie umzusetzen. Dieser Anlaß war dann der 11. September [2001].
Und wir wissen, daß die USA dann den Krieg begonnen haben. Sie haben 20 Jahre
lang einen Krieg geführt, der uns nichts gebracht hat, dieser Krieg hat nur
Zerstörung gebracht. Viele Amerikaner sind gestorben, Afghanen sind gestorben,
er hat die NATO-Länder viele Milliarden, Billionen von Dollar gekostet.
Welche Faktoren haben die Rolle gespielt, daß die USA aus Afghanistan
abgezogen sind? Das würde ich so erklären:
Das erste war, der Krieg wurde zu teuer.
Zweitens hat schon Obama die Strategie geändert, er sagte, der Pazifik ist
für uns jetzt wichtiger als Nahen Osten, die künftige Weltpolitik wird am
Pazifik bestimmt. Wir müssen schauen, daß wir, wenn wir China nicht besiegen
können, China zumindest stoppen.
Obama hat das nicht umgesetzt, aber Trump hat das umgesetzt. Er hat mit den
Taliban Gespräche geführt und ist zu einem Ergebnis gekommen, daß die US-Armee
aus Afghanistan abgezogen werden soll. Die USA sind aus Afghanistan ungeordnet
abgezogen und haben ungeordnete Verhältnisse hinterlassen. Dann haben sie dem
afghanischen Volk als Geschenk die Taliban überreicht, und jetzt muß das
afghanische Volk mit diesen Taliban fertig werden.
Ja, und was machen die USA jetzt? Sie nehmen Rache. Anstatt die Taliban zu
bestrafen, bestrafen sie das afghanische Volk. Darüber haben andere Kolleginnen
und Kollegen gesprochen. Was sie machen, ist eigentlich eine Bestrafung des
Volkes, das wird ermordet und verhungert. Ich höre hier auf und danke Ihnen ganz
herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
|