Grundsätze einer neuen Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur
Von Helga Zepp-LaRouche
Auf dem Seminar „Stoppt den Atomkrieg jetzt!“ am 22. November
2022 hielt die Gründerin des Schiller-Instituts die folgende Rede.
Was Menschen aus der ganzen Welt hier auf dieser Konferenz zusammengeführt
hat, ist die Erkenntnis, daß die Menschheit an einem Scheideweg steht. Es
besteht eindeutig die Gefahr, daß die gegenwärtige geopolitische Konfrontation
zwischen den Kräften, die das westliche liberale Demokratiemodell als das
einzig „gute“ und akzeptierte durchsetzen wollen, und jenen, die darauf
bestehen, daß die Idee einer unipolaren Welt unwiderruflich vorbei ist und
bereits durch eine multipolare Weltordnung ersetzt wurde, zu einem
thermonuklearen Krieg führen könnte.
Ein solcher Krieg könnte kurzfristig durch den Stellvertreterkrieg in der
Ukraine ausgelöst werden, sei es absichtlich oder versehentlich. Eine solche
Krise könnte noch in diesem Jahr ausbrechen, wenn Vorschläge umgesetzt werden
wie der, den Malcolm Chalmers, der stellvertretende Generaldirektor des
britischen Royal United Service Institute (RUSI), Anfang des Jahres machte,
„den russischen Frosch zu kochen“, indem man durch den Versuch einer
Rückeroberung der Krim eine „Kubakrise auf Steroiden“ auslöst. Darin könnte
Rußland eine existentielle Bedrohung sehen und sein Atomwaffenarsenal in
höchste Alarmbereitschaft versetzen und mit dessen Einsatz drohen. „Es wäre
ein Moment extremer Gefahr“, argumentiert Chalmers, aber gerade wegen der
extremen Gefahr, die von einer solchen Situation ausgehe, könne es für alle
Parteien „einfacher“ sein, Kompromisse zu finden.
Solche Vorschläge einer Politik, die darauf abzielt, den strategischen
Konflikt an den Rand der Auslöschung der Menschheit zu treiben, werden von den
ach so guten Regierungen der „regelbasierten Ordnung“ kommentarlos
hingenommen.
Wenn man dagegen mit Fakten argumentiert – daß die russische Intervention
in der Ukraine eine Vorgeschichte hat –, kann einem das im schlimmsten Fall
eine Gefängnisstrafe einbringen, gemäß einem neuen Gesetz, das der Deutsche
Bundestag am 20. Oktober mit einer Änderung von Artikel 130 des
Strafgesetzbuches, Absatz 5, verabschiedet hat.
Ganz im Einklang mit dieser britischen Sichtweise steht offenbar der
stellvertretende ukrainische Verteidigungsminister Hawrylow, der in einem
Interview mit Sky News sagte: „Wir können die Krim bis Ende Dezember
betreten“ und betonte, die Krim müsse unbedingt zurückerobert werden: „Es ist
nur eine Frage der Zeit, und natürlich würden wir es lieber früher als später
machen.“
Die Briten scheinen sich wieder darin zu übertreffen, Weltkriege zu
verursachen, denn es war Boris Johnson, der im April persönlich dafür sorgte,
daß die Zusage, den Krieg durch Verhandlungen zu beenden, sabotiert wurde.
Leider scheint die Mehrheit des transatlantischen Sicherheitsestablishments,
von denen sich viele gerade auf der internationalen Sicherheitskonferenz in
Halifax trafen, der gleichen Meinung zu sein. Da heißt es: „Der Weg, die
Demokratie auf der Welt zu schützen, führt derzeit über Waffen und die
Unterstützung des Kampfes der Ukraine gegen Rußland, nicht über Gespräche.“
Sie verwerfen sogar den Vorschlag des amerikanischen Generalstabschefs,
General Mark Milley, daß jetzt die Zeit für Diplomatie reif sei.
