Die Welt braucht Gandhis gewaltfreie direkte Aktion
Das Schiller-Institut veranstaltete in Manhattan ein Forum zum 75. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens.
Das Schiller-Institut nahm den 75. Jahrestag der indischen Unabhängigkeit
am 15. August zum Anlaß, im Rahmen des „Manhattan Dialogue“ die Bedeutung der
Ideen, die damals die Unabhängigkeitsbewegung und ihren Führer Mahatma Gandhi
inspiriert haben, für die Überwindung der heutigen globalen Krise zu
beleuchten. Das Forum umfaßte drei Redner: Helga Zepp-LaRouche, die Gründerin
und Präsidentin des internationalen Schiller-Instituts, Sam Pitroda,
ehemaliger Minister und Berater mehrerer indischer Ministerpräsidenten, und
Diane Sare, Musikerin, Dirigentin und unabhängige Kandidatin für den US-Senat
in New York.
Helga Zepp-LaRouche berichtete über ihre zahlreichen Treffen, die sie
zusammen mit ihrem 2019 verstorbenen Ehemann Lyndon LaRouche mit führenden
indischen Politikern, Intellektuellen, Wissenschaftlern und Studenten hatte,
darunter die Premierminister Indira Gandhi und Rajiv Gandhi, Präsident K.R.
Narayanan, Philologen, mit denen sie über die Rolle des Sanskrit-Genies Panini
und des Unabhängigkeitsführers Bal Gangadhar Tilak diskutierten, und viele
andere. Sie erörterte Mahatma Gandhis Rolle bei der Beseitigung des
unsäglichen Übels des britischen Raj durch gewaltfreie direkte Aktionen. Diese
Methode sei heute unerläßlich, um die existentielle Krise der Menschheit zu
lösen, wenn wir den derzeitigen Abstieg in einen globalen Krieg und
wirtschaftlichen Zerfall verhindern wollen.
Erfolge, Sorgen und Herausforderungen
Sam Pitroda, ein heute 80jähriger indischer Erfinder und Unternehmer, der
unter sieben indischen Regierungschefs als Minister oder Berater diente,
berichtete über das Leben in den indischen Dörfern zur Zeit der
Unabhängigkeit: „Direkt vor unserem Haus wohnte eine muslimische Familie,
daneben ein Bauri. Rechts von der muslimischen Familie lebte eine
Santhal-Familie, und hinter uns wohnte eine Familie vom Stamm der Kharia. Wir
lebten alle in Frieden und Harmonie, wie eine große Familie. Zu dieser Zeit
konzentrierte sich Indien auf seine Stärke, die Demokratie, die Vielfalt und
die Integration, und viele der Gedanken und Ideen Gandhis lagen in der
Luft.“
Mit der Unabhängigkeit eröffnete sich ihm die Möglichkeit, eine höhere
Schule zu besuchen. „Ich ging aufs College, machte einen Bachelor in Physik,
einen Master in Physik, und kam dann 1964 nach Amerika, um in Physik zu
promovieren, Elektrotechnik zu studieren und Unternehmen aufzubauen.“
Der Wunsch, wieder mit Indien in Verbindung zu sein, brachte ihn Anfang der
80er Jahre nach Indien zurück, um mit Rajiv Gandhi zusammenzuarbeiten. „Ich
hatte Indira Gandhi 1981 vorgetragen, daß Telekommunikation und IT das Gesicht
Indiens verändern würden.“ Indien habe viel erreicht: „Dank der Grünen
Revolution können wir uns selbst mit Nahrungsmitteln versorgen; wir haben
Raumfahrtprogramme, die mit denen aller anderen Länder der Welt vergleichbar
sind; wir haben Atomenergie; wir sind der größte Milchproduzent. Sie kennen
die Erfolgsgeschichte im Bereich IT und Telekommunikation. Wir sind der größte
Produzent von Impfstoffen.“
Aber es gebe auch weniger erfreuliche Entwicklungen. „Ich muß Ihnen sagen,
daß ich mir zum 75. Jahr der Unabhängigkeit Indiens ein wenig Sorgen um die
Zukunft mache, denn was in den letzten Jahren geschehen ist, beunruhigt mich.
