Der West-Ost-Konflikt: Eine Inszenierung
Von Wolfgang Bittner
Wolfgang Bittner ist promovierter Jurist und
erfolgreicher Autor. In der Internetkonferenz des Schiller-Instituts hielt am
18. Juni 2022 er den folgenden Vortrag.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Deutschland als europäischer
Brückenkopf der USA gegen die Sowjetunion in Stellung gebracht und nach deren
Auflösung gegen Rußland.
Um zu begreifen, was sich heute geopolitisch abspielt und warum Deutschland
in besonderer Weise betroffen ist, muß man dreierlei wissen:
Erstens, daß Deutschland bis heute von den Alliierten des Zweiten
Weltkriegs – mit Ausnahme Rußlands – ein Friedensvertrag verweigert worden
ist. Theoretisch befindet sich Deutschland also immer noch im Krieg, denn es
wurde 1945 lediglich ein Waffenstillstand vereinbart. Das dies so ist, geht
auch aus der sogenannten Feindstaatenklausel nach Artikeln 53 und 107 der
Charta der Vereinten Nationen hervor, wonach Deutschland gegenüber den Gegnern
des Zweiten Weltkriegs immer noch ein Feindstaat ist. Angeblich hat das keine
Bewandtnis mehr, aber wenn dem so wäre, hätte dieser Passus schon lange
gestrichen werden können. Die Feindstaatenklausel besagt, daß Zwangsmaßnahmen
ohne besondere Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat verhängt werden
könnten, falls Deutschland erneut eine aggressive Politik verfolgen würde, was
gegebenenfalls militärische Interventionen einschließt.
Zwar wurde Deutschland durch den Vereinigungsvertrag von 1990 (2+4-Vertrag)
„volle Souveränität“ zugesprochen, aber diese Vereinbarung wurde durch
Zusatzverträge, zum Beispiel über Truppenstationierungen und militärische
Zusammenarbeit, wieder relativiert.
Wenn man diese Tatsachen hinsichtlich der geopolitischen Situation, in der
wir uns befinden, bedenkt, wird vieles klarer: Washington hat erhebliche
Möglichkeiten, Druck auszuüben und auf Entscheidungen der deutschen Regierung
einzuwirken, was ständig zu beobachten ist. Anläßlich des Antrittsbesuchs von
Kanzler Olaf Scholz am 8. Februar 2022 in Washington erklärte US-Präsident
Joseph Biden einfach, die Pipeline Nord Stream 2 werde nicht in Betrieb
genommen.
Zweitens muß man wissen, daß Deutschland nach wie vor ein besetztes
Land ist. Kaum bekannt ist, daß die USA neben kleineren Militärbasen über elf
große Hauptstützpunkte auf dem Territorium Deutschlands verfügen. In Büchel in
Rheinland-Pfalz sind Atomwaffen stationiert, und der Luftwaffenstützpunkt
Ramstein ist die größte Militärbasis der US-Luftwaffe außerhalb der USA. Dort
befindet sich die Kommandozentrale der Luftstreitkräfte der NATO, von Ramstein
aus überwacht die NATO die Raketenabwehr des Bündnisses, und von dort aus
steuern die USA den weltweiten Einsatz von Kampfdrohnen. Außerdem ist
Deutschland ein Zentrum der US-Spionage.
Hinzu kommt, daß die USA die BRD seit 1945 mit mehr als hundert sogenannten
Thinktanks, also mit Netzwerken überzogen haben, die US-amerikanische
Interessen vertreten. Fast alle führenden Politiker und Journalisten sind
Mitglieder dieser außerordentlich einflußreichen, gut finanzierten
Organisationen, von denen die Atlantik-Brücke wohl die bekannteste ist.
Außerdem sind viele dieser Einflußpersonen in den USA in Lehrgängen geschult
worden.
Drittens muß man wissen, daß die USA seit mehr als einem Jahrhundert
eine Kooperation zwischen Deutschland und Rußland systematisch verhindern. Das
besagt auch eine Rede des US-Sicherheitsexperten George Friedman, ich
zitiere:
„Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts,
im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg, waren die Beziehungen
zwischen Deutschland und Rußland. Weil sie vereint die einzige Macht sind, die
unsere Vormachtstellung bedrohen kann. Unser Hauptziel war sicherzustellen,
daß dieser Fall nicht eintritt.“
Diese Politik wird – im Grunde schon seit der Gründung des Deutschen
Reiches 1871 – bis in die Gegenwart fortgeführt. Friedman begründet das wie
folgt:
„Für die Vereinigten Staaten ist die Hauptsorge, daß ... deutsches Kapital
und deutsche Technologie sich mit russischen Rohstoff-Ressourcen und
russischer Arbeitskraft zu einer einzigartigen Kombination verbinden…“
Um das zu verhindern, haben die USA zwischen Westeuropa und Rußland einen
waffenstarrenden Korridor geschaffen und Rußland isoliert.
