„Die Mehrheit hat keine Ahnung, auf welchem Pulverfaß wir sitzen“
Von Helga Zepp-LaRouche
Die Gründerin und Präsidentin des internationalen
Schiller-Instituts hielt auf der Parlamentarier-Konferenz am 27. Oktober 2022
die folgende Rede. Sie wurde aus dem Englischen übersetzt,
Zwischenüberschriften sind hinzugefügt.
Hallo, ich grüße Sie, wo immer Sie auch sein mögen. Dieses Treffen, das
eigentlich eine Fortsetzung des Treffens vom 7. Oktober ist, bei dem wir mit
den angesehenen Kongreßabgeordneten aus Lateinamerika zusammenkamen, macht uns
klar, daß wir eine zusätzliche Anstrengung unternehmen müssen, um die
Weltbevölkerung gegen die Gefahr zu mobilisieren, in der wir uns befinden. Und
ich denke, eine der beunruhigendsten Tatsachen der gegenwärtigen Situation
ist, daß diejenigen, die sich mit der Gefahr eines Atomkriegs und der
Eskalation befaßt haben, erkennen, daß die große Mehrheit der Menschen auf
diesem Planeten keine Ahnung hat, auf welchem Pulverfaß wir sitzen.
Wenn man sich an die frühen 1980er Jahre erinnert, als wir in Europa die
Mittelstreckenraketen-Krise mit der SS-20 und der Pershing II hatten, die mit
einer Vorwarnzeit von nur wenigen Minuten gegeneinander gerichtet wurden:
Damals waren Hunderttausende von Menschen auf der Straße und warnten vor dem
Dritten Weltkrieg. Und heute, wo die Situation so viel gefährlicher ist,
passiert sehr wenig. Es gibt ein paar Demonstrationen, aber nicht in einer
Größenordnung, die der Gefahr des Aussterbens der Zivilisation entspricht,
wovon wir sprechen, wenn nur eine einzige Atomwaffe eingesetzt würde.
Um Ihnen einen Eindruck zu vermitteln: Heute, am 27. Oktober, bis zum 30.
Oktober, also noch drei Tage nehmen die gesamte NATO sowie die gesamten
russischen Streitkräfte an ihren jährlichen Atomübungen teil. Das heißt, die
Arsenale der beiden größten Atommächte proben gerade einen Atomkrieg. Das ist
die Ausgangslage für das NATO-Manöver Steadfast Noon, bei dem die
Bereitschaft ihres Atomwaffenarsenals geübt wird. Angesichts der Tatsache, daß
Rußland das Hauptziel ist, wird ein Atomkrieg gegen Rußland geprobt. Das
bedeutet, daß das gesamte Arsenal der B-52-Bomber aus den Vereinigten Staaten
auf den europäischen Schauplatz gebracht wurde. Gleichzeitig führen die Russen
ihre regelmäßigen Manöver durch, die Grom genannt werden, das ist das
russische Wort für Donner. Das ist ebenfalls ein großes Manöver, bei dem auch
scharfe Raketen abgefeuert werden.
In Anbetracht der Spannungen handelt es sich hier nicht um Routinemanöver,
auch wenn sie von beiden Seiten als solche deklariert wurden. Es handelt sich
vielmehr um Manöver inmitten einer von Tag zu Tag gefährlicher werdenden
Situation im Ukraine-Krieg, und das im Zusammenhang mit allen möglichen
Manövern. Erinnern Sie sich zum Beispiel daran, daß der russische
Verteidigungsminister Schoigu vor wenigen Tagen alle seine Kollegen – die
Verteidigungsminister der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der Türkei –
angerufen hat, um sie zu warnen, daß er über Geheimdienstinformationen über
die Vorbereitung einer schmutzigen Atombombe durch die Ukraine verfüge, für
die sie dann in einer fingierten Operation Rußland verantwortlich machen
würden. Natürlich wurde das von ukrainischer Seite dementiert, aber erst
gestern setzte Schoigu diese Serie von Telefonaten fort, indem er den
indischen und den chinesischen Verteidigungsminister anrief und ebenfalls über
diese Situation sprach.
Erst vor kurzem hatte der ukrainische Präsident Selenskyj bei einem Treffen
mit den Australiern praktisch den präventiven Einsatz von Atomwaffen gegen
Rußland gefordert – was dann wieder zurückgenommen wurde, seine Berater
sagten, er habe es nicht so gemeint. Der NATO-Generalsekretär Stoltenberg
sagte, daß ein Sieg Rußlands in der Ukraine eine Niederlage der NATO bedeuten
würde und daher nicht toleriert werden könne. Präsident Biden hatte am 6.
