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Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
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Pelosi handelt „extrem verantwortungslos“

Ein Interview mit US-Botschafter a.D. Chas Freeman

Unmittelbar vor der Asienreise der Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi, die am 2. August einen provokanten Zwischenstop in Taiwan einlegte, führte Mike Billington, Redakteur des Executive Intelligence Review und Aktivist des Schiller-Instituts, das folgende Videointerview mit dem ehemaligen US-Botschafter Chas Freeman, einem der kenntnisreichsten Experten für chinesische Angelegenheiten, der eine andere Sicht vertritt als das Establishment. Das Interview wurde für den Abdruck leicht gekürzt, die Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt. Den Mitschnitt (im englischen Original) finden Sie im Internet unter: https://schillerinstitute.com/blog/2022/08/03/interview-ambassador-chas-freeman-pelosis-extreme-irresponsibility/

Billington: … Präsident Xi Jinping sagte am 28. Juli in seinem Telefongespräch zu Präsident Biden: „Wer mit dem Feuer spielt, geht darin zugrunde.“ Der frühere Global Times-Redakteur Hu Xijin sagte, eine Reise von Nancy Pelosi nach Taiwan würde als „Invasion“ betrachtet, und die PLA habe das Recht, ihr Flugzeug abzudrängen oder sogar abzuschießen. US-Generalstabschef Mark Milley seinerseits sagte, das US-Militär werde sie schützen. Was erwarten Sie, wenn sie tatsächlich nach Taiwan fliegt?

Freeman: Ich denke, sie wird fliegen, das wurde jetzt von offiziellen Stellen sowohl in Taiwan als auch in Washington bestätigt...

Das ist ein Akt extremer Verantwortungslosigkeit seitens der Kongreßsprecherin. Die Normalisierung der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und China ist an Amerikas Wahrung des Ein-China-Prinzips geknüpft – eine Position, die Taipeh und Beijing traditionell immer vertreten haben, von der sich Taipeh aber nun verabschiedet hat, mit begeisterter Unterstützung eines Großteils des politischen Establishments der USA.

Ich glaube nicht, daß Hu Xijin für die chinesische Regierung spricht. Ich glaube nicht, daß die chinesische Regierung die Vereinigten Staaten provozieren will, auch wenn die Vereinigten Staaten offenbar China provozieren wollen. Aber alle Konsequenzen daraus werden höchstwahrscheinlich Taiwan treffen. Mit anderen Worten, der Besuch der Kongreßsprecherin wird Taiwans Sicherheit nicht verbessern, sondern eher schaden, es gefährden und zu einer Eskalation der Spannungen an der Straße von Taiwan führen.

Niemand weiß, wie die Chinesen reagieren werden. Sie haben viele, viele Möglichkeiten, politisch, wirtschaftlich und militärisch. Es ist klar, daß die Kongreßsprecherin sich in eine Lage gebracht hat, in der sie es sich nicht leisten kann, nicht hinzufahren. Ebenso hat sie Taiwan in eine Lage gebracht, in der es sich nicht leisten kann, sie nicht zu empfangen. Und sie hat die chinesische Regierung in eine Lage gebracht, in der sie es sich nicht leisten kann, nichts tun kann. Das führt zur Eskalation.

Die traurige Realität ist, daß sowohl das Weiße Haus als auch das Militär in Washington diese Reise eher als schädlich denn als hilfreich ansehen. Aber das Weiße Haus hatte nicht den Mut, Pelosis Reise zu verhindern. Wir werden also sehen, was passiert...

Billington: Das war bei anderen Themen mit Präsident Biden ähnlich. In mehreren Telefonaten mit Xi Jinping hat Biden dem chinesischen Präsidenten versichert, daß die USA die Ein-China-Politik respektieren und Taiwan nicht ermutigen werden, seine Unabhängigkeit zu erklären. Dennoch tut seine Regierung ständig das Gegenteil. Und die chinesische Führung hebt immer wieder hervor, daß alles in Ordnung wäre, wenn die USA sich an das halten würden, was Biden in seinen Telefongesprächen zugesagt hat. Wer macht die Politik in den USA?

