Die Notwendigkeit eines neuen Paradigmas
Von Helga Zepp-LaRouche
Auf der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 9. April 2022
hielt die Vorsitzende des Instituts die folgende Grundsatzrede.
Liebe Konferenzteilnehmer aus aller Welt!
Was uns heute hier mit Teilnehmern aus mehr als 60 Ländern von vier
Kontinenten zusammenführt, ist unsere große Sorge, daß die Existenz der
Menschheit in großer Gefahr ist. Ziel unserer Konferenz ist es, das Bewußtsein
immer größerer gesellschaftlicher Kräfte auf der ganzen Welt dafür zu wecken,
daß es wegen der sich gegenwärtig zuspitzenden Gefahr einer strategischen
Konfrontation bald zu einem umfassenden militärischen Engagement zwischen der
NATO und Rußland kommen könnte, das in einem Weltkrieg enden könnte, der aller
Wahrscheinlichkeit nach die Auslöschung der Menschheit in einem anschließenden
nuklearen Winter bedeuten würde.
Das Ziel unserer Konferenz ist es daher, auf eindringliche Weise zu
demonstrieren, daß es eine unmittelbar machbare Alternative gibt – ein neues
Paradigma, das diese tödliche Bedrohung hinter sich lassen kann und eine neue
Ära der Menschheitsgeschichte im Einklang mit der wahren Natur der Menschheit
als der einzigen bisher bekannten vernunftbegabten Spezies einleiten kann.
Die Gefahr eines großen Krieges hat nicht am 24. Februar dieses Jahres
begonnen. Wie Lyndon LaRouche schon im August 1971 voraussagte, nachdem Nixon
die festen Wechselkurse des Bretton-Woods-Systems durch frei schwankende
Wechselkurse abgelöst hatte, mußte eine Fortsetzung dieser monetaristischen
Politik – wenn sie nicht korrigiert wird – unweigerlich zu einem neuen
Faschismus und einem neuen Weltkrieg führen. Und genau da sind wir jetzt, 50
Jahre später, angelangt. Die akute Gefahr eines großen Krieges rührt daher, daß
sich das transatlantische neoliberale Finanzsystem bereits vor dem Krieg in der
Ukraine im fortgeschrittenen Stadium des Zusammenbruchs mit dem Ausbruch der
Hyperinflation eines hoffnungslos bankrotten Systems befand.
Die wahren Gründe des Krieges
Um die wahren Gründe für die Ukraine-Krise zu verstehen, muß man zu den
Gründen zurückgehen, warum nach dem Zerfall der Sowjetunion die große
historische Chance für den Aufbau einer echten Friedensordnung, wie wir sie
damals mit dem Programm der Eurasischen Landbrücke vorgeschlagen haben, verpaßt
wurde. Ein guter Einstiegspunkt – ein Fenster, um einen Einblick zu bekommen –
ist ein Dokument, das der New York Times im März 1992 von einem
Whistleblower zugespielt wurde und das als die „Wolfowitz-Doktrin“ bekannt
wurde, die im Geiste des „Projekts für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert“
entstand. Darin hieß es, zur Mission der USA gehöre es, die Rolle der USA als
die einzige Supermacht in der Welt nach dem Ende der Sowjetunion zu sichern, die
über genügend militärische Macht verfügt, um jede Nation oder Gruppe von
Nationen davon abzuhalten, Amerikas Vorrangstellung in Frage zu stellen. Am 8.
März. 1992 schrieb die New York Times:
„...das Pentagon dokumentiert die bisher deutlichste Ablehnung des
kollektiven Internationalismus, der Strategie, die aus dem Zweiten Weltkrieg
hervorging, als die fünf Siegermächte versuchten, die Vereinten Nationen zu
gründen, die Streitigkeiten schlichten und Gewaltausbrüche kontrollieren
könnten“.