Diese verbrecherische Politik eines nuklearen Spiels mit dem Feuer, die in
sich die Gefahr der Vernichtung der gesamten Menschheit in einem globalen
Atomkrieg und anschließendem nuklearen Winter birgt, macht jeden Menschen auf
der Welt automatisch zum Weltbürger, der Mitverantwortung für den Ausgang
dieser gegenwärtigen Konjunktion der Menschheitsgeschichte übernehmen muß!
Deshalb wollen wir eine internationale Bewegung von Weltbürgern katalysieren,
die sich dafür einsetzen, eine neue internationale Sicherheits- und
Entwicklungsarchitektur auf die Tagesordnung zu setzen, die die Interessen
jedes Landes auf dem Planeten berücksichtigt.
Dieses Konzept, die Interessen aller Länder zu berücksichtigen, war der
Grundsatz des Westfälischen Friedens, der nach 150 Jahren Religionskrieg in
Europa die Grundlage für den Frieden schuf und den Beginn des Völkerrechts
darstellte und damit auch die Grundlage für die UN-Charta bildete, die wir
aufrechterhalten und wiederherstellen müssen.
Oligarchisches Modell contra souveräner Nationalstaat
Welches sind die grundlegenden Prinzipien, auf denen eine solche neue
globale Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur aufbauen muß?
Im Mittelpunkt einer solchen neuen Architektur muß das Menschenbild stehen,
auf das sich alle Nationen einigen können. Der Mensch unterscheidet sich von
allen anderen Gattungen durch seine Gabe der schöpferischen Vernunft – als das
einzige Lebewesen, das immer wieder neue gültige Prinzipien des physikalischen
Universums entdecken kann und durch die Anwendung dieses
wissenschaftlich-technischen Fortschritts im Produktionsprozeß die
Lebensqualität, die Lebenserwartung und die Zahl der lebenden Menschen erhöhen
kann. Es ist dieses kreative Potential, was das menschliche Leben heilig
macht.
Die zu Ende gehende Epoche ist der Zeitraum der letzten rund 600 Jahre,
seit der Entstehung des souveränen Nationalstaates auf der Grundlage der
Schriften des Nikolaus von Kues und des ersten solchen souveränen
Nationalstaates unter Ludwig XI. in Frankreich im 15. Jahrhundert, der sich
zum ersten Mal um das Gemeinwohl des Volkes kümmerte, und dem Widerstand gegen
diese Idee von Seiten des Venezianischen Reiches. Seit 600 Jahren herrscht ein
ständiger Kampf zwischen diesen beiden Regierungsformen – dem souveränen
Nationalstaat und der oligarchischen Gesellschaftsform –, der hin und her
schwankt, wobei jeweils die eine oder die andere Richtung ein Übergewicht
hat.
Alle Reiche, die auf dem oligarchischen Modell basierten, waren darauf
ausgerichtet, die Privilegien der herrschenden Elite zu schützen und
gleichzeitig zu versuchen, die Masse der Bevölkerung möglichst rückständig zu
halten, weil menschliche Schafe leichter unter Kontrolle zu halten sind. Es
galt als „normal“, bestimmte Teile der Bevölkerung als Sklaven oder Heloten zu
halten, wie Schiller in seiner Schrift über die Gesetze von Solon und Lykurgus
beschreibt, die getötet werden können, wenn sie zu zahlreich werden.
Dieselbe oligarchische Sichtweise lag auch der Ideologie von Malthus
zugrunde, und ebenso jeder kolonialen Politik, eingeschlossen die modernen
Formen des Kolonialismus, vor denen Präsident Sukarno in seiner Rede auf der
ersten Konferenz von Bandung 1955 warnte.
Gegen diesen modernen Kolonialismus gibt es jetzt eine kraftvolle
Renaissance der Blockfreien-Bewegung (Non-Aligned Movement, NAM), die an einem
neuen Wirtschaftssystem arbeitet, unter Einbeziehung der BRICS-Plus, denen
immer mehr Länder beitreten wollen, der SCO, der EAEU und anderer
Organisationen des Globalen Südens.
