Wladimir I. Wernadskij: Wissenschaftliches Denken als geologische Kraft
Von William C. Jones
William C. Jones war jahrelang EIR-Korrespondent im Weißen
Haus. In der Internetkonferenz des Schiller-Instituts hielt er am 19. Juni
2022 den folgenden Vortrag. (Übersetzung aus dem Englischen.)
© Krafft Ehricke

Der Weltraumpionier und –visionär Krafft Ehricke (1917-1984), ein Freund und
Mitarbeiter von Lyndon LaRouche und Helga Zepp-LaRouche.
Ich beginne mit einem Zitat des verstorbenen ehemaligen Peenemünder
Raumfahrtingenieurs Krafft Ehricke, Freund und Mitarbeiter von Lyndon LaRouche
und Helga Zepp-LaRouche sowie Vorstandsmitglied des Schiller-Instituts: „Wenn
Gott gewollt hätte, daß der Mensch eine raumfahrende Spezies wird, dann hätte
er ihm den Mond gegeben.“
Ehricke sprach auch über den extraterritorialen Imperativ. Was für ein
„Imperativ“ war das eigentlich? Einerseits denke ich, daß es mit der
angeborenen Neugier und dem Wunsch des Menschen zu tun hat, mehr wissen zu
wollen und Geheimnisse zu lüften. Der Mond ist ganz in der Nähe. Es scheint,
als könnte man ihn berühren, wenn man lange Arme hat. Aber er war für Ehricke
auch ein „Imperativ“, denn der Mond verfügte auch über beträchtliche
natürliche Ressourcen, die für das Leben auf der Erde von Bedeutung sein
würden. Ehricke war einer der ersten, der die Idee des Bergbaus auf dem Mond
ernsthaft diskutierte und entwickelte. Ehricke entwickelte auch die
sogenannten
„Drei Grundgesetze der Astronautik:
Erstes Gesetz: Unter dem Naturrecht dieses Universums erlegt nichts
und niemand dem Menschen irgendwelche Beschränkungen auf, außer er sich
selbst.
Zweites Gesetz: Das rechtmäßige Betätigungsfeld des Menschen ist
nicht nur die Erde, sondern das ganze Sonnensystem und soviel vom Universum,
wie er unter den Naturgesetzen erreichen kann.
Drittes Gesetz: Indem er sich im Universum ausbreitet, erfüllt der
Mensch seine Bestimmung als Element des Lebens – ausgestattet mit der Macht
der Vernunft und der Weisheit des Moralgesetzes in sich.“
© Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften
Wladimir Wernadskij
Ähnliche Gedanken hatte bereits der russisch-ukrainische Wissenschaftler
Wladimir Iwanowitsch Wernadskij geäußert:
„Es gibt in der Biosphäre eine mächtige geologische Kraft, vielleicht sogar
kosmischer Natur, deren planetare Wirkung in unserer Vorstellung des Kosmos,
d.h. in unserer Vorstellung von Wissenschaft, nicht berücksichtigt wird. Diese
Kraft erscheint weder als eine neue besondere Ausprägung oder Energieform,
noch ist sie einfach ein Ausdruck bekannter Energien. Dennoch übt diese Kraft
einen profunden und mächtigen Einfluß auf den Gang der energetischen Phänomene
der Erde aus und muß deshalb ohne Zweifel einen, wenn auch weniger starken
Widerhall jenseits der Erdkruste haben, in der Existenz des Planeten selbst.
Diese Kraft ist der menschliche Geist, gelenkt und organisiert durch den
Willen des Menschen in seiner sozialen Existenz.“
Vielleicht ist er Ihnen bekannter als Krafft Ehricke, vielleicht aber auch
nicht. Abgesehen von Dmitri Mendelejew sind die wissenschaftlichen Durchbrüche
russischer Wissenschaftler im Westen nicht sehr bekannt. Nur wenige Werke von
Wernadskijs produktivem Schaffen sind übersetzt worden, wobei die erste
französische Version seines bahnbrechenden Werks Die Biosphäre eine
frühe Ausnahme darstellt. Wernadskij leistete aber wichtige Beiträge zur
Kristallographie, Mineralogie, Hydrologie, Kosmochemie und Meteorologie. Er
kann durchaus als Begründer des Fachgebiets angesehen werden, das als
„Biogeochemie“ bekannt ist, d.h. die Untersuchung, wie lebende Materie das
anorganische Universum umgestaltet. Er war der erste russische
Wissenschaftler, der sich um die vorletzte Jahrhundertwende für die
Entwicklung der Kernenergie in Rußland einsetzte.