Die Wolfowitz-Doktrin war der eigentliche Grund dafür, daß das Versprechen,
das Außenminister James Baker im Februar 1990 bei drei verschiedenen
Gelegenheiten gegenüber Gorbatschow abgegeben hatte, die NATO werde sich „nicht
einen Zoll“ nach Osten ausdehnen, nicht eingehalten wurde. Die
Wolfowitz-Doktrin, die sich auf die anglo-amerikanischen Sonderbeziehungen
stützt, war das Grundaxiom für eine ganze Reihe von politischen Maßnahmen,
angefangen bei der sogenannten „Schocktherapie“, den vom IWF unterstützten
liberalen Reformen in Rußland in den 90er Jahren, die angesichts des
Rohstoffreichtums und der wissenschaftlichen Erfahrung Rußlands ausdrücklich
darauf abzielte, einen potentiellen künftigen Konkurrenten auf dem Weltmarkt
auszuschalten, und die die industrielle Kapazität Rußlands von 1991 bis 1994 auf
nur noch 30% reduzierte. Die Doktrin war auch die Grundlage für die
verschiedenen Interventionskriege im Irak, die Bombardierung Jugoslawiens, die
Kriege gegen Afghanistan, Libyen, Syrien sowie die fünf
NATO-Osterweiterungen.
Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 war ein dramatischer
Protest gegen die Umsetzung der unipolaren Welt, der im wesentlichen ebenso
unbeantwortet blieb wie die verschiedenen Definitionen „roter Linien“ bezüglich
der zentralen Sicherheitsinteressen Rußlands – bis hin zu der jüngsten, die
Putin am 17. Dezember gegenüber den USA und der NATO formulierte. Es geht um den
Konflikt zwischen dem Anspruch, im wesentlichen eine unipolare Welt
aufrechtzuerhalten, und der Entstehung einer multipolaren Welt, als das
natürliche Ergebnis des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas, der Anziehungskraft
der Gürtel- und Straßen-Initiative (BRI) auf mehr als hundert Länder, der
strategischen Partnerschaft zwischen Rußland und China und in jüngster Zeit der
Weigerung vieler Länder wie Indien, Pakistan, Brasilien, Südafrika und anderer,
in die geopolitische Konfrontation zwischen dem Westen und Rußland und China
hineingezogen zu werden. Dieser Konflikt ist der Kern der derzeitigen
Gefahr.
Es ist schrecklich, daß mitten in Europa Krieg herrscht, aber genauso
schrecklich waren die Kriege im Irak, in Afghanistan, in Libyen, in Syrien, im
Jemen usw., doch sie wurden in den Nachrichten kaum erwähnt. Und hat
irgendjemand geglaubt, daß das russische Militär zu anderen Schlußfolgerungen
kommen könnte, als es sah, wie immer härtere Sanktionen verhängt wurden, wie
verschiedene Szenarien der Rand-Denkfabrik durchgespielt wurden und wie
westliche Politiker im Chor davon sprachen, die russische Wirtschaft zu
„vernichten“, Putin zu „vernichten“ und das russische System zu „vernichten“ –
die größte Atommacht der Welt? Und nun, nachdem die Verhandlungen zwischen
russischen und ukrainischen Delegationen in der Türkei einen ersten
hoffnungsvollen Schritt erreicht hatten, dienen Bilder von Kriegsgräueln dazu –
ohne auch nur eine Minute der Unschuldsvermutung bis zum Beweis der Schuld –,
weitere Sanktionen zu verhängen, Diplomaten auszuweisen und offen mit dem
Bankrott Rußlands zu drohen.
Diese Politik zielt offen auf einen Regimewechsel ab, in dem Bemühen, nicht
nur Putin, sondern ganz Rußland auf unbestimmte Zeit zu einem Paria unter den
Nationen zu machen, es aus dem UN-Sicherheitsrat, sogar aus der UNO und der G20
auszuschließen, was diese Institutionen zerstören würde. Sie wird die
vollständige politische und wirtschaftliche Entkopplung zwischen dem Westen und
Rußland und China bewirken. Diese Politik richtet schon jetzt weltweit
verheerende Schäden in der Realwirtschaft an, in den sogenannten
Versorgungsketten, und sie katapultiert die Zahl potentieller Opfer einer
globalen Hungersnot auf eine Milliarde Menschen, das ist ein Achtel der
Menschheit! In vielen Ländern des Nahen Ostens, Afrikas, Lateinamerikas gibt es
bereits Hungerproteste. Gleichzeitig droht durch die Inflation der Preise für
Lebensmittel, Energie und Rohstoffe die Hälfte der Industrieproduktion in vielen
Ländern wegzubrechen, es drohen Massenarbeitslosigkeit und ein totaler
Zusammenbruch ins Chaos.