2001 war es noch möglich, daß der russische Präsident Wladimir Putin eine
Rede vor dem Deutschen Bundestag hielt. Er trat damals und wiederholt für
einen gemeinsamen Wirtschafts- und Kulturraum von Wladiwostok bis Lissabon
ein. Er sagte – und auch das muß zitiert werden:
„Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den
Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, daß Europa seinen Ruf als
mächtiger und selbständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur
festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen …
vereinigen wird. Die ersten Schritte in diese Richtung haben wir schon
gemeinsam gemacht. Jetzt ist es an der Zeit, daran zu denken, was zu tun ist,
damit das einheitliche und sichere Europa zum Vorboten einer einheitlichen und
sicheren Welt wird.“
Aber die weiteren Schritte dahin haben die Strategen der USA verhindert.
Dem Kooperationsangebot des russischen Präsidenten stand und steht der
imperiale Anspruch der USA gegenüber. Es geht darum, Rußland – und inzwischen
auch China – als wirtschaftliche und militärische Konkurrenz auszuschalten und
letztlich dem unipolaren Anspruch zu unterwerfen. Diese Hybris ist bestimmend
für die Politik der USA und hat dazu geführt, daß die ganze Welt zerrüttet ist
– Chaos, Konflikte und Kriege, wohin man blickt.
Wenn man das alles weiß – und es sind Fakten und keine
Verschwörungstheorien –, erklärt sich vieles von selbst, was heute geschieht.
Die USA verfolgen seit langem eine Langzeitstrategie, die allein ihren
Interessen dient. Sie gehen dabei über Leichen, und ihre Vasallen – dazu
gehört Deutschland – machen jede Gemeinheit mit.
Langzeitstrategie und unipolarer Anspruch der USA
Nach Auffassung ihrer Machteliten sind die Vereinigten Staaten von Amerika
„God’s Own Country“ und dazu berufen, die Welt zu beherrschen. Zur
Durchsetzung dieses durch nichts gerechtfertigten Anspruchs haben sie seit dem
19. Jahrhundert eine Langzeitstrategie entwickelt, wozu die Aufrechterhaltung
einer übermäßig hochgerüsteten Armee und die Einrichtung zahlreicher
Militärstützpunkte in aller Welt gehören.
Dabei ist nicht zu übersehen, daß die US-amerikanische Gesellschaft in
weiten Teilen und bis in den Kongreß hinein religiös-fundamentalistisch
fanatisiert ist. Bis in die Gegenwart ist hier die Wahlverwandtschaft zwischen
Puritanismus und Kapitalismus, eine „ökonomische Prädestinationslehre“ – wen
Gott liebt, den läßt er reich werden – tief verwurzelt. Darüber hinaus sind
viele der Hardliner offensichtlich der Ansicht, daß alles, was den USA nützt,
letztlich der ganzen Welt zugute kommt.
Dieser Hybris folgte auch die Politik des mit einem gewinnenden Lächeln
daherkommenden Präsidenten Barack Obama, der in einer Rede vor der
Militärakademie in Westpoint die USA als die „einzige unverzichtbare Nation“
bezeichnete, als Dreh- und Angelpunkt aller Allianzen von Europa bis Asien,
„unübertroffen in der Geschichte der Nationen.“ Damit bekundete Obama, was
schon lange praktizierte Politik der Vereinigten Staaten war.
Diese Machtpolitik hatte ihren Anfang spätestens 1823, als Präsident James
Monroe mit der nach ihm benannten Doktrin im Interesse der USA einen „Schutz-
und Interventionsanspruch“ für Mittel- und Südamerika postulierte.
1904 ermächtigte dann Theodore Roosevelt die USA pauschal zur Ausübung
einer „internationalen Polizeigewalt“ und zur kompromißlosen Durchsetzung
wirtschaftlicher und strategischer Interessen. Sein Wahlspruch war: „Sprich
sanft und trage einen großen Knüppel, dann wirst du weit kommen.“ Nachdem
zuvor sämtliche Verträge mit den indianischen Ureinwohnern gebrochen worden
waren und die letzte vernichtende Schlacht 1890 am Wounded Knee geschlagen
war, galt das in erster Linie den lateinamerikanischen Ländern im „Hinterhof
der USA“, aber auch Marokko und Korea, wenig später weltweit.