Freeman: Es ist ganz klar, daß der Präsident in dieser Frage keine offene Sprache spricht. Genau wie zu Israel, wo er kürzlich zu Besuch war und die Vorzüge der Zweistaatenlösung anpries, die nun aufgrund der von den Vereinigten Staaten unterstützten israelischen Aktionen faktisch unmöglich ist. Im Falle Taiwans hatten die Vereinigten Staaten einmal ein diplomatisches Abkommen mit den Chinesen über den Umgang mit dieser Frage, aber das wurde scheibchenweise vernichtet. Jetzt bleibt uns keine andere Möglichkeit als das Militär, und deshalb bereitet sich das US-Militär darauf vor, die Kongreßsprecherin zu schützen. Schließlich ist sie dritte in der Reihe der Nachrücker des Präsidenten und eine sehr wichtige Figur im Kongreß, der laut US-Verfassung die wichtigste Regierungseinrichtung sein sollte. Das Militär hat die Pflicht, sie zu schützen, selbst wenn sie etwas so Dummes tut wie jetzt.

China hat gewarnt

Billington: Die Taiwan-Abteilung der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften – wahrscheinlich die führende regierungsnahe Denkfabrik der Chinesen – hatte ein Treffen, bei dem es hieß: „Sagt nicht, wir hätten euch nicht gewarnt.“ Das ist das, was vor dem Grenzkrieg mit Indien 1962 und auch vor dem Einmarsch in Vietnam 1979 gesagt wurde, vielleicht auch vor dem Eintritt in den Koreakrieg, ich bin mir nicht sicher. Können die USA die Warnung diesmal ignorieren?

Freeman: Sie haben das auch vor dem Eintritt in den Koreakrieg gesagt. Es bedeutet nicht, daß die Chinesen sofort handeln müssen, aber es deutet darauf hin, daß wir an einem Wendepunkt angelangt sind, an dem sich die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Konflikts erhöht hat. Dafür wird Pelosi die Verantwortung übernehmen müssen.

Billington: Sie stimmen wahrscheinlich zu, daß die USA Rußland soweit provoziert haben, daß es in die Ostukraine einmarschiert ist. In Ihrem letzten Interview mit uns sagten Sie – das war vor dem Februar –, wenn Rußland in die Ukraine einmarschiert, um seine Landsleute im Donbaß zu schützen, könnte China das als Gelegenheit nutzen, China gewaltsam wiederzuvereinigen. Welches Maß an Provokation würde die Chinesen Ihrer Meinung nach dazu bewegen, jetzt militärisch einzugreifen?

Freeman: Ich denke, daß die Ukraine und Taiwan insofern etwas gemeinsam haben, als die wichtigste Lehre, die wir aus den Ereignissen in der Ukraine ziehen sollten, diese ist: Wer sich über die nachdrücklich geäußerten Einwände einer Großmacht hinwegsetzt, der tut das auf eigene Gefahr und auf Gefahr derer, die er angeblich schützen will. Rußland wurde zu seinem Vorgehen in der Ukraine provoziert, was dieses Vorgehen aber nicht rechtfertigt. Es war nicht gerechtfertigt, aber provoziert.

Eine ähnliche Möglichkeit besteht im Falle Taiwans. Die Chinesen werden aber nicht so ungestüm sein wie Wladimir Putin. Er schickte seine Truppen über die Grenze, ohne vorher seine Generäle über seine Absichten zu informieren, ohne die logistische Unterstützung für die Invasion vorzubereiten und ohne sich um die Moral der Truppe zu kümmern und ihnen zu erklären, was ihr Auftrag ist. Es handelte sich also um eine ungestüme Entscheidung, wahrscheinlich in letzter Minute getroffen, nachdem die Russen versucht hatten, eine Einigung über die NATO-Erweiterung und die Ukraine auszuhandeln, was jedoch scheiterte und von den Vereinigten Staaten zurückgewiesen wurde.

Im Falle Taiwans hatten die Chinesen Jahrzehnte Zeit, seit 1995-96, als sie zum ersten Mal begannen, sich ernsthaft auf einen militärischen Konflikt mit Taiwan vorzubereiten, nachdem die USA unser Abkommen mit ihnen gebrochen und dem damaligen Präsidenten in Taipeh, Lee Teng-hui, einen Besuch in den Vereinigten Staaten gestattet hatten. Das war eine Initiative des Kongresses, die von der damaligen Clinton-Regierung, also der Exekutive, abgelehnt wurde.