Oktober in einem mehr oder weniger privaten Gespräch davor gewarnt, daß der
Einsatz taktischer Atomwaffen von Seiten Rußlands zu einem „Armageddon“ führen
könnte – was dann auch korrigiert wurde. Verteidigungsminister Schoigu sagte,
daß der Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine absolut nicht zur Debatte stehe,
nicht einmal am weiteren Horizont.
Die Nukleardoktrin
Das alles findet natürlich im Kontext der Frage statt, welche Seite welche
Nukleardoktrin hat. Es ist eine unumstößliche Tatsache, daß die russische
Nuklear-Militärdoktrin den Einsatz von Atomwaffen nur für den Fall vorsieht,
daß die territoriale Existenz Rußlands auf dem Spiel steht. Das ist unter
normalen Umständen natürlich nicht der Fall. Auf der anderen Seite haben die
Vereinigten Staaten seit der Bush-Regierung eine Erstschlagdoktrin. Das ist
etwas, worüber absolut nicht geredet wird, und ich denke, wir müssen darüber
reden, denn seit die USA die Doktrin des „Prompten Globalen Schlags“ haben,
enthält sie das Element des Einsatzes eines Erstschlags.
Als Präsident Biden am 20. Januar 2021 sein Amt antrat, versprach er, dies
klarzustellen und die US-Doktrin dahingehend zu korrigieren, daß die
Vereinigten Staaten Nuklearwaffen nur zur Abschreckung eines nuklearen
Angriffs oder, falls nötig, zur Vergeltung eines nuklearen Angriffs einsetzen
würden.
Ich denke daher, daß wir eine sehr breite Diskussion unter Militärexperten
führen müssen. Ist es akzeptabel, der NATO anzugehören, wenn die Politik der
NATO auf einen Erstschlag ausgerichtet ist?
Das ist keine theoretische Frage, die sehr weit hergeholt ist. Wir sollten
zur Kenntnis nehmen, daß der Leiter des Strategischen Kommandos, Admiral
Richard, der im Februar 2021 dem Pentagon geraten hatte, die
Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Atomwaffen von „nicht wahrscheinlich“ auf
„wahrscheinlich“ zu ändern. Das war also die Antwort.
Erst letzte Woche tauchte das US-Schiff USS West Virginia, ein
U-Boot mit ballistischen Raketen, im Arabischen Meer auf. Der russische
Experte Alexander Timochin schrieb in der Zeitschrift Vzglyad, dem
russischen Wort für Aussicht, das äußerst seltene Auftauchen eines U-Boots der
USA – normalerweise lassen sich diese U-Boote nicht gerne sehen und ihr
Standort gilt als geheim – sei eine Demonstration der Vereinigten Staaten
gewesen, daß sie in der Lage seien, einen Erstschlag zu führen, um die
russischen Atomwaffenarsenale präventiv zu entwaffnen und einen russischen
Vergeltungsschlag zu verhindern, indem sie solche Raketen auf eine flache
Flugbahn statt auf eine ballistische Bahn bringen und damit die Flugzeit
erheblich verkürzen, was der russischen Seite die Möglichkeit eines
Gegenschlags nähme.
Ich weiß nicht, ob das stimmt. Jedenfalls ist das alles sehr
besorgniserregend, und ich denke, wir brauchen eine öffentliche Debatte
darüber, denn wenn wir dem Mißtrauen und der Annahme, daß dies passieren
könnte, so nahe sind und die Russen eine sog. Weltuntergangsstrategie haben,
dann würde das bedeuten, wenn die russische Führung durch einen Erstschlag
ausgeschaltet würde, hätte sie einen Automatismus, der alle nuklearen
Fähigkeiten in Gang setzen würde, selbst wenn die russische Führung bereits
ausgeschaltet ist.
Ich denke, all diese Entwicklungen sind wirklich ein Grund für eine total
alarmierte Situation. Was auf dem Spiel steht, ist die Existenz der
menschlichen Gattung. Wir haben auf dem letzten Treffen am 7. Oktober darüber
gesprochen, daß im Falle eines Atomkrieges – und alle kompetenten
Militärexperten sind sich einig, daß es so etwas wie einen taktischen
Atomkrieg nicht gibt –, wenn eine einzige Atomwaffe eingesetzt wird, das
gesamte Arsenal eingesetzt würde, und das wäre dann das Ende der Zivilisation.
Denn ein nuklearer Winter würde höchstwahrscheinlich die wenigen Milliarden
Menschen auslöschen, die den eigentlichen Atomkrieg überleben würden. Es wäre
wahrscheinlich das Ende der Menschheit, zumindest in der Form, wie wir sie
jetzt kennen. Wenn einige Unglückliche in den folgenden Jahren überleben
würden, sollte man sich an das Wort von John F. Kennedy erinnern, der sagte,
daß diejenigen, die in den ersten Stunden sterben, noch Glück haben werden,
verglichen mit denen, die es schaffen, ein paar Wochen oder Monate oder Jahre
weiterzuleben.
