Rußland und die unteilbare Sicherheit aller Nationen
Von Andrej Kortunow
Andrej Kortunow ist Generaldirektor des Russischen Rates für
Internationale Angelegenheiten (RIAC). In der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts hielt er am 18. Juni 2022 den folgenden Vortrag
(Übersetzung aus dem Englischen).
Zunächst möchte ich meine tiefe Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, daß ich
die Möglichkeit habe, an dieser sehr wichtigen und zeitgemäßen Veranstaltung
teilzunehmen. Ich hoffe, daß wir eine offene und intellektuell anregende
Diskussion über die aktuellen internationalen Trends führen werden und
darüber, was sie für Menschen wie uns und für unsere jeweiligen Länder und
Gesellschaften bedeuten könnten.
Ich möchte mich in meinem kurzen Vortrag auf den Trend konzentrieren, den
ich als die derzeitige Konsolidierung des Westens bezeichnen würde. Meiner
Meinung nach zeigt sich dieser Trend am deutlichsten in der konsolidierten
Reaktion der westlichen Großmächte auf den Konflikt zwischen Rußland und der
Ukraine. Wir haben eine sehr schnelle, sehr gut koordinierte Reaktion auf die
russische Militäroperation gesehen, ein noch nie dagewesenes Maß an
antirussischen Sanktionen und auch ein noch nie dagewesenes Maß an
militärischer, wirtschaftlicher, politischer und geheimdienstlicher
Unterstützung für die Ukraine. Es wurde von vielen internationalen
Organisationen und multilateralen Institutionen koordinierter Druck auf
Rußland ausgeübt und auch koordinierter Druck auf viele Länder des globalen
Südens, um sie davon zu überzeugen, in dieser Krise die richtige Position
einzunehmen.
Ich denke jedoch, man kann mit Fug und Recht behaupten, daß die Reaktion
des Westens auf die russische Militäroperation in der Ukraine nicht der
einzige Ausdruck des aktuellen Trends zu einem stärker konsolidierten Westen
ist. Wenn wir uns die Ereignisse des letzten Jahres ansehen, erkennen wir
viele andere Indikatoren, die eindeutig unsere Aufmerksamkeit verdienen.
So ist beispielsweise im Pazifik ein neues militärisch-politisches Bündnis,
das sogenannte AUKUS, entstanden. Die Vereinigten Staaten versuchten und waren
recht erfolgreich bei der Einrichtung des quadrilateralen Dialogs über
Sicherheitsfragen – des sogenannten Quad –, an dem Indien, Japan und
Australien teilnehmen. Die Regierung Biden hat Ende letzten Jahres einen
großangelegten Demokratie-Gipfel veranstaltet. Wir können feststellen, daß es
Versuche gibt, die NATO zu aktivieren, um die Militärausgaben der europäischen
Länder, der Verbündeten der Vereinigten Staaten, zu erhöhen; wir haben
gesehen, daß Finnland und Schweden eine wichtige Entscheidung getroffen haben,
der NATO beizutreten; wir haben neuen Aktivismus in der Gruppe der G7
gesehen.
Es gibt also viele Anzeichen, die darauf hindeuten, daß der Westen in eine
Phase der relativen Konsolidierung eintritt.
Wenn wir in die Geschichte zurückblicken, denke ich, daß der vorherige
Zyklus, der Zyklus der Dezentralisierung und des Zerfalls des Westens, wohl im
Jahr 2003 begann, als die Vereinigten Staaten sehr große Probleme hatten,
einige ihrer engsten Partner davon zu überzeugen, die Militäroperation der USA
im Irak zu unterstützen. Auch wenn die Spaltung zwischen den USA und dem
Vereinigten Königreich einerseits und den kontinentaleuropäischen Mächten
andererseits keine strategische Spaltung darstellte, so war sie doch ein
Zeichen dafür, daß die zentrifugalen Trends im westlichen Bündnis zu
dominieren begannen.
Diese Tendenzen wurden von der Obama-Regierung noch beschleunigt, als das
Weiße Haus die sogenannte „Wende nach Asien“ („pivot to Asia“)
ankündigte. Diese Wende wurde in Europa mit großem Mißtrauen aufgenommen, weil
er als Versuch der Vereinigten Staaten interpretiert wurde, sich von Europa zu
entfernen und Europa als oberste strategische Priorität der strategischen
Bündnisse der USA im asiatisch-pazifischen Raum zu ersetzen. Natürlich trugen
auch vier Jahre der Trump-Administration zu diesem Zerfall bei, ebenso wie der
Brexit der Briten aus der Europäischen Union.