Wir haben dieses Konzept des Hindu Rashtra eingeführt, bei dem wir die Muslime
diskriminieren. Es gibt 200 Millionen Muslime in Indien. Sie sind unsere
Brüder, sie sind unsere Vettern. Wir müssen sie respektieren. Wir sind immer
noch ein Kastensystem. Wir diskriminieren unsere Einwohner, die in gewissem
Maße auch andere diskriminieren. Frauen genießen nicht den Respekt, den wir
ihnen in Indien geben müssen…
Die polarisierte Politik hat diese Sorgen noch verstärkt. Die Demokratie
wird in vielerlei Hinsicht vereinnahmt, Institutionen werden systematisch
vereinnahmt – sei es die Justiz, die Sicherheit, das Bildungswesen, die
Polizei, das Finanzamt und viele andere Regierungsinstitutionen. Die
Zivilgesellschaft wird untergraben und wissenschaftliches Denken, Logik und
rationale Standpunkte werden angegriffen.“
Er betonte: „Wir brauchen einen neuen Entwurf, der sich auf Integration,
menschliche Bedürfnisse, neue Wirtschaft, Nachhaltigkeit, Umweltschutz und
Gewaltlosigkeit konzentriert. All diese fünf Dinge sind in Indien sehr
wichtig. Indien kann der Welt mit gutem Beispiel vorangehen und die Richtung
vorgeben, wenn es beginnt, seine internen Systeme neu zu gestalten…
In dieser Zeit brauchen wir meiner Meinung nach mehr Gandhis, Pandit
Nehrus, Sardar Patels, Maulana Azads und Subhas Chadhar Boses. Wir brauchen
solche Menschen mit Charakter, Charisma und Werten, die auf einem hohen
moralischen Niveau stehen können, um das Indien der Zukunft wirklich
aufzubauen. Die Welt braucht die indische Idee des Nationenaufbaus. Die Welt
ist heute auf der Suche nach Lösungen… Wir müssen uns ständig fragen, was gut
für den Planeten und was gut für die Menschen ist. Wenn es nicht gut für den
Planeten und nicht gut für die Menschen ist, dann lohnt es sich nicht.“
Wie erlangen wir Gerechtigkeit?
Diane Sare ist die Gründerin des Öffentlichen Chores des Schiller-Instituts
in New York City und kandidiert bei der Senatswahl im US-Staat New York als
Unabhängige gegen den Fraktionschef der Demokraten im US-Senat, Charles
Schumer. Sie berichtete über den Anlaß und das Motiv der Gründung des Chores
im Jahr 2014, ein Konzert gegen Gewalt, nachdem ein Afroamerikaner bei einer
Polizeikontrolle gewürgt und getötet worden war, aber eine Jury in New York
entschieden hatte, keine Anklage gegen den verantwortlichen Polizisten zu
erheben, woraufhin es zu massiven Protesten kam.
Sie betonte: „Wir stehen vor einer Herausforderung, die auch Gandhi in
Indien empfunden hat, nämlich: Welche Möglichkeiten hat man, wenn man den
Eindruck hat, daß einem die Gerechtigkeit verweigert wird? Wenn man sich nicht
darauf verlassen kann, daß die Gerichte die Beweise ernst nehmen und zu einem
gerechten Urteil kommen? Was bleibt der Bevölkerung dann übrig, um eine Lösung
zu finden, ein besseres Verständnis zu erreichen oder die Ungerechtigkeit zu
beseitigen?“
Das gleiche Problem stelle sich im Umgang der Nationen miteinander: „Ich
denke, wir haben heute eine Situation, wo in der anglo-amerikanischen,
NATO-basierten Welt die Vorstellung herrscht, Gerechtigkeit sei Rache und
Gerechtigkeit entstehe aus einer ,regelbasierten Ordnung' – aber die Regeln
sind willkürlich. Sie werden von denjenigen festgelegt, die meinen, sie hätten
die Macht, anderen ihren Willen aufzuzwingen, und leiten sich nicht von den
Prinzipien des Naturrechts ab.“
Sie schloß ihre Ausführungen: „Ich zweifle, ob das Notwendige erreicht
werden kann, wenn die Vereinigten Staaten nicht zu ihrer wahren Identität
zurückkehren – wobei ich nicht wirklich ,zurückkehren‘ sagen möchte, denn ich
denke, daß es eine Entwicklung geben muß, die weiter fortgeschritten ist, als
die, mit der wir begonnen haben. Aber wir sollten mindestens zu der
Verfassungsidee zurückkehren, daß alle Menschen gleich geschaffen und mit
unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, und daß der Zweck der Regierung
das Prinzip des Gemeinwohls ist. Das wäre ein guter Ansatzpunkt.
Ich denke aber, wir müssen darüber hinausgehen. Es wäre wichtig, daß wir an
diesem 75. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens, das sich mit gewaltlosen
Mitteln vom größten Imperium in der Geschichte der Menschheit, dem Britischen
Empire, befreit hat, darüber nachdenken, welche Bedeutung das heute hat. Und
ich denke auch, daß die Fragen, die Sam Pitroda aufgeworfen hat, sehr wichtig
sind, nicht nur für Indien, sondern für die ganze Menschheit, und daß wir in
den Vereinigten Staaten uns ähnliche Fragen stellen sollten.“
Den Mitschnitt der Veranstaltung (im englischen Original) finden Sie auf
der Internetseite des Schiller-Instituts unter: https://schillerinstitute.com/blog/2022/08/16/live-event-tribute-to-the-75th-anniversary-of-indian-independence/
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