Pelosi handelt „extrem verantwortungslos“
Ein Interview mit US-Botschafter a.D. Chas Freeman
Unmittelbar vor der Asienreise der Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy
Pelosi, die am 2. August einen provokanten Zwischenstop in Taiwan einlegte,
führte Mike Billington, Redakteur des Executive Intelligence Review und
Aktivist des Schiller-Instituts, das folgende Videointerview mit dem
ehemaligen US-Botschafter Chas Freeman, einem der kenntnisreichsten Experten
für chinesische Angelegenheiten, der eine andere Sicht vertritt als das
Establishment. Das Interview wurde für den Abdruck leicht gekürzt, die
Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt. Den Mitschnitt (im
englischen Original) finden Sie im Internet unter: https://schillerinstitute.com/blog/2022/08/03/interview-ambassador-chas-freeman-pelosis-extreme-irresponsibility/
Billington: … Präsident Xi Jinping sagte am
28. Juli in seinem Telefongespräch zu Präsident Biden: „Wer mit dem Feuer
spielt, geht darin zugrunde.“ Der frühere Global Times-Redakteur Hu
Xijin sagte, eine Reise von Nancy Pelosi nach Taiwan würde als „Invasion“
betrachtet, und die PLA habe das Recht, ihr Flugzeug abzudrängen oder sogar
abzuschießen. US-Generalstabschef Mark Milley seinerseits sagte, das US-Militär
werde sie schützen. Was erwarten Sie, wenn sie tatsächlich nach Taiwan fliegt?
Freeman: Ich denke, sie wird fliegen, das
wurde jetzt von offiziellen Stellen sowohl in Taiwan als auch in Washington
bestätigt...
Das ist ein Akt extremer Verantwortungslosigkeit seitens der
Kongreßsprecherin. Die Normalisierung der Beziehungen zwischen den Vereinigten
Staaten und China ist an Amerikas Wahrung des Ein-China-Prinzips geknüpft –
eine Position, die Taipeh und Beijing traditionell immer vertreten haben, von
der sich Taipeh aber nun verabschiedet hat, mit begeisterter Unterstützung
eines Großteils des politischen Establishments der USA.
Ich glaube nicht, daß Hu Xijin für die chinesische Regierung
spricht. Ich glaube nicht, daß die chinesische Regierung die Vereinigten Staaten
provozieren will, auch wenn die Vereinigten Staaten offenbar China provozieren
wollen. Aber alle Konsequenzen daraus werden höchstwahrscheinlich Taiwan
treffen. Mit anderen Worten, der Besuch der Kongreßsprecherin wird Taiwans
Sicherheit nicht verbessern, sondern eher schaden, es gefährden und zu einer
Eskalation der Spannungen an der Straße von Taiwan führen.
Niemand weiß, wie die Chinesen reagieren werden. Sie haben
viele, viele Möglichkeiten, politisch, wirtschaftlich und militärisch. Es ist
klar, daß die Kongreßsprecherin sich in eine Lage gebracht hat, in der sie es
sich nicht leisten kann, nicht hinzufahren. Ebenso hat sie Taiwan in
eine Lage gebracht, in der es sich nicht leisten kann, sie nicht zu empfangen.
Und sie hat die chinesische Regierung in eine Lage gebracht, in der sie es sich
nicht leisten kann, nichts tun kann. Das führt zur Eskalation.
Die traurige Realität ist, daß sowohl das Weiße Haus als
auch das Militär in Washington diese Reise eher als schädlich denn als
hilfreich ansehen. Aber das Weiße Haus hatte nicht den Mut, Pelosis Reise zu
verhindern. Wir werden also sehen, was passiert...
Billington: Das war bei anderen Themen mit
Präsident Biden ähnlich. In mehreren Telefonaten mit Xi Jinping hat Biden dem
chinesischen Präsidenten versichert, daß die USA die Ein-China-Politik
respektieren und Taiwan nicht ermutigen werden, seine Unabhängigkeit zu
erklären. Dennoch tut seine Regierung ständig das Gegenteil. Und die
chinesische Führung hebt immer wieder hervor, daß alles in Ordnung wäre, wenn
die USA sich an das halten würden, was Biden in seinen Telefongesprächen
zugesagt hat. Wer macht die Politik in den USA?