Wernadskij war auch ein Wissenschaftshistoriker, und seine Sichtweise
wissenschaftlichen Arbeitens dürfte für die Wissenschaftler von heute von
großer Bedeutung sein, insbesondere sein Verständnis der neuen Rolle, die die
Wissenschaft in der wirtschaftlichen Entwicklung spielen muß, seit die
Menschheit in dieses Zeitalter eingetreten war. Wernadskij nannte diese neue
Ära später die „Ära der Noosphäre“.
Wernadskij war auch ein herausragender Organisator der Wissenschaft.
Während des Ersten Weltkriegs ergriff er in Rußland die Initiative zur
Gründung der Kommission zur Erforschung der natürlichen Produktivkräfte
Rußlands (KEPS), die das vorhandene Wissen über strategische Kriegsmaterialien
zusammenführen und neue Informationen über die Ressourcen Rußlands sammeln
sollte.
Wernadskij und die Ukraine
Ich möchte mich heute aber auf Wernadskijs ukrainische Seite konzentrieren,
angesichts der Ereignisse, die sich dort heute abspielen. Insbesondere möchte
ich mit dem von der derzeitigen ukrainischen Regierung verbreiteten Mythos
aufräumen, die Ukraine sei nie Teil der russischen Kultur und Geschichte
gewesen, außer vielleicht als Opfer. Die Puschkinstraße wird jetzt zur
Stephen-King-Straße; die Gagarin-Straße ist jetzt die Neal-Armstrong-Straße.
Tolstois Krieg und Frieden darf in ukrainischen Schulen nicht mehr
unterrichtet werden, weil darin die russische Armee im Kampf gegen Napoleon
gelobt wird. Welch ein Hohn! Welche ungeheure Verarmung des kulturellen Lebens
der jungen Ukrainer! Und was für eine Verzerrung der wahren Geschichte. Und
leider haben wir im Westen mit unseren eigenen Einschränkungen für russische
Sänger und Künstler weitgehend nachgezogen.
Der in St. Petersburg geborene Wladimir Iwanowitsch Wernadskij liebte die
Ukraine. Seine Familie hatte ihre Wurzeln in der ukrainischen Kosakenregion
Saporischja. Seine Eltern wurden beide in Kiew geboren und sprachen fließend
Ukrainisch, das Wladimir sich selbst beibrachte. Seine Mutter sang zu Hause
ukrainische Lieder. Und ein Großteil seiner kreativen und revolutionären
Arbeit in der Erforschung der lebenden Materie wurde in der Ukraine und ihrer
blühenden natürlichen Umwelt ermöglicht.
Während die ukrainische Kultur und Sprache vom Russischen Reich oft
verboten wurde, unterstützten Wernadskij und viele andere Russen den Wunsch
der Ukraine nach Autonomie und das Recht ihrer Kultur, sich zu entwickeln.
1918 erhielt Wernadskij, der wegen der bolschewistischen Revolution ein
Sabbatjahr in St. Petersburg verbrachte und sich damals in seinem Sommerhaus
in Poltawa in der Ukraine aufhielt, von einem ukrainischen Kollegen die
Einladung, nach Kiew zu kommen und bei der Organisation des intellektuellen
Lebens in der Region zu helfen.
Die Ukraine war durch den Friedensvertrag, den die bolschewistische
Regierung mit Deutschland geschlossen hatte, für Rußland verlorengegangen.