Auch heute ist es eine Initiative des Kongresses oder zumindest der Parlamentspräsidentin. Es besteht also die Gefahr, daß die Chinesen ihre Anstrengungen verdoppeln und den festen Entschluß fassen, Gewalt gegen Taiwan anzuwenden. Nicht, daß sie das sofort tun werden. Sie werden es erst dann tun, wenn sie sicher sind, daß sie bereit sind und gewinnen können. Sie gehen davon aus, daß sie gewinnen werden, ganz gleich, ob die Vereinigten Staaten sich ihnen in den Weg stellen oder nicht. Das ist also ihre Planungsgrundlage. Das ist nichts, was erst gestern begonnen hat, und es wird morgen nicht zuende sein.

Billington: Sie haben auf das chinesische Anti-Sezessionsgesetz von 2005 verwiesen, in dem festgelegt ist, wann Beijing die Anwendung von Gewalt zur Wiedervereinigung Chinas in Betracht ziehen würde. Eine dieser Bedingungen ist, daß „alle Möglichkeiten einer friedlichen Vereinigung verloren sind“. Sind diese Bedingungen Ihrer Meinung nach erfüllt?

Freeman: Das müssen die Chinesen selbst beurteilen. Ich glaube, daß viele in Beijing überzeugt sind, daß diese Bedingungen jetzt erfüllt sind, und das macht diesen Moment so gefährlich.

Billington: Es ist klar, daß Taiwan in einem Krieg zwischen den USA und China völlig zerstört würde, unabhängig davon, wer gewinnt, falls es so etwas wie einen Sieg gibt. Sollte das nicht ausreichen, um eine solche Katastrophe zu verhindern, weil man in Taiwan eine solche Zerstörung wie jetzt in der Ukraine nicht will?

Freeman: Eines der Probleme für Beijing ist, daß es seine Warnungen so oft ausgesprochen und Taiwan so oft gewarnt hat, daß das nun in den Wind geschlagen wird. Viele Menschen in Taiwan wollen einfach gar nicht daran denken, daß es zur Wiederaufnahme des chinesischen Bürgerkriegs kommen könnte.

Dabei ist es noch gar nicht so lange her, daß es in der Straße von Taiwan aktive Luftkämpfe und Artilleriefeuer zwischen den Streitkräften des Festlandes und Taiwans gab. Das endete erst am 1. Januar 1979, als die Vereinigten Staaten und China ihre Beziehungen normalisierten. Die Chinesen haben also ein Problem: Wenn sie nicht eskalieren, verliert ihr politischer und militärischer Druck auf Taiwan an Wert. Meiner Meinung nach haben sie keine andere Wahl.

Billington: Der Handel zwischen Taiwan und dem Festland ist enorm, ich glaube, er beläuft sich auf fast 200 Milliarden Dollar, und es gibt umfangreiche taiwanesische Investitionen auf dem Festland. Wieviel kann die Wirtschaft mitreden? Sicherlich würde sie jede provozierte militärische Konfrontation verhindern wollen.

Freeman: Es gibt fast drei Millionen Taiwaner, die auf dem Festland leben und arbeiten. Es handelt sich also in vielerlei Hinsicht um eine sehr enge Beziehung zwischen Chinesen auf beiden Seiten der Meerenge. Es gibt viele Menschen in Taiwan, die mit dem Festland Geschäfte machen und die nicht wollen, daß diese Beziehungen durch den Ausbruch eines Konflikts gestört werden.

Aber es gibt auch Menschen in Taiwan, die sich leidenschaftlich für die Selbstbestimmung der Insel und ihre Abtrennung von China einsetzen, und die nun zufällig an der Macht sind. Die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) hat sich die Unabhängigkeit auf die Fahnen geschrieben. Ihre Vorsitzende hat sich, auch wenn sie jetzt sehr zurückhaltend ist, in der Vergangenheit offen für die Unabhängigkeit ausgesprochen. Diese Tatsache hat den politischen Dialog über die Meerenge im Wesentlichen beendet, und anstelle des allmählichen Annäherungsprozesses gibt es eine Zunahme der Spannungen.

