Die notwendigen Bedingungen für die Entwicklung der Dritten Welt
Von Julio De Vido
Julio De Vido war argentinischer Minister für Bundesplanung,
öffentliche Investitionen und Dienstleistungen (2003-2015) sowie
Kongreßabgeordneter (2015-2017).
Schönen guten Tag! Ich möchte meine Zustimmung zu den von allen Teilnehmern
geäußerten Wünschen nach Frieden und dem Abbau der großen Kriegsstrukturen und
-maschinerien, darunter des NATO-Militärpakts, zum Ausdruck bringen und meine
Solidarität mit allen Opfern dieser Situation bekunden - nicht nur mit denen
an der Front, sondern auch mit denen, die in ihrem Geldbeutel und unter ihren
Lebensbedingungen, bei den Energiekosten und anderen Folgen dieses Konflikts
leiden.
Ich bin eingeladen worden, heute vor allem über die Bedingungen zu
sprechen, die für die Entwicklung der Nationen und Regionen der Dritten Welt
notwendig sind, die heute als „Schwellenländer“ bezeichnet werden, was aber
eine falsche Bezeichnung ist, so daß ich auf den Begriff „Dritte Welt“
zurückgreife, weil er meines Erachtens als internationaler politischer
Ausdruck so entstanden ist.
Die Bedingungen, die wir als grundlegend ansehen, sind in erster Linie der
Abbau der Auslandsverschuldung und die Abschaffung der Vormundschaft der
sogenannten multilateralen Kreditorganisationen, insbesondere des
Internationalen Währungsfonds. Abgesehen von dieser Bevormundung ist es im
Rahmen des Schuldenabbaus notwendig, einen Haushalts- und Handelsüberschuß zu
erzielen, um die öffentlichen Investitionen in jedem dieser Länder zu
unterstützen und zu fördern.
Außerdem ist eine Politik des assoziativen und proaktiven Regionalismus
erforderlich, nicht nur bei Infrastrukturprojekten zur regionalen Integration,
sondern auch bei der Schaffung von Finanzinstrumenten, die für jede dieser
Regionen geeignet sind. Multilateralismus ist eine weitere Voraussetzung, und
ich möchte dabei unsere Handelspartner hervorheben. Wir sehen oft, daß diese
Länder Handelsbeziehungen mit anderen Ländern haben, die für ihre Wirtschaft
sehr wichtig sind, aber politisch gibt es eine Art Verbot, das sie daran
hindert, diese Beziehungen zu vertiefen. Ich werde versuchen, dies anhand
unserer Erfahrungen in der argentinischen Regierung von 2003 bis 2015 zu
erklären, insbesondere im Zusammenhang mit unseren Beziehungen zu anderen
Ländern der Region.
Eine Plattform mit Priorität für öffentliche Arbeiten
In unserem Wahlprogramm schlugen wir eindeutig vor, daß wir zuerst unsere
Schulden abbauen müßten, um ein souveränes nationales Projekt mit
wirtschaftlicher Unabhängigkeit und sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln.
Damals belief sich die Auslandsverschuldung Argentiniens auf 178 Milliarden
Dollar oder 120% unseres Bruttosozialprodukts (BSP), so daß es sehr schwierig
gewesen wäre, in diesem Zusammenhang irgend etwas zu tun, was wir tun wollten.
Und innerhalb dieser 178 Mrd. Dollar Schulden hatte der Internationale
Währungsfonds einen Anspruch auf 9 Mrd. Dollar. Darüber hinaus leitete er
praktisch unsere makroökonomische Politik mit einem System der Austerität, das
sich nur auf die Schuldenrückzahlung konzentrierte und jegliche soziale
Verpflichtung oder das zur Begleichung erforderliche Wirtschaftswachstum außer
acht ließ.
Dies alles endete im Dezember 2001 mit Dutzenden von Toten und enormen
menschlichen und materiellen Schäden.1 Eines der wichtigsten
Instrumente, die Präsident Kirchner damals beschloß, war die Festlegung von
Planungszielen für öffentliche Investitionen, beginnend mit einem Plan zur
strategischen territorialen Entwicklung, der öffentlichen Bauvorhaben Vorrang
einräumte, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, die unter Armut
und Arbeitslosigkeit litt, welche damals, im Mai 2003, bei 23% lag.