Mindestens ein Jahrzehnt lang, vielleicht sogar mehr als ein Jahrzehnt
lang, war der Westen also auf dem Weg zu mehr Uneinigkeit. Und heute sehen wir
einen umgekehrten Trend, und die Frage ist natürlich, wie lange dieser Trend
anhalten wird und wie er sich in den kommenden Jahren manifestieren wird.
Die Konsolidierung wird sich vorerst weiter verstärken
Ich denke, man kann ohne weiteres behaupten, daß die westlichen Länder ihre
Zusammenarbeit im militärtechnischen Bereich verstärken werden, und die NATO
wird sich wahrscheinlich globalisieren. Ich denke, daß wir bereits auf dem
nächsten NATO-Gipfel, der in wenigen Tagen in Madrid stattfinden wird, einige
Anzeichen für diesen Trend sehen werden. Ich denke, es wird ein Versuch
unternommen werden, den Zuständigkeitsbereich des NATO-Bündnisses zu
globalisieren, auch wenn einige NATO-Mitglieder noch zögern könnten, ihre
Zuständigkeiten über den europäischen Kontinent hinaus auszuweiten.
Ich denke, daß wir auch eine stärkere Koordinierung der politischen
Strategie der westlichen Großmächte erleben werden, und obwohl es nicht
einfach sein wird, einige europäische Länder zu einer stärkeren Position
gegenüber China zu bewegen, werden die Vereinigten Staaten auf jeden Fall
versuchen, Europa in diese Richtung zu bewegen.
Ich denke, daß es auch einige Erfolge bei den Versuchen zu beobachten gibt,
die derzeitigen wirtschaftlichen Meinungsverschiedenheiten und Widersprüche
zwischen den beiden Seiten des Atlantiks zu überwinden: So hat die Regierung
Biden bereits beschlossen, einige der Zölle auf europäischen Stahl und
Aluminium aufzuheben. Ich denke, daß in absehbarer Zeit eine Einigung zwischen
Boeing und Airbus erzielt werden könnte. Ich denke, daß auch andere
symbolische Handelsvereinbarungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa
möglich sind. Ich glaube auch, daß beide Seiten ihr Bestes tun werden, um die
Politik im Bereich der Hochtechnologie zu koordinieren, und wir werden
wahrscheinlich transkontinentale Konsortien der wichtigsten
Hochtechnologieindustrien in Bereichen wie IT und Biotechnologie und neue
Energiequellen sehen, und das würde einen technologischen Wandel einer neuen
Generation schaffen.
Ich halte es auch für wichtig, daß der Westen versuchen wird, die Agenda
der globalen öffentlichen Güter zu dominieren. Die westlichen Länder, vor
allem die Europäische Union, aber auch die Vereinigten Staaten, werden
versuchen, die Spielregeln in Bereichen wie der Energiewende, dem
Informationsmanagement, dem Klimawandel, dem grenzüberschreitenden
Migrationsmanagement, der biologischen Vielfalt und anderen Bereichen zu
bestimmen. Dies ist definitiv ein wichtiger Faktor der westlichen
Konsolidierung, und obwohl ich auf diesem Weg Komplikationen voraussehe, denke
ich, daß in der unmittelbaren Zukunft eine gewisse Koordination in diesen
Bereichen möglich ist.
Diese Koordinierung spiegelt definitiv eine Schwächung der westlichen
Positionen und die Besorgnis über geopolitische Rivalen und Gegner des Westens
wider, vor allem China, aber auch andere Schwellenländer und aufstrebende
politische Mächte.
Wird die Konsolidierung anhalten?
Es stellt sich also die Frage, wie lange diese Konsolidierung andauern wird
und wann sich der Trend umkehren könnte. Ich denke, wir können davon ausgehen,
daß dieser Trend noch ein paar Jahre anhalten wird, aber letztendlich ist eine
erneute Dekonstruktion des konsolidierten Westens fast unvermeidlich.