Freeman: Es ist ganz klar, daß der Präsident
in dieser Frage keine offene Sprache spricht. Genau wie zu Israel, wo er
kürzlich zu Besuch war und die Vorzüge der Zweistaatenlösung anpries, die nun
aufgrund der von den Vereinigten Staaten unterstützten israelischen Aktionen
faktisch unmöglich ist. Im Falle Taiwans hatten die Vereinigten Staaten einmal
ein diplomatisches Abkommen mit den Chinesen über den Umgang mit dieser Frage,
aber das wurde scheibchenweise vernichtet. Jetzt bleibt uns keine andere
Möglichkeit als das Militär, und deshalb bereitet sich das US-Militär darauf
vor, die Kongreßsprecherin zu schützen. Schließlich ist sie dritte in der Reihe
der Nachrücker des Präsidenten und eine sehr wichtige Figur im Kongreß, der
laut US-Verfassung die wichtigste Regierungseinrichtung sein sollte. Das
Militär hat die Pflicht, sie zu schützen, selbst wenn sie etwas so Dummes tut
wie jetzt.
China hat gewarnt
Billington: Die Taiwan-Abteilung der
Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften – wahrscheinlich die führende
regierungsnahe Denkfabrik der Chinesen – hatte ein Treffen, bei dem es hieß:
„Sagt nicht, wir hätten euch nicht gewarnt.“ Das ist das, was vor dem
Grenzkrieg mit Indien 1962 und auch vor dem Einmarsch in Vietnam 1979 gesagt
wurde, vielleicht auch vor dem Eintritt in den Koreakrieg, ich bin mir nicht
sicher. Können die USA die Warnung diesmal ignorieren?
Freeman: Sie haben das auch vor dem Eintritt
in den Koreakrieg gesagt. Es bedeutet nicht, daß die Chinesen sofort handeln
müssen, aber es deutet darauf hin, daß wir an einem Wendepunkt angelangt sind,
an dem sich die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Konflikts erhöht hat.
Dafür wird Pelosi die Verantwortung übernehmen müssen.
Billington: Sie stimmen wahrscheinlich zu, daß
die USA Rußland soweit provoziert haben, daß es in die Ostukraine einmarschiert
ist. In Ihrem letzten Interview mit uns sagten Sie – das war vor dem Februar –,
wenn Rußland in die Ukraine einmarschiert, um seine Landsleute im Donbaß zu
schützen, könnte China das als Gelegenheit nutzen, China gewaltsam
wiederzuvereinigen. Welches Maß an Provokation würde die Chinesen Ihrer Meinung
nach dazu bewegen, jetzt militärisch einzugreifen?
Freeman: Ich denke, daß die Ukraine und Taiwan
insofern etwas gemeinsam haben, als die wichtigste Lehre, die wir aus den
Ereignissen in der Ukraine ziehen sollten, diese ist: Wer sich über die
nachdrücklich geäußerten Einwände einer Großmacht hinwegsetzt, der tut das auf
eigene Gefahr und auf Gefahr derer, die er angeblich schützen will. Rußland
wurde zu seinem Vorgehen in der Ukraine provoziert, was dieses Vorgehen aber
nicht rechtfertigt. Es war nicht gerechtfertigt, aber provoziert.
Eine ähnliche Möglichkeit besteht im Falle Taiwans. Die
Chinesen werden aber nicht so ungestüm sein wie Wladimir Putin. Er schickte
seine Truppen über die Grenze, ohne vorher seine Generäle über seine Absichten
zu informieren, ohne die logistische Unterstützung für die Invasion
vorzubereiten und ohne sich um die Moral der Truppe zu kümmern und ihnen zu
erklären, was ihr Auftrag ist. Es handelte sich also um eine ungestüme
Entscheidung, wahrscheinlich in letzter Minute getroffen, nachdem die Russen
versucht hatten, eine Einigung über die NATO-Erweiterung und die Ukraine
auszuhandeln, was jedoch scheiterte und von den Vereinigten Staaten
zurückgewiesen wurde.
Im Falle Taiwans hatten die Chinesen Jahrzehnte Zeit, seit
1995-96, als sie zum ersten Mal begannen, sich ernsthaft auf einen
militärischen Konflikt mit Taiwan vorzubereiten, nachdem die USA unser Abkommen
mit ihnen gebrochen und dem damaligen Präsidenten in Taipeh, Lee Teng-hui,
einen Besuch in den Vereinigten Staaten gestattet hatten. Das war eine
Initiative des Kongresses, die von der damaligen Clinton-Regierung, also der
Exekutive, abgelehnt wurde.