China ist kein Ungeheuer

Billington: Sie haben kürzlich John Quincy Adams zitiert, daß die Herzen der Amerikaner zwar überall sind, wo der Fahne der Freiheit und Unabhängigkeit hochgehalten wird, aber daß sie „nicht in der Ferne nach Monstern suchen, die man zerstören kann“. Sicherlich versucht der Anti-China-Mob in beiden Parteien und in den Medien hier, China als Monster darzustellen. Ist China ein Ungeheuer?

Freeman: Ich glaube nicht, daß China in irgendeiner Hinsicht ein Ungeheuer ist. Es existiert seit 4000 oder 5000 Jahren und ist wirklich das einzige Beispiel einer vormodernen Gesellschaft, die ihre Existenz über Jahrtausende erfolgreich aufrechterhalten hat.

Andererseits herrschen in China völlig andere Bedingungen als in den Vereinigten Staaten. Es hat 14 Landgrenzen, Seegrenzen zu Japan und Südkorea und zu Taiwan, das im immer noch nicht beendeten Bürgerkrieg besiegt wurde. Und natürlich liegt die Siebte Flotte der USA vor den chinesischen Küsten. Die USA führen jetzt täglich mindestens zwei oder drei aufdringliche Patrouillen entlang der chinesischen Grenzen durch, was meiner Meinung nach dazu führt, daß die Chinesen häufiger auf gefährliche Weise reagieren.

Aber China steht auch vor anderen Herausforderungen. Das Land hat nur etwa ein Drittel der Ackerfläche der Vereinigten Staaten und viel weniger Wasser als wir. Es hat mehr als die vierfache Bevölkerung, die es mit diesen mageren Ressourcen ernähren muß. Trotzdem ist es sehr effizient, es ist der größte Nahrungsmittelproduzent der Welt. Aber es steht immer am Rande des Abgrunds. Die chinesische Geschichte ist voll von Beispielen für Massensterben durch Hunger, politische Umwälzungen oder ausländische Invasionen.

Daher wollen die Chinesen eine Regierung, die stark und handlungsfähig ist. Sie wollen eine starke Regierung, die die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung und das Wohlergehen ihrer Familien übernimmt. In den Vereinigten Staaten ist die Fehlertoleranz so groß, daß wir eine Regierung wollen, die so wenig wie möglich tut. „Die beste Regierung ist die, die am wenigsten regiert“, sagte Thomas Jefferson. Kein Chinese würde so etwas jemals sagen.

Es gibt also einen Zusammenprall von Ideologie, politischer Theorie und politischer Kultur, der in diese Beziehung eingebaut ist. Ich denke, in China ist man sich darüber im klaren, daß die Vereinigten Staaten in einzigartiger Weise gesegnet sind, mit Ressourcen, Raum, der Trennung vom Rest der Welt durch Ozeane und wohlwollende Nachbarn, von denen nur zwei Landgrenzen haben. Und die Chinesen sind sich sehr wohl bewußt, daß sie nichts von diesen Segnungen haben. Das führt zu vielen Mißverständnissen zwischen den beiden Ländern und veranlaßt einige Amerikaner, China als Anathema zu betrachten.

Billington: Die USA haben massive Sanktionen gegen Rußland verhängt, obwohl die sich für den Westen als weitaus schädlicher erwiesen haben als für Rußland. Aber in letzter Zeit geben sie offenbar nach. Sie stimmten einem Getreideabkommen zwischen Rußland und der Ukraine über den Getreideexport zu. Sie haben die Sanktionen gegen Lieferungen nach Kaliningrad aufgehoben. Europa ist sehr gespalten über die Gaspolitik. Und Blinken hat gerade mit Sergej Lawrow telefoniert. Der größte Teil der Welt trägt die Sanktionspolitik nicht mit. Glauben Sie, daß die USA zum Einlenken und zur Beendigung des Sanktionsregimes in Rußland und anderswo sowie zu Verhandlungen mit Rußland und China gebracht werden können?