Die Situation wurde noch verschärft durch die Krise im Zusammenhang mit den
Verträgen staatlicher Unternehmen, die während des neoliberalen Jahrzehnts der
1990er Jahre privatisiert worden waren, mit einer Umstellung der Bezahlung für
Dienstleistungen auf US-Dollar. Hinzu kam der Bau von Wohnungen, Schulen und
Hochschulen, den wir vorgeschlagen hatten, um diese Sektoren, die durch ein
Jahrzehnt des Neoliberalismus massiv vernachlässigt worden waren,
wiederzubeleben.
Die Methode der öffentlichen Investitionen verringerte die
Arbeitslosigkeit, reaktivierte die Industrie und verbesserte natürlich das
BIP, wie wir später noch sehen werden.
Raumfahrt und Kerntechnik
Dann wurde es für die Volkswirtschaften der Region notwendig, in die Welt
der neuen Technologien einzusteigen, vor allem im Bereich der Kommunikation.
In dieser Zeit haben wir in Argentinien zwei Satelliten entwickelt und in die
Umlaufbahn gebracht, den Plan zur Stromerzeugung durch Kernkraft fortgesetzt,
das Kernkraftwerk Atucha II fertiggestellt, ebenso wie ein binationales
Projekt mit unserem Bruderland Paraguay zur Fertigstellung des
Wasserkraftwerks Yacyretá mit einer Stromerzeugungskapazität von 3200 MW.
Wie ich bereits sagte, verfolgen wir in der Außenpolitik eine Politik des
Multilateralismus, ohne unsere Einbindung in den Westen aufzugeben. Das heißt,
ideologisch gehören wir zum Justicialismo,2 der völlige
Freiheit in der Gestaltung der Außenbeziehungen festschreibt, aber dabei
berücksichtigt, daß wir uns in der Westlichen Hemisphäre befinden. Das
schränkt uns nicht gerade ein, es legt vielmehr Leitlinien fest, die unserer
Außenpolitik einen besonderen Charakter verleihen, der, wie General Perón
sagte, „echte Politik“ ist. Und das ist es in der Tat, was wir bei unserem
Treffen heute sehen.
So war uns klar, als wir im Mai 2003 die Macht übernahmen, daß wir auf dem
Weg, den wir einschlagen wollten, politische Verbündete in der Region haben
würden, mit denen wir uns zusammentun konnten und mit denen wir sowohl
gemeinsame Strategien als auch eine Basis für ideologische Übereinstimmung
hatten. Präsident Lula da Silva hatte ein Jahr zuvor in Brasilien die Macht
übernommen; er war der erste. Der venezolanische Präsident Chavez und die
bolivarische Erfahrung waren ein weiterer. In Paraguay gab es den Präsidenten
Duarte Frutos und dann den Präsidenten Fernando Lugo. In Uruguay gab es die
Präsidenten Vázquez und Mujica, und schließlich das Bolivien von Evo
Morales.
Beim Vorantreiben dieses Ziels hatten die Länder der Region nicht nur einen
gemeinsamen Feind, sie hatten auch das Problem der Auslandsverschuldung und
der Konditionen, welche die Gläubiger, allem voran der IWF, unseren
Volkswirtschaften auferlegten, mehr oder weniger gemeinsam. In diesem
Zusammenhang erklärten sich sowohl Kirchner als auch Lula fast gleichzeitig
bereit, ihre Schulden beim IWF zu begleichen, nicht um ihn zu verlassen,
sondern um zu verhindern, daß er sich in die makroökonomische Politik ihrer
Länder einmischt, und um letztlich eine größere regionale Einheit zu
erreichen.
Zuvor mußten wir Argentinier uns mit den ausländischen Privatgläubigern
einigen, was wir 2005 taten, mit einer Abschreibung um 73% von Zinsen und
Kapital sowie einer Kapitalreduzierung in der Größenordnung von 46%.