Auch heute ist es eine Initiative des Kongresses oder
zumindest der Parlamentspräsidentin. Es besteht also die Gefahr, daß die
Chinesen ihre Anstrengungen verdoppeln und den festen Entschluß fassen, Gewalt
gegen Taiwan anzuwenden. Nicht, daß sie das sofort tun werden. Sie werden es
erst dann tun, wenn sie sicher sind, daß sie bereit sind und gewinnen können.
Sie gehen davon aus, daß sie gewinnen werden, ganz gleich, ob die Vereinigten
Staaten sich ihnen in den Weg stellen oder nicht. Das ist also ihre
Planungsgrundlage. Das ist nichts, was erst gestern begonnen hat, und es wird
morgen nicht zuende sein.
Billington: Sie haben auf das chinesische
Anti-Sezessionsgesetz von 2005 verwiesen, in dem festgelegt ist, wann Beijing
die Anwendung von Gewalt zur Wiedervereinigung Chinas in Betracht ziehen würde.
Eine dieser Bedingungen ist, daß „alle Möglichkeiten einer friedlichen
Vereinigung verloren sind“. Sind diese Bedingungen Ihrer Meinung nach erfüllt?
Freeman: Das müssen die Chinesen selbst
beurteilen. Ich glaube, daß viele in Beijing überzeugt sind, daß diese
Bedingungen jetzt erfüllt sind, und das macht diesen Moment so gefährlich.
Billington: Es ist klar, daß Taiwan in einem
Krieg zwischen den USA und China völlig zerstört würde, unabhängig davon, wer
gewinnt, falls es so etwas wie einen Sieg gibt. Sollte das nicht ausreichen, um
eine solche Katastrophe zu verhindern, weil man in Taiwan eine solche
Zerstörung wie jetzt in der Ukraine nicht will?
Freeman: Eines der Probleme für Beijing ist,
daß es seine Warnungen so oft ausgesprochen und Taiwan so oft gewarnt hat, daß
das nun in den Wind geschlagen wird. Viele Menschen in Taiwan wollen einfach
gar nicht daran denken, daß es zur Wiederaufnahme des chinesischen Bürgerkriegs
kommen könnte.
Dabei ist es noch gar nicht so lange her, daß es in der
Straße von Taiwan aktive Luftkämpfe und Artilleriefeuer zwischen den
Streitkräften des Festlandes und Taiwans gab. Das endete erst am 1. Januar
1979, als die Vereinigten Staaten und China ihre Beziehungen normalisierten.
Die Chinesen haben also ein Problem: Wenn sie nicht eskalieren, verliert ihr
politischer und militärischer Druck auf Taiwan an Wert. Meiner Meinung nach
haben sie keine andere Wahl.
Billington: Der Handel zwischen Taiwan und dem
Festland ist enorm, ich glaube, er beläuft sich auf fast 200 Milliarden Dollar,
und es gibt umfangreiche taiwanesische Investitionen auf dem Festland. Wieviel
kann die Wirtschaft mitreden? Sicherlich würde sie jede provozierte
militärische Konfrontation verhindern wollen.
Freeman: Es gibt fast drei Millionen Taiwaner,
die auf dem Festland leben und arbeiten. Es handelt sich also in vielerlei
Hinsicht um eine sehr enge Beziehung zwischen Chinesen auf beiden Seiten der
Meerenge. Es gibt viele Menschen in Taiwan, die mit dem Festland Geschäfte
machen und die nicht wollen, daß diese Beziehungen durch den Ausbruch eines
Konflikts gestört werden.
Aber es gibt auch Menschen in Taiwan, die sich leidenschaftlich
für die Selbstbestimmung der Insel und ihre Abtrennung von China einsetzen, und
die nun zufällig an der Macht sind. Die Demokratische Fortschrittspartei (DPP)
hat sich die Unabhängigkeit auf die Fahnen geschrieben. Ihre Vorsitzende hat
sich, auch wenn sie jetzt sehr zurückhaltend ist, in der Vergangenheit offen
für die Unabhängigkeit ausgesprochen. Diese Tatsache hat den politischen Dialog
über die Meerenge im Wesentlichen beendet, und anstelle des allmählichen
Annäherungsprozesses gibt es eine Zunahme der Spannungen.