Freeman: Nach anderen Beispielen zu urteilen, lautet die Antwort nein. Man hat zum Beispiel nicht auf maximalen Druck auf Nordkorea oder auf den Iran verzichtet. Die Sanktionen haben fast durchgängig nicht die politischen Ergebnisse erzielt, auf die sie angeblich abzielen, nämlich eine Änderung der Politik, in diesem Fall eine Änderung der russischen Politik.

Aber sie haben eine Geschichte enormer Kollateralschäden. Die Sanktionen, die der Westen verhängt hat, ohne die möglichen Kollateralschäden angemessen zu berücksichtigen, führen gerade zu einer radikalen Umstrukturierung des globalen Energiemarktes, die nicht beabsichtigt war. Sie strukturieren den globalen Lebensmittelmarkt radikal um, auch das in einer Weise, die nicht beabsichtigt war.

Ich möchte Ihre Frage in einem Punkt korrigieren, Mike. Das Getreideabkommen wurde von der UNO mit Hilfe der Türkei ausgehandelt. Die Vereinigten Staaten und andere waren nicht daran beteiligt. Rußland stimmte zu. Rußland hatte sogar immer wieder angeboten, die angebliche Blockade der ukrainischen Häfen für Lebensmittellieferungen zu umgehen.

Das Problem mit den Lebensmittellieferungen begann eigentlich damit, daß die Ukrainer ihre eigenen Häfen vorsichtshalber vermint haben, um die Russen am Einlaufen zu hindern. In dem Moment kündigten die Versicherungsgesellschaften die Versicherungen für Schiffe, die sich im Hafen befanden oder versuchten, ihn zu erreichen oder zu verlassen, und der Handel kam zum Erliegen.

Unabhängig davon, ob es die angebliche russische Blockade gibt oder nicht, ob sie stattgefunden hat oder nicht, muß als erstes ein gewisses Maß an Minenräumung stattfinden. Ich gehe davon aus, daß dies zumindest in einem Hafen so weit geschehen ist, daß ein Schiff auslaufen konnte. Ob das Schiff jemals zurückkehren wird, um mehr Getreide zu holen, ist jedoch eine offene Frage. Das ist ein Kriegsgebiet. Mit den Schiffen, die dort festsaßen, will keiner zurückkehren, um vielleicht wieder festzusitzen. Es gibt keine Garantie, daß das nicht passiert, und es ist von Natur aus gefährlich, ein Minenfeld zu durchqueren, ganz gleich, wie gut ein Steuermann ist.

Es handelt sich also um ein fragwürdiges Abkommen, das nicht vom Westen mit Rußland geschlossen wurde, sondern von der UNO im Namen des Globalen Südens, das von der Türkei vermittelt wurde und dem die Ukraine nur widerwillig zustimmte.

Wirtschaftliche „Entkopplung“ schadet allen

Billington: Ich möchte Sie zu dem Schritt fragen, der stolz als „Entkopplung“ der amerikanischen von der chinesischen Wirtschaft bezeichnet wird. Was halten Sie davon, und was werden die Auswirkungen sein?

Freeman: Die Vereinigten Staaten und China haben beide enorm von der Globalisierung profitiert, d.h. von der Ausweitung der Lieferketten über internationale Grenzen hinweg. Das Nettoergebnis der Entkopplung wird wahrscheinlich darin bestehen, daß sich das Wachstum sowohl der chinesischen als auch der amerikanischen Wirtschaft verlangsamt.

Ein Teil der Abkopplung ist das Verbot für chinesische Forscher, in US-Labors oder Universitäten an Dingen zu arbeiten, die von den Machthabern in Washington als sensibel angesehen werden. Das wird den Fortschritt bei Schlüsseltechnologien in den Vereinigten Staaten definitiv bremsen. Wenn Sie irgendwo in Amerika ein Labor für künstliche Intelligenz besuchen, werden Sie feststellen, daß etwa 60% der Mitarbeiter Ausländer sind, davon etwa die Hälfte Chinesen, die andere Hälfte überwiegend Inder.

Man schickt diese chinesischen Forscher einfach zurück nach China, wo die Regierung etwa dreimal soviel wie in den USA in die Entwicklung fortschrittlicher elektronischer Technologien investiert. Die einzigen Konkurrenten der Chinesen sind natürlich Taiwan, das über 90% des weltweiten Chipmarktes hält, und Südkorea, das etwa sechs- oder siebenmal so viel wie die USA in den Ausbau seiner Halbleiterindustrie investiert.