Wie Weltbürger denken
Da also die Existenz der gesamten Zivilisation auf dem Spiel steht, haben
wir darüber diskutiert, daß dies per Definition bedeutet, daß jeder Mensch auf
diesem Planeten ein Weltbürger ist und wie ein Weltbürger denken muß. Wir sind
dazu berufen, die eine Menschheit zu vertreten, deren Existenz gerade auf dem
Spiel steht.
Aus diesem Grund wollen wir diese Mobilisierung ausweiten. Wir wollen sie
in alle Länder tragen, und wir wollen eine Gruppe von Nationen, welche auch
immer es sein mag, dazu bringen, daß sie sich mit dieser Situation befassen.
Wir müssen eine Dringlichkeitssitzung der UN-Vollversammlung einberufen, oder
eine andere Gelegenheit wäre das kommende G-20-Treffen in Indonesien Mitte
November. Aber eine Gruppe von Nationen muß aktiv werden und eine Alternative
zu dieser Gefahr anbieten.
Das Schiller-Institut setzt sich seit dem Ausbruch dieses Krieges für eine
internationale Konferenz ein, um ein neues Paradigma zu schaffen – eine neue
internationale Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur, die die Interessen
aller Länder der Erde berücksichtigt. Das heißt: Eine europäische
Sicherheitsarchitektur ist eindeutig gescheitert, wenn man die Länder nicht
einbezieht, die derzeit völlig ausgeschlossen werden sollen. Es gibt
tatsächlich Bestrebungen, die Vereinigten Staaten und Europa und einige ihrer
wenigen Verbündeten von Rußland, China, den BRICS-Ländern und der SCO
abzukoppeln. Das wird nicht funktionieren. Man kann die Welt nicht in zwei
Teile spalten und glauben, daß es bei all den Problemen, die wir haben, eine
Lösung geben kann.
Wir brauchen einen Vorschlag für eine neue internationale Sicherheits- und
Entwicklungsarchitektur, eine neue Weltwirtschaftsordnung, die auch der
Tatsache Rechnung trägt, daß sich das transatlantische Finanzsystem in einem
hyperinflationären Zusammenbruch befindet.
Wir haben im Falle Großbritanniens und des unglücklichen Schicksals der
kurzzeitigen Premierministerin Liz Truss gesehen, daß die Bemühungen der
Zentralbanken – in diesem Fall der Bank of England – zunächst auf eine
Quantitative Lockerung abzielen, d.h. Geldpumpen, um dann feststellen, daß
dies zu Inflation führt; dann geht man zu einer Quantitativen Straffung über,
um dann festzustellen, daß dies zu einem Zusammenbruch der Aktien- und
Anleihemärkte führen kann, so daß man wieder zur Quantitativen Lockerung
zurückkehrt. Das ist keine praktikable Lösung. Wenn die Europäische
Zentralbank in den nächsten Tagen das Gleiche tut, wird sie die gleiche
Erfahrung machen wie die Bank of England.
Wir sind am Ende des Systems, und wir brauchen ein neues Geldsystem, ein
neues Kreditsystem, das es uns ermöglicht, die Armut für alle Menschen auf
diesem Planeten zu überwinden. Wir brauchen ein neues Konzept, wie wir die
Dinge so organisieren können, daß jedes Land der Erde sein volles Potenzial
entfalten kann.
Darüber wollen wir eine breite Diskussion anstoßen, und wie Dennis (Small)
schon sagte, war es Schillers Überzeugung, daß man ein Patriot seines Landes
sein und gleichzeitig als Weltbürger handeln kann, der im Interesse der
gesamten Menschheit handelt.
Wir haben in der Geschichte der Menschheit den Punkt erreicht, an dem
entweder die menschliche Gattung diesen evolutionären Sprung macht, indem sie
zuerst an die gemeinsame Menschheit denkt und das nationale Interesse an die
zweite Stelle setzt. Es ist in Ordnung, ein nationales Interesse zu haben,
aber es sollte niemals im Widerspruch zu den Interessen der Menschheit als
Ganzer stehen.
Wir rufen dazu auf, eine Bewegung von Weltbürgern aller Länder zu
organisieren, um sich zu vereinigen, denn das könnte die letzte Möglichkeit
sein, um etwas zu stoppen, zu dem sonst nicht einmal mehr ein Historiker einen
Kommentar abgeben könnte. Wir möchten Sie alle einladen, sich daran zu
beteiligen und dazu beizutragen, diese Bemühungen auszuweiten. Wir danken
Ihnen.
|