Ein neues System entsteht
Ein neues System ist bereits im Entstehen, mit China und der BRI, Rußland,
Indien und anderen im Mittelpunkt. Es gibt viele neue strategische
Ausrichtungen, die SCO (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit), die BRICS
(Brasilien-Rußland-Indien-China-Südafrika), die Beziehungen zwischen der OIC
(Organisation der Islamischen Konferenz) und China, die vielen Beziehungen
zwischen dem globalen Süden.
Aber selbst das Konzept einer multipolaren Welt löst das Problem nicht, denn
es birgt immer noch die Gefahr einer geopolitischen Konfrontation. Wir brauchen
eine dramatische, plötzliche Veränderung in der Art und Weise, wie wir unsere
Angelegenheiten organisieren. Sie muß mit der ehrlichen, expliziten Einsicht
beginnen, daß man bei einer Fortsetzung der gegenwärtigen Politik einen Konflikt
riskiert, bei dem es keinen Gewinner gibt, und daß deshalb eine neue
Friedenskonferenz in der Tradition des Westfälischen Friedens notwendig ist.
Die Erkenntnis, daß Friedensverhandlungen die einzige verbleibende Option
waren, dämmerte damals den Kriegsparteien nach 150 Jahren Religionskrieg in
Europa, von denen der Dreißigjährige Krieg nur der Höhepunkt war, denn sie
erkannten, daß niemand mehr am Leben sein würde, der den Sieg genießen könnte,
wenn der Krieg weiterginge. Heute wären in einem Atomkrieg viele Städte
innerhalb von Stunden tot, und der Rest der Menschheit würde in einer atomar
verseuchten Welt so lange leiden, bis entweder alles Leben endet oder die
wenigen unglücklichen Überlebenden sich den Kopf zerbrechen, warum die
Menschheit unfähig war, ihre eigene Zerstörung zu verhindern.
Deshalb muß unverzüglich eine Dringlichkeitskonferenz im Geiste des
Westfälischen Friedens einberufen werden, auf der „um des Friedens willen alle
Verbrechen, die von der einen oder anderen Seite begangen wurden, vergeben und
vergessen werden müssen“ und „um des Friedens willen jede Politik die Interessen
der anderen berücksichtigen muß“.
Die Absicht muß sein, eine neue internationale Sicherheits- und
Entwicklungsarchitektur zu schaffen, die den Sicherheitsinteressen aller Länder
auf dem Planeten Rechnung trägt. Es muß einen sofortigen Waffenstillstand geben.
Und wir müssen ein neues Kreditsystem schaffen, welches das bankrotte
Finanzsystem, als die eigentliche Ursache für die Kriegsgefahr, ablöst. Dieses
muß auf den Prinzipien des ursprünglichen Bretton-Woods-Systems beruhen, wie es
von Franklin Roosevelt beabsichtigt war, aber aufgrund seines zu frühen Todes
nie umgesetzt wurde.
Diese Prinzipien, die Lyndon LaRouche in einem Entwurf für ein Memorandum
zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion skizzierte, das am 30. März
1984 veröffentlicht wurde, nachdem die Sowjetunion Präsident Reagan Angebots
abgelehnt hatte, bei der technologischen Überwindung von Atomwaffen
zusammenzuarbeiten, sind auch heute noch absolut gültig.