Die Entkopplung ist also im Grunde für alle schädlich und wird wahrscheinlich nichts anderes bewirken, als daß die Vereinigten Staaten auf internationaler Ebene mehr Konkurrenz bekommen, und sie wird wahrscheinlich unsere internationale technologische Vormachtstellung eher bremsen als sichern.

Billington: Die hyperinflationäre Krise im westlichen Finanzsystem, die durch die Sanktionen gegen Rußland noch verschärft wurde, aber schon vorher begonnen hat, läßt wirklich fast jeden erkennen, daß wir auf eine äußerst ernste Wirtschaftskrise im gesamten transatlantischen Raum zusteuern. Helga Zepp-LaRouche hat, wie schon seit Jahrzehnten, aber in diesem Moment der Krise besonders, zu einer neuen Bretton-Woods-Konferenz aufgerufen, an der neben den USA auch Rußland und China teilnehmen sollten, um das zu bewältigen. Haben Sie irgendeine Hoffnung oder Erwartung, daß so etwas zustande kommen könnte?

Freeman: Nein, das habe ich nicht. Die politischen Voraussetzungen dafür sind nicht gegeben. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß die derzeitige Regierung in Washington Diplomatie im traditionellen Sinne versteht oder praktiziert. Wir haben das beim Kollaps in der Ukraine gesehen. Wir haben es mit dem Scheitern des sog. JCPOA, des Iran-Atomabkommens, gesehen. Wir haben es mit der Sackgasse mit Nordkorea gesehen. Wir haben es mit der Verschlechterung der Beziehungen zu China gesehen. Ich glaube nicht, daß die politischen Voraussetzungen dafür gegeben sind.

Andererseits ist eine der Auswirkungen der Sanktionen und anderer Folgen des Ukraine-Krieges die faktische Umstrukturierung des globalen Finanzsystems. Fünf ASEAN-Länder haben sich jetzt auf die direkte Abwicklung von Käufen über QR-Codes geeinigt. Der Iran und Rußland haben sich nicht nur auf Swaps geeinigt, sondern auch auf eine ähnliche Vereinbarung über die Verwendung russischer Kreditkarten im Iran, wobei SWIFT – die vom Westen betriebene belgische Einrichtung, die normalerweise globale Transaktionen über den Dollar abwickelt – umgangen wird. In ähnlicher Weise sind die BRICS in der Endphase der Entwicklung einer länderübergreifenden Währung, die den Dollar für die Zwecke der Handelsabwicklung ersetzen soll. Und natürlich erweitern sie ihre Mitgliederzahl.

Wir sehen also eine Entwicklung hin zu bilateralen und plurilateralen Mechanismen der Handelsabwicklung, die den Dollar vermeiden. Und es ist sehr wahrscheinlich, daß wir uns auf dem Weg in eine Zukunft befinden, in der der Dollar nicht mehr die fast monopolartige Stellung hat, die er bei der Handelsabwicklung innehat, sondern lediglich eine von vielen Währungen sein wird, in denen der Handel abgewickelt wird.

Ich möchte noch hinzufügen, daß die Frage, was eine Reservewährung ist und was nicht, sich eigentlich davon ableitet, in welcher Währung Handel abgewickelt werden kann und in welcher nicht. Aber es geht um zwei ganz verschiedene Dinge. Man spricht über den Dollar als Reservewährung, aber das geht irgendwie am Thema vorbei. Die wahre Stärke des Dollars wird von Saudi-Arabien getragen, das 1974 einwilligte, den Weltenergiehandel in Dollar zu denominieren, was die OPEC trotz der Einwände einiger Mitglieder wie Algerien und Iran widerwillig befolgt hat. Solange der Dollar die Rechnungseinheit für den Energiehandel und andere Rohstoffe ist, werden die Vereinigten Staaten ihr sog. exorbitantes Privileg behalten. Aber sobald die Saudis und andere anfangen, andere Währungen als den Dollar als Gegenleistung für ihre Rohstoffproduktion zu akzeptieren, wird der Dollar zusammenbrechen und wir werden eine massive Abwertung erleben, vergleichbar mit der 1971, als die USA den Goldstandard aufgaben und der Dollar nicht mehr gegen Gold eintauschbar war.