Wie ich bereits sagte, arbeiteten wir fast zeitgleich mit Brasilien
zusammen, um einen ausgeglichenen Haushalt und einen Haushaltsüberschuß zu
erzielen, der es uns ermöglichen würde, das besprochene öffentliche
Investitionsprojekt voranzutreiben und diese Ziele bis 2005 zu erreichen.
Damals haben wir nicht nur den Gemeinsamen Markt des Südens (MERCOSUR)
konsolidiert, sondern auch die Gründung der Union Südamerikanischer Nationen
(UNASUR) mit Sitz in Quito, Ecuador, vorangetrieben, die während des
Putschversuchs in Bolivien durch die sogenannte weiße Halbmond-Region gegen
den ärmeren Norden und die indigene Bevölkerung eine sehr wichtige Rolle
spielte.3
Der Beitritt Venezuelas zum MERCOSUR hat diesen gestärkt, und ich glaube,
das war einer der Umstände, welche die Mächte, die im Energiesektor der Region
das Sagen haben, am meisten irritierte. Venezuela verließ dann den Andenpakt,
der in gewisser Weise die politische und ideologische Grundlage für die
spätere Lima-Gruppe bildete, die dann eine schändliche Rolle bei der Politik
der Wirtschaftssanktionen spielte, worauf mein Vorredner hingewiesen hat.
Kolumbien, Chile und Peru schlugen dann einen anderen Kurs ein, als wir für
die Region vorgeschlagen hatten, und das wurde die Grundlage für die
Lima-Gruppe, die zu einem großen Teil dafür verantwortlich war, die von mir
genannten Fortschritte zu zerstören.
Lateinamerikanische Seidenstraße
So schlossen beispielsweise Argentinien und Venezuela bilaterale Abkommen
zur Energie- und Ernährungssicherheit. Ich nahm an einem Treffen von Kirchner,
Lula und Chavez in Puerto Ordaz teil, bei dem sie mit Plänen für eine südliche
Pipeline begannen, um Venezuelas Kohlenwasserstoffreichtum mit dem
brasilianischen Pre-Salt-Erdöl, den bolivianischen Gasvorkommen und dem
argentinischen Erdgas zu kombinieren und so einen Ring regionaler Sicherheit
zu schaffen. Darüber hinaus gab es einen vorläufigen Entwurf für eine Art
Seidenstraße in Bezug auf die Wasserkraft, sie sollte die Becken des Orinoco
und des Amazonas mit dem Plata-Becken verbinden, das aus den Flüssen Paraguay,
Paraná und Rio de la Plata besteht.
Wie ich bereits erwähnte, versprach das eine Art lateinamerikanische
Seidenstraße zu werden. Das war der gemeinsame Verteidigungsplan, den wir auf
dem Amerikagipfel 2005 in Mar del Plata erörterten, auf dem die Vereinigten
Staaten versuchten, die Amerikanische Freihandelszone (FTAA) durchzusetzen,
die unsere Politik und die Entwicklung der kleinen und mittleren Unternehmen
in allen unseren Ländern sowie die Industrie- und Handelsbeziehungen zwischen
Argentinien und Brasilien zerstört hätte.
Während dieser Zeit bauten wir in Argentinien nach unserem Schuldenerlaß
und in Zusammenarbeit mit anderen Ländern 2000 Schulen, 1,2 Millionen Häuser,
2700 km Autobahnen, 5500 km asphaltierte Straßen, 3300 km Hauptgasleitungen,
12.400 MW installierte Energie sowie 188 Krankenhäuser und Gesundheitszentren.
Die Zahl der Arbeitsplätze im Baugewerbe stieg von 322.000 auf 787.000. Der
Zementverbrauch stieg um 134%. Dank einer Subventionspolitik stieg der
Verbrauch öffentlicher Dienstleistungen um 227% und das BIP wuchs 2015 um 495
Mrd. Dollar, was einem Anstieg von fast 93% entspricht.