China ist kein Ungeheuer
Billington: Sie haben kürzlich John Quincy
Adams zitiert, daß die Herzen der Amerikaner zwar überall sind, wo der Fahne
der Freiheit und Unabhängigkeit hochgehalten wird, aber daß sie „nicht in der
Ferne nach Monstern suchen, die man zerstören kann“. Sicherlich versucht der
Anti-China-Mob in beiden Parteien und in den Medien hier, China als Monster
darzustellen. Ist China ein Ungeheuer?
Freeman: Ich glaube nicht, daß China in
irgendeiner Hinsicht ein Ungeheuer ist. Es existiert seit 4000 oder 5000 Jahren
und ist wirklich das einzige Beispiel einer vormodernen Gesellschaft, die ihre
Existenz über Jahrtausende erfolgreich aufrechterhalten hat.
Andererseits herrschen in China völlig andere Bedingungen
als in den Vereinigten Staaten. Es hat 14 Landgrenzen, Seegrenzen zu Japan und
Südkorea und zu Taiwan, das im immer noch nicht beendeten Bürgerkrieg besiegt
wurde. Und natürlich liegt die Siebte Flotte der USA vor den chinesischen
Küsten. Die USA führen jetzt täglich mindestens zwei oder drei aufdringliche
Patrouillen entlang der chinesischen Grenzen durch, was meiner Meinung nach
dazu führt, daß die Chinesen häufiger auf gefährliche Weise reagieren.
Aber China steht auch vor anderen Herausforderungen. Das
Land hat nur etwa ein Drittel der Ackerfläche der Vereinigten Staaten und viel
weniger Wasser als wir. Es hat mehr als die vierfache Bevölkerung, die es mit
diesen mageren Ressourcen ernähren muß. Trotzdem ist es sehr effizient, es ist
der größte Nahrungsmittelproduzent der Welt. Aber es steht immer am Rande des
Abgrunds. Die chinesische Geschichte ist voll von Beispielen für Massensterben
durch Hunger, politische Umwälzungen oder ausländische Invasionen.
Daher wollen die Chinesen eine Regierung, die stark und
handlungsfähig ist. Sie wollen eine starke Regierung, die die Verantwortung für
die Aufrechterhaltung der Ordnung und das Wohlergehen ihrer Familien übernimmt.
In den Vereinigten Staaten ist die Fehlertoleranz so groß, daß wir eine
Regierung wollen, die so wenig wie möglich tut. „Die beste Regierung ist die,
die am wenigsten regiert“, sagte Thomas Jefferson. Kein Chinese würde so etwas
jemals sagen.
Es gibt also einen Zusammenprall von Ideologie, politischer
Theorie und politischer Kultur, der in diese Beziehung eingebaut ist. Ich
denke, in China ist man sich darüber im klaren, daß die Vereinigten Staaten in
einzigartiger Weise gesegnet sind, mit Ressourcen, Raum, der Trennung vom Rest
der Welt durch Ozeane und wohlwollende Nachbarn, von denen nur zwei Landgrenzen
haben. Und die Chinesen sind sich sehr wohl bewußt, daß sie nichts von diesen
Segnungen haben. Das führt zu vielen Mißverständnissen zwischen den beiden
Ländern und veranlaßt einige Amerikaner, China als Anathema zu betrachten.
Billington: Die USA haben massive Sanktionen
gegen Rußland verhängt, obwohl die sich für den Westen als weitaus schädlicher
erwiesen haben als für Rußland. Aber in letzter Zeit geben sie offenbar nach.
Sie stimmten einem Getreideabkommen zwischen Rußland und der Ukraine über den
Getreideexport zu. Sie haben die Sanktionen gegen Lieferungen nach Kaliningrad
aufgehoben. Europa ist sehr gespalten über die Gaspolitik. Und Blinken hat
gerade mit Sergej Lawrow telefoniert. Der größte Teil der Welt trägt die
Sanktionspolitik nicht mit. Glauben Sie, daß die USA zum Einlenken und zur
Beendigung des Sanktionsregimes in Rußland und anderswo sowie zu Verhandlungen
mit Rußland und China gebracht werden können?