Ganz dem entsprach eine Aussage des nachfolgenden Präsidenten Woodrow
Wilson. Um einen reibungslosen Handel der USA weltweit zu gewährleisten, seien
die USA berechtigt – so Wilson –, verschlossene Türen aufzusprengen, „selbst
wenn die Souveränität widerspenstiger Nationen dabei verletzt würde“.
Barack Obama formulierte das 2016 in einem Interview gegenüber dem
US-Fernsehsender Vox so: „Wir müssen gelegentlich den Arm von Ländern
umdrehen, die nicht das tun, was wir von ihnen wollen… Wir sind das größte,
mächtigste Land der Erde ... wir haben niemanden Ebenbürtiges im Sinne von
Staaten, die die Vereinigten Staaten angreifen oder provozieren könnten.“
Das Ziel, Weltmacht Nr.1 zu sein, erreichten die USA endgültig nach dem
Zweiten Weltkrieg, als Präsident Harry S. Truman 1947 verkündete: Die Politik
der USA müsse sich darauf richten, freien Völkern beizustehen, ihre Freiheit
zu bewahren, und zwar zur Wahrung des Friedens auf der Welt und zum Wohle der
Vereinigten Staaten. Wie sich diese „Führungsrolle“ dann realpolitisch zum
Vorteil der USA und zumeist zu Lasten der „freien Völker“ gestaltete, beweist
ein Blick in die Geschichte bis zur unmittelbaren Gegenwart.
Im Oktober 2014 brüstete sich der damalige US-Vizepräsident Joseph Biden
mit den Worten: „Wir haben Putin vor die einfache Wahl gestellt: Respektieren
Sie die Souveränität der Ukraine oder Sie werden sich zunehmenden Konsequenzen
gegenübersehen.“ Zu dieser Zeit war der von den USA lange vorbereitete
Staatsstreich in Kiew – unter Mißachtung der Souveränität der Ukraine –
bereits vollzogen, der Bürgerkrieg in der Ostukraine hatte begonnen und
US-Präsident Barack Obama nötigte die führenden europäischen Politiker,
Rußland mit harten Sanktionen zu belegen.
Die Ukraine nach dem Staatsstreich von 2014
Am 24. Februar 2022 griff Rußland die Ukraine an. Seither tummeln sich in
den deutschen Medien ukrainische Politiker, die Ansprüche stellen und die
deutsche Regierung beleidigen, weil sie den Forderungen nicht in ausreichendem
Maße nachkomme. Inzwischen fragen sich nicht wenige Menschen, warum
Deutschland der Ukraine überhaupt irgend etwas schulden sollte. Mit welcher
Berechtigung fordert die ukrainische Regierung Geld und Waffen von
Deutschland? Und warum geht die Berliner Regierung darauf ein? Sollte es
tatsächlich so sein, daß sie Anweisungen aus Washington befolgt, dann wäre sie
Teil des Problems, anstatt mitzuhelfen, es zu lösen.
Im Laufe der letzten Jahre wurden Milliarden gezahlt und die Berliner
Politiker zahlen immer mehr, als ob sie ohne weiteres über die Gelder, die der
eigenen Bevölkerung entzogen werden, verfügen könnten. Hinzu kommt, daß
bereits mehrere Hunderttausend Flüchtlinge aufgenommen wurden. Sie wurden
weder kontrolliert noch registriert, werden versorgt und können innerhalb der
Europäischen Union reisen, wohin sie wollen. Seit Monaten herrscht jetzt nach
der Corona-Pandemie ein zweiter Ausnahmezustand mit schwerwiegenden
Auswirkungen.
Kürzlich erklärte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sogar,
Deutschland sei Kriegspartei und müsse „dienend führen“. Außenministerin
Annalena Baerbock sagte – die Aussage Joseph Bidens von 2014 wiederholend –
man wolle Rußland mit den Sanktionen ruinieren. Bundeskanzler Olaf Scholz
nannte in seiner Regierungserklärung vom 27. Februar den russischen
Präsidenten Wladimir Putin einen „Kriegstreiber“, und so weiter.
Offensichtlich gelten für westliche Politiker diplomatische Gepflogenheiten
und völkerrechtliche Grundsätze nicht mehr. Wie sollen russische Politiker mit
ihnen überhaupt noch sprechen können?