Wir sollten unbedingt, wie Helga Zepp-LaRouche bereits bemerkte, die
Konsolidierung der lokalen Oligarchien und ihre enorme Konzentration von
Reichtum zur Kenntnis nehmen: Es gab einen Aufstand der Landbesitzer in
Argentinien; und wie ich bereits erwähnte, einen Aufstand des sogenannten
Weißen Halbmonds in Bolivien in den Departements Beni, Santa Cruz, Pando und
Tarija, den ein Treffen der UNASUR 2008 in Santiago de Chile stoppen konnte;
einen Polizeiaufstand gegen Präsident Rafael Correa in Ecuador und den
Atlanta-Plan4, der 2012 in den Vereinigten Staaten ins Leben
gerufen wurde und an dem einige der reaktionärsten Vertreter der Justiz und
der Medienoligopole Lateinamerikas beteiligt waren.
Abschließend möchte ich sagen, daß Lulas Wahltriumph die Hoffnung auf eine
neue Ära für die Region weckt, die durch Schuldenabbau und Multilateralismus,
welcher uns mit der Welt verbindet, unweigerlich eine neue Periode der
Souveränität und des sozialen Fortschritts einleiten wird, und diese wird es
uns ermöglichen, sich den Herausforderungen zu stellen und Projekten wie der
Seidenstraße anzuschließen, die Helga Zepp-LaRouche so großartig beschrieben
und analysiert hat. Ich danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit.
Anmerkungen
1. Im Dezember 2001 befand sich Argentinien in einer beispiellosen
Wirtschafts- und Schuldenkrise, die durch jahrelange neoliberale Politik
verursacht worden war und zu tagelangen gewalttätigen Protesten,
Ausschreitungen und Plünderungen führte, die 27 Menschen das Leben kosteten
und große materielle Schäden verursachten. Auf den Rücktritt von Präsident
Fernando de la Rúa am 21. Dezember, der in einem Hubschrauber von der Spitze
des Präsidentenpalastes floh, folgte am 24. Dezember die Ankündigung eines
Schuldenmoratoriums durch Interimspräsident Adolfo Rodríguez Saá. Innerhalb
von zwölf Tagen hatte das Land fünf Präsidenten, und die Ereignisse dieser
turbulenten Zeit haben sich in das Gedächtnis der argentinischen Bevölkerung
eingebrannt.
2. Justicialismo: Die von General Juan Domingo Perón 1946 gegründete
Bewegung, die nach dem von den Briten inszenierten Staatsstreich gegen Perón
(1955) 1958 in Justicialismo umbenannt wurde. Die Justicialista-Partei
verkörpert heute die von Juan Perón definierte politische Doktrin.
3. Weißer Halbmond-Putschversuch in Bolivien: der Vorstoß der vier
südöstlichen bolivianischen Departements Santa Cruz, Pando, Beni und Tarija,
die wegen ihrer geographischen Lage als „Halbmond“ bekannt sind, im Jahr 2008,
unter dem damaligen Präsidenten Evo Morales die vollständige „Autonomie“, d.h.
Abspaltung vom bolivianischen Staat zu erlangen. Unterstützt von der National
Endowment for Democracy, USAID, dem US-Außenministerium und anderen
ausländischen Nichtregierungsorganisationen, erklärten die Anführer der
Sezessionisten, daß ihr Wohlstand und ihre europäischen Wurzeln dieses Handeln
rechtfertigten, und behaupteten, sie hätten keine gemeinsamen Interessen mit
dem Rest der nördlichen, überwiegend indigenen Bevölkerung Boliviens. Durch
das Eingreifen der UNASUR wurde der Sezessionsplan im September des Jahres
gestoppt.
4. Der Atlanta-Plan: Ein 2012 in Atlanta im US-Staat Georgia abgehaltenes
Treffen ehemaliger rechter und Mitte-rechter Präsidenten Lateinamerikas, an
dem auch Vertreter der Vereinigten Staaten teilnahmen, einigte sich auf die
„Erklärung von Atlanta über die Zukunft der hemisphärischen Beziehungen“.
Unter dem Vorwand, „Demokratie“ zu fördern und „Autoritarismus“ zu bekämpfen,
startete die Gruppe eine Serie von Kampagnen, bei denen Justiz und
Strafverfolgungsbehörden führende progressive Politiker in der ganzen Region
ins Visier nahmen, um ihre Regierungen zu destabilisieren und sie unter
konstruierten Vorwürfen zu verfolgen und ins Gefängnis zu bringen.
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