Freeman: Nach anderen Beispielen zu urteilen,
lautet die Antwort nein. Man hat zum Beispiel nicht auf maximalen Druck auf
Nordkorea oder auf den Iran verzichtet. Die Sanktionen haben fast durchgängig
nicht die politischen Ergebnisse erzielt, auf die sie angeblich abzielen,
nämlich eine Änderung der Politik, in diesem Fall eine Änderung der russischen
Politik.
Aber sie haben eine Geschichte enormer Kollateralschäden.
Die Sanktionen, die der Westen verhängt hat, ohne die möglichen
Kollateralschäden angemessen zu berücksichtigen, führen gerade zu einer
radikalen Umstrukturierung des globalen Energiemarktes, die nicht beabsichtigt
war. Sie strukturieren den globalen Lebensmittelmarkt radikal um, auch das in
einer Weise, die nicht beabsichtigt war.
Ich möchte Ihre Frage in einem Punkt korrigieren, Mike. Das
Getreideabkommen wurde von der UNO mit Hilfe der Türkei ausgehandelt. Die
Vereinigten Staaten und andere waren nicht daran beteiligt. Rußland stimmte zu.
Rußland hatte sogar immer wieder angeboten, die angebliche Blockade der
ukrainischen Häfen für Lebensmittellieferungen zu umgehen.
Das Problem mit den Lebensmittellieferungen begann
eigentlich damit, daß die Ukrainer ihre eigenen Häfen vorsichtshalber vermint
haben, um die Russen am Einlaufen zu hindern. In dem Moment kündigten die
Versicherungsgesellschaften die Versicherungen für Schiffe, die sich im Hafen
befanden oder versuchten, ihn zu erreichen oder zu verlassen, und der Handel
kam zum Erliegen.
Unabhängig davon, ob es die angebliche russische Blockade
gibt oder nicht, ob sie stattgefunden hat oder nicht, muß als erstes ein
gewisses Maß an Minenräumung stattfinden. Ich gehe davon aus, daß dies
zumindest in einem Hafen so weit geschehen ist, daß ein Schiff auslaufen
konnte. Ob das Schiff jemals zurückkehren wird, um mehr Getreide zu holen, ist
jedoch eine offene Frage. Das ist ein Kriegsgebiet. Mit den Schiffen, die dort
festsaßen, will keiner zurückkehren, um vielleicht wieder festzusitzen. Es gibt
keine Garantie, daß das nicht passiert, und es ist von Natur aus gefährlich,
ein Minenfeld zu durchqueren, ganz gleich, wie gut ein Steuermann ist.
Es handelt sich also um ein fragwürdiges Abkommen, das nicht
vom Westen mit Rußland geschlossen wurde, sondern von der UNO im Namen des
Globalen Südens, das von der Türkei vermittelt wurde und dem die Ukraine nur
widerwillig zustimmte.
Wirtschaftliche „Entkopplung“ schadet allen
Billington: Ich möchte Sie zu dem Schritt fragen,
der stolz als „Entkopplung“ der amerikanischen von der chinesischen Wirtschaft
bezeichnet wird. Was halten Sie davon, und was werden die Auswirkungen sein?
Freeman: Die Vereinigten Staaten und China
haben beide enorm von der Globalisierung profitiert, d.h. von der Ausweitung
der Lieferketten über internationale Grenzen hinweg. Das Nettoergebnis der
Entkopplung wird wahrscheinlich darin bestehen, daß sich das Wachstum sowohl
der chinesischen als auch der amerikanischen Wirtschaft verlangsamt.
Ein Teil der Abkopplung ist das Verbot für chinesische
Forscher, in US-Labors oder Universitäten an Dingen zu arbeiten, die von den
Machthabern in Washington als sensibel angesehen werden. Das wird den
Fortschritt bei Schlüsseltechnologien in den Vereinigten Staaten definitiv
bremsen. Wenn Sie irgendwo in Amerika ein Labor für künstliche Intelligenz besuchen,
werden Sie feststellen, daß etwa 60% der Mitarbeiter Ausländer sind, davon etwa
die Hälfte Chinesen, die andere Hälfte überwiegend Inder.
Man schickt diese chinesischen Forscher einfach zurück nach
China, wo die Regierung etwa dreimal soviel wie in den USA in die Entwicklung
fortschrittlicher elektronischer Technologien investiert. Die einzigen
Konkurrenten der Chinesen sind natürlich Taiwan, das über 90% des weltweiten
Chipmarktes hält, und Südkorea, das etwa sechs- oder siebenmal so viel wie die
USA in den Ausbau seiner Halbleiterindustrie investiert.