Schon als im Römischen Reich das Christentum entstand, tauchte zum ersten
Mal in der europäischen Zivilisation die Idee auf, daß jeder Mensch als
Ebenbild des Schöpfers heilig ist und mit jener schöpferischen Kraft, der
„vis creativa“, wie Cusa sie nennt, ausgestattet ist, die aus seiner
Ähnlichkeit mit dem Schöpfer hervorgeht. Dieser Gedanke findet sich auch in
den beiden anderen monotheistischen Religionen, dem Judentum und dem Islam,
ebenso wie im säkularen Humanismus, im Konfuzianismus oder in der indischen
Philosophie und Religion in der Tradition der vedischen Schriften, sowie in
Anklängen an diesen Gedanken in anderen Kulturen. Wann immer in diesen
Religionen Strömungen aufkamen, die sich von der Idee entfernten, daß alle
Menschen heilig sind – wie in den Kreuzzügen oder der Inquisition –, bedeutete
dies, daß sie von den oligarchischen Eliten für ihre Zwecke instrumentalisiert
wurden.
Zehn Prinzipien
Das neue Paradigma, das die neue Epoche prägen wird und an dem sich die
neue globale Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur orientieren muß, muß
daher das Konzept des Oligarchismus endgültig beseitigen und die politische
Ordnung so gestalten, daß der wahre Charakter der Menschheit als schöpferische
Gattung verwirklicht werden kann. Deshalb schlage ich vor, daß die folgenden
Prinzipien diskutiert und, wenn man sich darauf einigt, verwirklicht werden
müssen. Diese Ideen sind als Denkanstoß für Dialog zwischen allen Beteiligten
gedacht, um eine Grundlage für eine Weltordnung zu finden, die die dauerhafte
Existenz der menschlichen Gattung garantiert.
1. Die neue internationale Sicherheits- und
Entwicklungsarchitektur muß eine Partnerschaft vollkommen souveräner
Nationalstaaten sein, die sich auf die Fünf Prinzipien der friedlichen
Koexistenz und die UN-Charta stützt.
2. Absolute Priorität muß die Linderung der Armut in jedem
Land der Erde haben, was leicht möglich ist, wenn die vorhandenen Technologien
zum Nutzen des Gemeinwohls eingesetzt werden.
3. Die Lebenserwartung aller lebenden Menschen muß durch die
Schaffung moderner Gesundheitssysteme in jedem Land der Erde soweit wie
möglich verlängert werden. Dies ist auch der einzige Weg, wie die
gegenwärtigen und möglichen zukünftige Pandemien überwunden oder verhindert
werden können.
4. Da die Menschheit die einzige bisher bekannte kreative
Gattung im Universum ist, und angesichts der Tatsache, daß die menschliche
Kreativität die einzige Quelle des Reichtums durch die potentiell grenzenlose
Entdeckung neuer universeller Prinzipien ist, muß eines der Hauptziele der
neuen Internationalen Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur (ISDA) darin
bestehen, jedem Kind und jedem Erwachsenen Zugang zu universeller Bildung zu
verschaffen. Die wahre Natur des Menschen ist es, eine schöne Seele zu werden,
wie Friedrich Schiller dies erörtert, und die einzige Person, die diese
Bedingung erfüllen kann, ist das Genie.
5. Das internationale Finanzsystem muß so umgestaltet werden,
daß es produktive Kredite zur Erreichung dieser Ziele bereitstellen kann. Ein
Bezugspunkt kann das ursprüngliche Bretton-Woods-System sein, wie es von
Roosevelt geplant war, aber wegen seines frühen Todes nie umgesetzt wurde,
dazu die von Lyndon LaRouche vorgeschlagenen Vier Gesetze. Vorrangiges Ziel
eines solchen neuen Kreditsystems muß es sein, den Lebensstandard insbesondere
der Nationen des Globalen Südens und der Armen im Globalen Norden drastisch zu
erhöhen.