Dieser Prozeß spielt sich jetzt ab, und eine vernünftige Reaktion darauf wäre in der Tat eine Art internationale Anstrengung, um einen Übergang auszuhandeln. Aber ich sehe nicht die politische Basis dafür.

Billington: Sergej Glasjew, der jetzt einer der Leiter der Eurasischen Wirtschaftsunion ist, und Wang Wen vom Chongyang-Institut für Finanzstudien an der Renmin-Universität haben eine Reihe von Seminaren zur Frage der Schaffung einer Alternativwährung zum Dollar für den internationalen Handel abgehalten. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie es damit weitergeht?

Freeman: Soweit ich weiß, geht es voran, aber in erster Linie im Zusammenhang mit den von mir erwähnten BRICS-Diskussionen. Auf dem letzten BRICS-Gipfel wurden aktive Anstrengungen zur Umsetzung dieser Ideen unternommen. Sie sind noch nicht umgesetzt worden, und die Einzelheiten sind noch etwas unklar. Aber ich denke, es steht außer Frage, daß es aktive Bemühungen gibt, um genau das zu erreichen, was Wang und sein russischer Amtskollege vorgeschlagen haben.

Billington: Das ukrainische Zentrum zur Desinformationsbekämpfung, das von den NATO-Ländern finanziert wird, hat kürzlich eine Liste von 78 prominenten internationalen Persönlichkeiten veröffentlicht, die sie als russische Propaganda-Agenten bezeichneten und zu „Informationsterroristen“ und „Kriegsverbrechern“ erklärten. 30 dieser 78 Personen hatten auf Konferenzen des Schiller-Instituts gesprochen, und auch Sie haben auf Konferenzen des Schiller-Instituts gesprochen. Was halten Sie von dieser Abschußliste?

Freeman: Es ist ein Zeichen der Zeit. Wer keine ernsthaften Argumente hat, verlegt sich darauf, diejenigen zu verleumden, die andrer Meinung sind. Das ist widerwärtig. Es ist ein Angriff auf das Prinzip der freien Meinungsäußerung, das für die westliche Demokratie so wichtig ist. Man muß das verurteilen.

Billington: Wie Sie als China-Gelehrter sehr gut wissen, setzt sich das chinesische Schriftzeichen für „Krise“ aus den Zeichen für „Gefahr“ und „Chance“ zusammen. Es ist sicherlich so, daß die Menschen auf der ganzen Welt die extreme Gefahr der strategischen Krise erkennen, die auf einen Krieg, vielleicht einen Atomkrieg, zusteuert, und auch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise spüren. Haben Sie das Gefühl, daß die Bürger weltweit darauf reagieren? Sind sie ausreichend motiviert, um eine Wende zur Vernunft zu erzwingen?

Freeman: Nur eine kleine Richtigstellung – das chinesische Wort „Krise“ besteht aus zwei Schriftzeichen, nicht aus einem. Aber ja. Ich nehme an, daß dies der Ursprung des Satzes ist (ich glaube, von Rahm Emanuel), daß man eine Krise niemals ungenutzt lassen soll.

Leider muß ich sagen, daß ich glaube, daß die allgemeine Reaktion auf internationaler Ebene und sicherlich in meinem eigenen Land, den Vereinigten Staaten, von Verzagen und einem Gefühl der Ohnmacht und Frustration geprägt ist, während sich das Äquivalent einer echten griechischen Tragödie entfaltet. Jeder kann sehen, wohin das Ganze führt. Die Protagonisten machen trotzdem weiter. Und der Chor bleibt ungehört.

Es ist also ein Moment, in dem die Menschen in der Tat ihre Einwände gegen ein Handeln ausdrücken sollten, das unnötig einen Krieg, möglicherweise einen Atomkrieg riskiert. Und unter anderem, wie Sie bereits sagten, die sichere Zerstörung sowohl der Demokratie als auch des Wohlstands Taiwans. Ich wünschte, ich könnte sagen, daß ich eine wirksame, breite Antwort auf die Gefahren sehe, denen wir gegenüberstehen, ich sehe sie aber nicht.

Billington: Ich danke Ihnen.