Die Entkopplung ist also im Grunde für alle schädlich und
wird wahrscheinlich nichts anderes bewirken, als daß die Vereinigten Staaten
auf internationaler Ebene mehr Konkurrenz bekommen, und sie wird wahrscheinlich
unsere internationale technologische Vormachtstellung eher bremsen als sichern.
Billington: Die hyperinflationäre Krise im
westlichen Finanzsystem, die durch die Sanktionen gegen Rußland noch verschärft
wurde, aber schon vorher begonnen hat, läßt wirklich fast jeden erkennen, daß
wir auf eine äußerst ernste Wirtschaftskrise im gesamten transatlantischen Raum
zusteuern. Helga Zepp-LaRouche hat, wie schon seit Jahrzehnten, aber in diesem
Moment der Krise besonders, zu einer neuen Bretton-Woods-Konferenz aufgerufen,
an der neben den USA auch Rußland und China teilnehmen sollten, um das zu
bewältigen. Haben Sie irgendeine Hoffnung oder Erwartung, daß so etwas zustande
kommen könnte?
Freeman: Nein, das habe ich nicht. Die
politischen Voraussetzungen dafür sind nicht gegeben. Es gibt keinerlei
Anzeichen dafür, daß die derzeitige Regierung in Washington Diplomatie im
traditionellen Sinne versteht oder praktiziert. Wir haben das beim Kollaps in
der Ukraine gesehen. Wir haben es mit dem Scheitern des sog. JCPOA, des
Iran-Atomabkommens, gesehen. Wir haben es mit der Sackgasse mit Nordkorea
gesehen. Wir haben es mit der Verschlechterung der Beziehungen zu China gesehen.
Ich glaube nicht, daß die politischen Voraussetzungen dafür gegeben sind.
Andererseits ist eine der Auswirkungen der Sanktionen und
anderer Folgen des Ukraine-Krieges die faktische Umstrukturierung des globalen
Finanzsystems. Fünf ASEAN-Länder haben sich jetzt auf die direkte Abwicklung
von Käufen über QR-Codes geeinigt. Der Iran und Rußland haben sich nicht nur
auf Swaps geeinigt, sondern auch auf eine ähnliche Vereinbarung über die
Verwendung russischer Kreditkarten im Iran, wobei SWIFT – die vom Westen
betriebene belgische Einrichtung, die normalerweise globale Transaktionen über
den Dollar abwickelt – umgangen wird. In ähnlicher Weise sind die BRICS in der
Endphase der Entwicklung einer länderübergreifenden Währung, die den Dollar für
die Zwecke der Handelsabwicklung ersetzen soll. Und natürlich erweitern sie
ihre Mitgliederzahl.
Wir sehen also eine Entwicklung hin zu bilateralen und
plurilateralen Mechanismen der Handelsabwicklung, die den Dollar vermeiden. Und
es ist sehr wahrscheinlich, daß wir uns auf dem Weg in eine Zukunft befinden,
in der der Dollar nicht mehr die fast monopolartige Stellung hat, die er bei
der Handelsabwicklung innehat, sondern lediglich eine von vielen Währungen sein
wird, in denen der Handel abgewickelt wird.
Ich möchte noch hinzufügen, daß die Frage, was eine
Reservewährung ist und was nicht, sich eigentlich davon ableitet, in welcher
Währung Handel abgewickelt werden kann und in welcher nicht. Aber es geht um
zwei ganz verschiedene Dinge. Man spricht über den Dollar als Reservewährung,
aber das geht irgendwie am Thema vorbei. Die wahre Stärke des Dollars wird von
Saudi-Arabien getragen, das 1974 einwilligte, den Weltenergiehandel in Dollar
zu denominieren, was die OPEC trotz der Einwände einiger Mitglieder wie
Algerien und Iran widerwillig befolgt hat. Solange der Dollar die
Rechnungseinheit für den Energiehandel und andere Rohstoffe ist, werden die
Vereinigten Staaten ihr sog. exorbitantes Privileg behalten. Aber sobald die
Saudis und andere anfangen, andere Währungen als den Dollar als Gegenleistung
für ihre Rohstoffproduktion zu akzeptieren, wird der Dollar zusammenbrechen und
wir werden eine massive Abwertung erleben, vergleichbar mit der 1971, als die
USA den Goldstandard aufgaben und der Dollar nicht mehr gegen Gold eintauschbar
war.