6. Die neue Wirtschaftsordnung muß darauf ausgerichtet sein,
die Voraussetzungen für eine moderne Industrie und Landwirtschaft zu schaffen,
angefangen mit der infrastrukturellen Entwicklung aller Kontinente, die
letztlich durch Tunnel und Brücken zu einer Weltlandbrücke verbunden werden
sollen.
7. Die neue globale Sicherheitsarchitektur muß das Konzept
der Geopolitik abschaffen, indem sie die Aufteilung der Welt in Blöcke
beendet. Die Sicherheitsbelange jeder souveränen Nation müssen berücksichtigt
werden. Nuklearwaffen und andere Massenvernichtungswaffen müssen sofort
verboten werden. Durch internationale Zusammenarbeit müssen die Mittel
entwickelt werden, um Atomwaffen technologisch überflüssig zu machen, so wie
es ursprünglich mit dem Vorschlag beabsichtigt war, der als SDI bekannt wurde,
wie dies LaRouche vorgeschlagen und Präsident Reagan der Sowjetunion angeboten
hatte.
8. Früher konnte eine Zivilisation an einem Ende der Welt
untergehen, und der Rest der Welt erfuhr es erst Jahre später, weil die
Entfernungen zu groß und die Reisezeiten zu lang waren. Heute sitzt die ganze
Menschheit aufgrund von Atomwaffen, Pandemien, Internet und anderen globalen
Wechselwirkungen zum ersten Mal in einem Boot. Daher kann eine Lösung für die
existentielle Bedrohung der Menschheit nicht über sekundäre oder partielle
Vereinbarungen gefunden werden, sondern die Lösung muß auf der Ebene des
höheren Einen gefunden werden, das mächtiger ist als die Vielen. Sie erfordert
das Denken auf der Ebene der Coincidentia Oppositorum des Nikolaus von
Kues.
9. Um die Konflikte zu überwinden, die aus den Differenzen
erwachsen, mit denen die Imperien die Kontrolle über ihre Untertanen
aufrechterhalten haben, muß die wirtschaftliche, soziale und politische
Ordnung mit der Gesetzmäßigkeit des physischen Universums in Einklang gebracht
werden. In der europäischen Philosophie wurde dies als das Sein im Einklang
mit dem Naturrecht diskutiert, in der indischen Philosophie als Kosmologie,
und in anderen Kulturen lassen sich entsprechende Begriffe finden. Moderne
Wissenschaften wie Weltraumwissenschaft, Biophysik oder Kernfusionsforschung
werden das Wissen der Menschheit über diese Gesetzmäßigkeit kontinuierlich
erweitern. Eine ähnliche Übereinstimmung findet sich in den großen Werken der
klassischen Kunst in verschiedenen Kulturen.
10. Die Grundannahme des neuen Paradigmas ist, daß der Mensch
grundsätzlich gut ist und fähig ist, die Kreativität seines Geistes und die
Schönheit seiner Seele unendlich zu vervollkommnen, und daß er die am
weitesten entwickelte geologische Kraft im Universum ist, was beweist, daß die
Gesetzmäßigkeit des Geistes und die des physischen Universums in
Übereinstimmung und Kohäsion stehen und daß alles Böse das Ergebnis eines
Mangels an Entwicklung ist und daher überwunden werden kann.
Es entsteht eine neue Weltwirtschaftsordnung, an der die große Mehrheit der
Länder des Globalen Südens beteiligt ist. Die europäischen Nationen und die
Vereinigten Staaten dürfen diese Bemühungen nicht bekämpfen, sondern müssen
sich mit den Entwicklungsländern zusammentun, um die nächste Epoche der
Entwicklung der menschlichen Gattung zu einer Renaissance der höchsten und
edelsten Ausdrucksformen der Kreativität zu gestalten!
Lassen Sie uns daher eine internationale Bewegung von Weltbürgern schaffen,
die gemeinsam die nächste Phase der Menschheitsentwicklung, die neue Ära
gestalten! Weltbürger aller Länder, vereinigt euch!
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