In diesem Memorandum heißt es:
„Artikel 1: Allgemeine Bedingungen für den Frieden
Die politische Grundlage für einen dauerhaften Frieden muß sein: a) die
bedingungslose Souveränität aller Nationalstaaten und b) die Zusammenarbeit
zwischen souveränen Nationalstaaten mit dem Ziel, unbegrenzte Möglichkeiten zur
Teilhabe an den Vorteilen des technischen Fortschritts zum gegenseitigen Nutzen
aller zu fördern.
Das wichtigste Merkmal der heutigen Umsetzung einer solchen Politik für
dauerhaften Frieden ist eine tiefgreifende Veränderung der monetären,
wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen den dominierenden Mächten
und den relativ untergeordneten Nationen, die oft als ,Entwicklungsländer‘
bezeichnet werden, denn ohne eine schrittweise Beseitigung der aus dem modernen
Kolonialismus herrührenden Ungerechtigkeiten kann es keinen dauerhaften Frieden
auf diesem Planeten geben.
Soweit die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion – heute: die Russische
Föderation und die Volksrepublik China – anerkennen, daß der Fortschritt der
produktiven Kräfte der Arbeit auf dem gesamten Planeten im vitalen strategischen
Interesse aller liegt, sind diese Mächte in diesem Maße durch ein gemeinsames
Interesse verbunden. Das ist der Kern der politischen und wirtschaftlichen
Praxis, die für die Förderung eines dauerhaften Friedens zwischen diesen Mächten
unerläßlich ist.“
Das Engagement für ein globales Programm zur Armutsbekämpfung, wie es z.B. im
Bericht des Schiller-Instituts „Die neue Seidenstraße wird zur Weltlandbrücke“
skizziert wird, oder die Vorschläge Chinas für eine Zusammenarbeit zwischen der
BRI, dem Build Back Better-Programm der USA und dem Global Gateway-Programm der
EU können zum eigentlichen Entwicklungsfundament für eine globale
Sicherheitsarchitektur werden. Die Ukraine kann, anstatt als Kanonenfutter in
einer geopolitischen Konfrontation zu dienen, die Brücke zwischen Europa und den
anderen eurasischen Nationen sein.
Angesichts der gegenwärtigen Pandemie und der Gefahr künftiger Pandemien muß
in jedem Land ein modernes Gesundheitssystem aufgebaut werden. Angesichts der
Hungersnot, die das Leben von einer Milliarde Menschen bedroht, und des zu
erwartenden Bevölkerungswachstums müssen die Regierungen Sofortmaßnahmen
ergreifen, um die Nahrungsmittelproduktion zu verdoppeln und eine gesunde
Ernährung für alle Menschen zu gewährleisten.
Das Völkerrecht, wie es sich aus dem Westfälischen Frieden entwickelt hat und
in der UN-Charta festgeschrieben wurde, muß ohne jede Einschränkung
wiederhergestellt werden. Die „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“
müssen die Leitlinien für die Zusammenarbeit aller Nationen sein.
Die gegenwärtige existenzielle Krise hat gezeigt, daß die Menschheit entweder
eine gemeinsame Zukunft hat oder gar keine, und daß wir das Interesse der einen
Menschheit über alle nationalen Interessen stellen müssen, und daß von nun an
jedes nationale Interesse im Einklang mit dem Interesse der Menschheit als
Ganzes stehen muß.
Es ist ein Ausdruck des Reichtums unserer menschlichen Zivilisation, daß sie
verschiedene Kulturen hervorgebracht hat. Wir müssen den Dialog der besten
Traditionen dieser Kulturen, der schönsten Schöpfungen in Wissenschaft und Kunst
als Beweis für die einzigartige Kreativität des Menschen fördern und auf diese
Weise eine neue Renaissance schaffen, die eine neue Ära der Menschheit einleiten
wird.
Wir werden den Haß und die Vorurteile gegenüber anderen Kulturen, die nur
bestehen, wenn wir sie nicht kennen, durch eine zärtliche Liebe zur gesamten
Menschheit ersetzen, denn der Mensch ist das wertvollste Gut im bekannten
Universum.
|