Dafür gibt es viele Gründe: Erstens glaube ich, daß es angesichts der
unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen zwischen den Vereinigten Staaten
und Europa sehr schwierig wäre, das derzeitige Niveau der Einheit
aufrechtzuerhalten. Ich sehe zum Beispiel nicht, wie die Vereinigten Staaten
die Europäische Union dazu bringen könnten, ihre Agrarmärkte für US-Produkte
zu öffnen. Ich sehe nicht, wie die Vereinigten Staaten deutsche Autos und
Ersatzteile für deutsche Autos, die in die Vereinigten Staaten eingeführt
werden, ohne weiteres akzeptieren werden. Die wirtschaftlichen
Meinungsverschiedenheiten werden also bestehenbleiben. Die Vereinigten Staaten
werden versuchen, ihre privilegierte Stellung in der Weltwirtschaft und ihre
privilegierte Stellung im Weltfinanzsystem weiterhin auszunutzen. Es wird
immer schwieriger werden, den Dollar als wichtigste Reservewährung der Welt
aufrechtzuerhalten, und ich denke, daß die Bedeutung des Dollars allmählich,
langsam aber stetig abnehmen wird, was zu zusätzlichen Problemen zwischen den
Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten führen wird.
Meiner Meinung nach gibt es auch Meinungsverschiedenheiten über die
langfristigen wirtschaftlichen und politischen Interessen gegenüber anderen
Teilen der Welt. Für Europa wäre es zum Beispiel problematischer, mit China zu
brechen, und ich denke, die Europäische Union wird zögern, einen
Wirtschaftskrieg, einen Handelskrieg mit China zu beginnen, selbst wenn die
Vereinigten Staaten dieses Thema sehr stark vorantreiben.
Es ist wohl unmöglich, die politischen Entwicklungszyklen in der westlichen
Welt zu synchronisieren. Die meisten europäischen Länder bewegen sich in
Richtung linker politischer Koalitionen bzw. linkszentristischer politischer
Koalitionen, während in den Vereinigten Staaten die Zwischenwahlen
wahrscheinlich die Neocons in der Republikanischen Partei begünstigen wird.
Die beiden Modelle, das angelsächsische Modell der sozialen und
wirtschaftlichen Entwicklung, konvergieren nicht wirklich mit dem
kontinentaleuropäischen Modell, und dies wird wahrscheinlich eines der
Probleme und eine der Grenzen auf dem Weg zu einem stärker konsolidierten
Westen bleiben.
Wir sollten auch bedenken, daß China weiterhin ein spaltender Faktor in den
Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa sein wird, und nicht
nur China, sondern auch viele andere Länder, die zum globalen Süden gehören,
werden wahrscheinlich ein Zankapfel zwischen Amerika und Europa sein, weil die
Vereinigten Staaten und die Europäische Union viele unterschiedliche Ansätze
in Bezug auf den globalen Süden und den Transfer von Ressourcen vom globalen
Norden in den globalen Süden haben.
Schließlich sollten wir nicht vergessen, daß der kollektive Westen relativ
gesehen immer schwächer wird und es viele ungelöste Probleme gibt, die von den
westlichen Ländern angegangen werden müssen. Viele dieser Länder haben
gespaltene Gesellschaften. Wir sehen eine starke Polarisierung innerhalb
Europas, zum Beispiel in Ländern wie Frankreich, und diese Polarisierung hat
sich in den Ergebnissen der jüngsten Wahlen widergespiegelt, sowohl bei den
Präsidentschaftswahlen als auch bei den Wahlen zur Nationalversammlung. In den
Vereinigten Staaten werden wir eine Polarisierung erleben, wobei der
reformorientierte Flügel der Demokratischen Partei weiter nach links und die
Republikanische Partei weiter nach rechts rückt. In den Vereinigten Staaten
und in Europa gibt es große infrastrukturelle Probleme, die nicht angegangen
werden.
Es handelt sich also um Probleme, die den Einfluß des Westens in der Welt
schmälern und Desintegrationstendenzen innerhalb des globalen Westens fördern
können.
Letztendlich denke ich, daß die Geographie weniger wichtig sein wird als
jetzt, und die Chancen stehen gut, daß die Begriffe Ost und West oder Nord und
Süd allmählich an relativer Bedeutung verlieren und durch neue Konzepte
situationsbedingter Ad-hoc-Koalitionen ersetzt werden, die verschiedene Länder
aus allen Ecken der Welt vereinen könnten.
Ich danke Ihnen.
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