Damit stand die Ukraine unter deutscher Besatzung. Wernadskij hatte jedoch
zuvor in St. Petersburg an Gesprächen mit ukrainischen Kollegen teilgenommen,
in denen die Möglichkeit der Gründung einer ukrainischen Akademie der
Wissenschaften als Teil der St. Petersburger Akademie erörtert wurde.
Wernadskij nahm die Einladung an.
Er selbst hatte sich eingehend mit der Geschichte der Akademiebewegung
befaßt. Er vertrat jedoch die Ansicht, daß in dieser neuen Ära, in der das
wissenschaftliche Denken zu einer geologischen Kraft geworden war, ein anderes
Konzept der Akademie erforderlich war. Sie dürfe nicht bloß eine Versammlung
bekannter Wissenschaftler sein, die zusammenkommen, um wissenschaftliche
Fragen zu erörtern, sondern sie müsse vielmehr als Grundlage für eine
Mobilisierung der gesamten intellektuellen Kräfte der Nation dienen, in der
Art des späteren Manhattan-Projekts, um das Land auf ein höheres Niveau zu
heben.
Seine Vorschläge sahen die Schaffung einer autonom gewählten Akademie vor,
die vollständig von der Regierung finanziert werden sollte. Ihr sollte eine
Nationalbibliothek angegliedert sein, die das gesamte verfügbare geistige
Material, das für das Leben des Landes wichtig ist, in allen Sprachen, Bücher,
Manuskripte, Musiknoten, literarische Hinterlassenschaften bedeutender
Intellektueller sammeln sollte. Sie müsse die Werke der Weltkultur aufnehmen
und für die Welt offen sein. Gleichzeitig müßten Studien über die ukrainische
Literatur und Kultur eingerichtet und eine Kommission für die Erstellung eines
Wörterbuchs der ukrainischen Sprache eingesetzt werden. Die Bibliothek müsse
für alle zugänglich und kostenlos sein.
© Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften
Die Mitarbeiter des von Wernadskij gegründeten Biogeochemischen Labors in
den 1930er Jahren. Wernadskij ist in der zweiten Reihe (5.v.r.) zu sehen.
Das Akademieprojekt umfaßte weiter ein nationales Bildungs- und
Forschungsprogramm, ein agronomisches Institut, ein chemisches Labor, ein
Institut für biologische Studien, ein meteorologisches Observatorium, ein
mineralogisches Museum und ein historisches Museum. Wernadskij gründete auch
eine KEPS-Kommission für das Studium der Produktivkräfte der Ukraine. Der
Vorschlag zur Gründung der Akademie wurde von der Regierung angenommen, und
Wernadskij wurde zu ihrem ersten Präsidenten gewählt.
Man muß sich vor Augen halten, daß die politische Lage in der Ukraine zu
dieser Zeit instabil war. Während der Zeit der Gründung der Akademie 1918-1920
gab es mehr als drei Regierungen. Als die Deutschen nach ihrer Niederlage im
Westen abzogen, übernahm eine radikal-nationalistische Regierung die Macht,
die später von den Bolschewiki gestürzt wurde. Außerdem gab es wie heute eine
Reihe westlicher Nationen, die sich um die Ukraine scharten, um zu sehen, wer
die besten Teile dieses Kernlandes bekommen würde: Frankreich, Polen, Rumänien
und vor allem Großbritannien.
Doch die Akademie überlebte diese politischen Wirren ebenso wie die
Ukraine, die dann Teil der Sowjetunion wurde. Wernadskij holte auch Leute von
der Russischen Akademie, um bei der Organisation zu helfen, und angesichts der
Tatsache, daß den Ukrainern im Russischen Reich in erster Linie nur
„Ukraine-Studien“ zugeteilt worden waren, war der Großteil der ausgebildeten
Wissenschaftler Russen.