Dieser Prozeß spielt sich jetzt ab, und eine vernünftige
Reaktion darauf wäre in der Tat eine Art internationale Anstrengung, um einen
Übergang auszuhandeln. Aber ich sehe nicht die politische Basis dafür.
Billington: Sergej Glasjew, der jetzt einer
der Leiter der Eurasischen Wirtschaftsunion ist, und Wang Wen vom
Chongyang-Institut für Finanzstudien an der Renmin-Universität haben eine Reihe
von Seminaren zur Frage der Schaffung einer Alternativwährung zum Dollar für
den internationalen Handel abgehalten. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie es
damit weitergeht?
Freeman: Soweit ich weiß, geht es voran, aber
in erster Linie im Zusammenhang mit den von mir erwähnten BRICS-Diskussionen.
Auf dem letzten BRICS-Gipfel wurden aktive Anstrengungen zur Umsetzung dieser
Ideen unternommen. Sie sind noch nicht umgesetzt worden, und die Einzelheiten
sind noch etwas unklar. Aber ich denke, es steht außer Frage, daß es aktive
Bemühungen gibt, um genau das zu erreichen, was Wang und sein russischer
Amtskollege vorgeschlagen haben.
Billington: Das ukrainische Zentrum zur
Desinformationsbekämpfung, das von den NATO-Ländern finanziert wird, hat
kürzlich eine Liste von 78 prominenten internationalen Persönlichkeiten
veröffentlicht, die sie als russische Propaganda-Agenten bezeichneten und zu
„Informationsterroristen“ und „Kriegsverbrechern“ erklärten. 30 dieser 78
Personen hatten auf Konferenzen des Schiller-Instituts gesprochen, und auch Sie
haben auf Konferenzen des Schiller-Instituts gesprochen. Was halten Sie von
dieser Abschußliste?
Freeman: Es ist ein Zeichen der Zeit. Wer
keine ernsthaften Argumente hat, verlegt sich darauf, diejenigen zu verleumden,
die andrer Meinung sind. Das ist widerwärtig. Es ist ein Angriff auf das
Prinzip der freien Meinungsäußerung, das für die westliche Demokratie so
wichtig ist. Man muß das verurteilen.
Billington: Wie Sie als China-Gelehrter sehr
gut wissen, setzt sich das chinesische Schriftzeichen für „Krise“ aus den
Zeichen für „Gefahr“ und „Chance“ zusammen. Es ist sicherlich so, daß die
Menschen auf der ganzen Welt die extreme Gefahr der strategischen Krise
erkennen, die auf einen Krieg, vielleicht einen Atomkrieg, zusteuert, und auch
die Auswirkungen der Wirtschaftskrise spüren. Haben Sie das Gefühl, daß die
Bürger weltweit darauf reagieren? Sind sie ausreichend motiviert, um eine Wende
zur Vernunft zu erzwingen?
Freeman: Nur eine kleine Richtigstellung – das
chinesische Wort „Krise“ besteht aus zwei Schriftzeichen, nicht aus einem. Aber
ja. Ich nehme an, daß dies der Ursprung des Satzes ist (ich glaube, von Rahm
Emanuel), daß man eine Krise niemals ungenutzt lassen soll.
Leider muß ich sagen, daß ich glaube, daß die allgemeine
Reaktion auf internationaler Ebene und sicherlich in meinem eigenen Land, den
Vereinigten Staaten, von Verzagen und einem Gefühl der Ohnmacht und Frustration
geprägt ist, während sich das Äquivalent einer echten griechischen Tragödie
entfaltet. Jeder kann sehen, wohin das Ganze führt. Die Protagonisten machen
trotzdem weiter. Und der Chor bleibt ungehört.
Es ist also ein Moment, in dem die Menschen in der Tat ihre
Einwände gegen ein Handeln ausdrücken sollten, das unnötig einen Krieg,
möglicherweise einen Atomkrieg riskiert. Und unter anderem, wie Sie bereits
sagten, die sichere Zerstörung sowohl der Demokratie als auch des Wohlstands
Taiwans. Ich wünschte, ich könnte sagen, daß ich eine wirksame, breite Antwort
auf die Gefahren sehe, denen wir gegenüberstehen, ich sehe sie aber nicht.
Billington: Ich danke Ihnen.
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