Behauptet wird, man müsse in der Ukraine westliche Werte und Demokratie
verteidigen, und zwar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, wozu außer
den Milliardenzahlungen auch Waffenlieferungen und womöglich – so mehrere
Politiker – eine Beteiligung der NATO gehörten. Aber wie sah es in der Ukraine
seit dem von den USA über Jahre vorbereiteten Regime Change von 2014
tatsächlich aus?
Nach dem blutigen Putsch hatte sich die Krim, die 171 Jahre russisch
gewesen war, nach einem Referendum der Russischen Föderation angeschlossen,
und die russischsprachigen Bewohner des Donbaß, die Repressalien zu fürchten
hatten, verlangten nach mehr Autonomie innerhalb der Ukraine, was ihnen
verweigert wurde. Daraufhin lösten auch sie sich von der Kiewer Ukraine und
riefen die Volksrepubliken Donezk und Lugansk aus.
Die Folge war eine Katastrophe, die mit dem Bürgerkrieg in der Ostukraine
begann. Der damalige Machthaber Petro Poroschenko, Oligarch und Marionette der
USA, schickte Panzer und Artillerie in den Donbaß, um die dortige Bevölkerung
zusammenschießen zu lassen. Etwa 14.000 Menschen kamen um, Städte und Dörfer
wurden zerstört. Beteiligt waren neben der von US-Militärs „beratenen“
ukrainischen Armee Freiwilligenbataillone, darunter das faschistische
Asow-Regiment, und auch amerikanische Söldner.
Um Widerstand leisten zu können, holten sich die Ostukrainer Unterstützung
bei Rußland. Es entstand ein Brandherd vor der Tür Rußlands, und alle
Versuche, ihn zu löschen, schlugen fehl. Die Kiewer Ukraine, in deren
Parlament und Regierung Faschisten sitzen, führte – mit den USA im Rücken –
Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Das Minsker Abkommen zur Beilegung des
Konflikts wurde von Kiew ignoriert, die Armee aufgerüstet. Das Schicksal des
Landes lag in der Händen der USA, die das Land auf kaltem Wege übernommen
hatten und gegen Rußland in Stellung brachten.
Die weitere Entwicklung bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist bekannt: Ein
Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Rußland, in dem die Ukraine zerrieben
wird. Dieses verhängnisvolle Vorgehen mit der Verteidigung Europas zu
begründen, entspricht der systematisch betriebenen Meinungsmanipulation. Die
Ukraine war vor dem Krieg nahe dem Zusammenbruch und hing nur noch am Tropf
des IWF und der EU. Oppositionelle wurden verfolgt und zum Teil ermordet (in
meinem Buch Der neue West-Ost-Konflikt habe ich Namen genannt).
Die Frage ist, wo wir stehen und wie es weitergehen soll? Hunderte
Milliarden zusätzlich für Rüstung! Es wird eine noch größere Teuerung als
bisher geben, das Geld für Soziales, Bildung, Wissenschaft und Kunst wird noch
knapper werden, die Armen werden noch ärmer werden, viele Unternehmen stehen
vor dem Ruin. Dagegen wird die Rüstungsindustrie unermeßlich profitieren und
die US-Wirtschaft wird in die gerissenen Lücken springen und Deutschland
teures, umweltschädliches Fracking-Gas liefern. Die USA und ihre Vasallen
werden weiterhin alles unternehmen, um Rußland zu strangulieren und einen
Regime Change in Moskau herbeizuführen. Joseph Biden und seine Hintermänner
sind fast am Ziel – mit Hilfe der EU sowie der deutschen Regierung und ihrer
Medien.
Aber Rußland ist eine Atommacht, und die Militärbasen der USA in
Deutschland befinden sich im Fadenkreuz der russischen Luftwaffe. Die
Situation ist gefährlich wie nie zuvor. Wir stehen nicht nur vor dem
Zusammenbruch des globalen Finanzsystems, wir stehen auch am Rande eines
dritten Weltkriegs, der weite Teile der Welt unbewohnbar machen würde.
Aufklärung über die wahren Verhältnisse scheint mir zur Zeit die einzige
Möglichkeit zu sein, den dringendst erforderlichen Politikwechsel
herbeizuführen.
Noch eine Schlußbemerkung: Worauf ich eingegangen bin, das ist die
öffentlich-politische Situation, in der wir uns befinden. Die weltweit
stattfindende Entmündigung des Individuums zugunsten autoritärer Institutionen
und Machtsysteme ist ein weiteres Thema.
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