Wernadskij setzte sie zunächst ein, um ukrainische Aspiranten auszubilden,
die in die Wissenschaft eintraten. Man kann sogar sagen, daß der Grundstein
für die ukrainische Nationalität von einer Person gelegt wurde, die der
bedeutendste Vertreter der russischen Wissenschaft ist. Wenn die Ukraine zu
dieser Tradition zurückkehren könnte, würde dies dazu beitragen, den Schaden
zu beheben, den die anglo-amerikanische Politik des „Teile und Herrsche“
angerichtet hat, die die Ukraine in den Stellvertreterkrieg der NATO mit
Rußland gezogen hat.
Die Ukrainische Akademie lebt heute ebenso wie die Nationalbibliothek der
Ukraine, die immer noch den Namen Wernadskijs trägt. Ich glaube, Wernadskijs
Bild ziert immer noch den 1000-Hrywnja-Schein, obwohl jemand vorgeschlagen
hat, ihn durch das Bild der ukrainischen Faschisten-Ikone Stepan Bandera zu
ersetzen – ein weiteres Stück Wahnsinn, das von einer verwirrten Nation
hervorgebracht wird.
© Krafft Ehricke
Krafft Ehrickes Konzept eines Weltraumfrachters mit Nuklearantrieb für die
Industrialisierung des Mondes.
© Chris Sloan
Krafft Ehrickes Konzept einer Stadt auf dem Mond („Selenopolis“) mit einem
Kernfusions-Kraftwerk.
Für uns im Westen muß die Lehre darin bestehen, uns auf unsere eigene beste
Tradition zu besinnen, die ja genauso unter einer ähnlichen Kampagne zur
„Abschaffung der Kultur“ leidet wie jene, die den gesunden Menschenverstand
der ukrainischen Nation schwer gestört hat. In den 1960er Jahren hatten wir
unter John F. Kennedy ein Wissenschaftsprogramm im „Manhattan-Stil“, bei
dem das Ziel, einen Menschen zum Mond zu fliegen und heil zur Erde
zurückzubringen, zum gemeinsamen großen Ziel unserer Staatsführung,
unseres Bildungssystems und unserer wissenschaftlichen Einrichtungen wurde.
Dies führte zu einem enormen Optimismus und einer großen Hoffnung für die
Zukunft bei unserer Jugend. Das haben wir verloren, und wir leiden sehr
darunter, die traurigen Resultate können wir jeden Tag in unseren Zeitungen
lesen.
Aber um das heute zu erreichen, müssen wir die Engstirnigkeit unserer
derzeitigen politischen Führung ablehnen. Andere Nationen folgen diesem
Muster, vor allem China und Rußland, unter repressiven Umständen, die von den
westlichen Nationen geschaffen wurden. Wenn wir versuchen, den Handel
abzuschneiden, den Austausch wissenschaftlicher
Informationen einzuschränken und gegen China und andere Länder, die
ihre eigenen wissenschaftlichen Fähigkeiten entwickeln wollen, eine
Politik der virtuellen technologischen Apartheid zu betreiben, dann stellen
wir uns gegen alles, was Amerika eigentlich groß gemacht hat. Wir müssen zum
Mond zurückkehren, aber nicht als imperialer Colonel Blimp, der hofft, dort
die Fahne aufzustellen und ihn für das Mutterland zu erobern, sondern als
Vertreter der Menschheit, die in Zusammenarbeit mit anderen
raumfahrenden Nationen, einschließlich China und Rußland, unterwegs ist –
und mit dem Ziel, die gesamte Menschheit zu einer raumfahrenden Spezies zu
machen.
China hat eine geologische Karte für die Ausbeutung der Ressourcen des
Mondes erstellt, dank des Leiters des Instituts für Geochemie, Ouyang Ziyuan,
dem Vater des chinesischen Chang'e-Mondprogramms.
Die beiden letzten Abbildungen sind Gemälde: ein Mondfrachter, gemalt von
Krafft Ehricke, und ein weiteres, das auf einer Zeichnung von Krafft basiert,
der zu schwer an Leukämie erkrankt war, um es selbst fertigzustellen, so daß
er es einem Kollegen von Lyndon LaRouche, Chris Sloan, zum Malen schickte. Es
zeigt Selenopolis, Kraffts Stadt auf dem Mond. Fangen wir endlich an, sie zu
bauen!
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