Die Welt darf nicht von dreckigen Zockern zerstört werden, die sich Banker der Wall Street und der Londoner City nennen
Von Daisuke Kotegawa
Daisuke Kotegawa war leitender Beamter des japanischen
Finanzministeriums und Exekutivdirektor Japans beim Internationalen
Währungsfonds. In der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 18. Juni
2022 hielt er den folgenden Vortrag. (Übersetzung aus dem Englischen.)
1. 1985 vereinbarten Japan und die Vereinigten Staaten im Plaza Hotel in
New York das sogenannte Plaza-Abkommen, eine koordinierte Devisenintervention
zur Aufwertung des Yen, um das Handelsdefizit der USA mit Japan zu
korrigieren. Der Yen verdoppelte sich sofort gegenüber dem Stand vor dem
Abkommen. Infolgedessen verdoppelten sich die Arbeitskosten in Japan, und
japanische Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb nicht mehr mithalten
konnten, verlegten ihre Fabriken nach Südostasien und China, wo die
Arbeitskosten billiger waren. Infolge dieser Fabrikverlagerungen japanischer
Unternehmen hat sich eines der Zentren der Weltproduktion in diese Regionen
verlagert. Die Arbeitskosten in diesen Regionen sind allmählich gestiegen, die
Einkommen der Menschen sind gestiegen, und das sogenannte „Fluggänsemodell der
Entwicklung“1 wurde eingerichtet.
2. Der stärkere Yen hatte eine weitere wichtige Auswirkung: Vor dem
Hintergrund eines starken Yen begannen japanische Finanzinstitute auf dem
Londoner Finanzmarkt Fuß zu fassen. Infolgedessen sank die exorbitante
Gewinnspanne, die die Grundlage für die lange Zeit privilegierten Londoner
Geschäftsbanken gebildet hatte, in kurzer Zeit auf ein Zehntel, und
traditionsreiche Finanzinstitute wie S.G. Warburg gingen in Konkurs. In Basel
wurden Verhandlungen geführt, um die japanischen Finanzinstitute zu stoppen,
und 1988 wurden die so genannten „Baseler Regeln“ vereinbart.
3. Ende der 1990er Jahre sahen sich die südostasiatischen Länder und Japan
mit dem Problem der notleidenden Kredite konfrontiert, das sich aus den Basler
Vorschriften ergab. In der Folge führten die asiatische Wirtschaftskrise und
die japanische Finanzkrise zu einer Stagnation der verarbeitenden Industrie in
diesen Regionen. Nur China war in der Lage, eine solche Krise zu überleben,
und seit Beginn dieses Jahrhunderts ist China zum Zentrum der verarbeitenden
Industrie der Welt geworden, und in den Vereinigten Staaten ist die Sorge über
die Herausforderung durch China aufgekommen.
4. Seit der Asienkrise stagniert die verarbeitende Industrie weltweit, und
nach der vollständigen Aufhebung des Glass-Steagall-Gesetzes im Jahr 1999
fusionierten Investmentbanken und Geschäftsbanken, und die Investmentbanken
verlegten sich auf reine „Glücksspiel-Finanzierung“, z. B. in hochriskante
Derivate auf der Grundlage von Einlagen, die von Geschäftsbanken eingesammelt
wurden.
5. Der Lehman-Schock im Jahr 2008 war das Ergebnis einer solchen
„Glücksspielfinanzierung“. Die Regierungen der Vereinigten Staaten und des
Vereinigten Königreichs haben ihre Konkurse jedoch nicht gemäß den Baseler
Regeln abgewickelt, die sie von den asiatischen Ländern verlangt haben, und
haben Steuergelder zur Rettung von Finanzinstituten verwendet. Darüber hinaus
wurden nicht nur Finanzinstitute, sondern auch große Unternehmen wie GM mit
Steuergeldern gerettet. Dies unterscheidet sich nicht vom Staatskapitalismus,
den der Westen während des Kalten Krieges an der Sowjetunion kritisierte. Die
asiatischen Länder waren entsetzt über eine solche „Doppelmoral“, denn sie
waren im Falle einer Asienkrise gezwungen, schmerzhaft zu reagieren. Sie
hegten ernsthafte Zweifel an der vom Westen dominierten internationalen
Finanzordnung.
6. Infolge der Rettungsmaßnahmen wurden die Bilanzen der Finanzinstitute
und Großunternehmen auf Kosten des Staates bereinigt, während sich die Kluft
zwischen Reichen und Armen in der Gesellschaft vergrößerte, da viele
Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verloren oder von einer regulären
Beschäftigung zu einer Teilzeitbeschäftigung wechselten. Während bei der
Entwicklung des verarbeitenden Gewerbes, wie im Falle Asiens, bevorzugt
Menschen mit niedrigeren Arbeitskosten eingestellt werden, die zur Erhöhung
der Löhne und damit zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen
beitragen, bereichert der Finanzkapitalismus nur die Reichen weiter. Die
daraus resultierende Kluft zwischen Arm und Reich hat im Westen seit 2016 zu
Revolten an den Wahlurnen geführt.
7. Auf der anderen Seite wurden die geretteten Finanzinstitute immer
überzeugter davon, daß die Regierung im Falle einer Krise die Einleger retten
würde, und sie drängten auf weitere Glücksspielfinanzierung, ohne über den
Fehler nachzudenken, den sie dabei gemacht hatten. Die Finanzinstitute haben
ihre ursprüngliche Aufgabe vergessen, durch die Vergabe von Krediten an das
verarbeitende Gewerbe zur Förderung der Industrie beizutragen, und haben sich
dem Glücksspiel zwischen Finanzinstituten hingegeben. Die Regierungen in den
fortgeschrittenen Volkswirtschaften haben eine beispiellose „quantitative
Lockerung“ durchgeführt, um die Realität dieser Finanzinstitute zu
verschleiern, doch in Europa und den Vereinigten Staaten werden diese Mittel
nicht für das verarbeitende Gewerbe verwendet.
8. Um diese Situation weiter zu verschleiern, wurde die „grüne
Finanzierung“ vorangetrieben, wobei jedes als „grün“ definierte Unternehmen
beliebige Geldbeträge erhalten kann, aber aufgrund des gescheiterten
Umweltgipfels in Glasgow wird auch dieser Versuch fehlschlagen. Die Wall
Street und die Londoner City stehen am Rande des Bankrotts.
9. In Europa, das aufgrund einer falschen Umweltbewegung ebenfalls
verstärkt auf unzuverlässige „erneuerbare Energien“ setzt, kam es nach dem
strengen Winter Ende 2020 und Anfang 2021 zu einem starken Anstieg der Erdgas-
und anderer Energiepreise. Dies wirkte sich auch auf die Preise für
Agrarrohstoffe aus. Der Einmarsch Rußlands in die Ukraine im Februar 2022 und
die damit einhergehenden Sanktionen haben diesen Trend noch verstärkt, und der
Lebensstandard der einfachen Menschen im Westen wird zum ersten Mal seit einem
halben Jahrhundert vor einer schweren Inflation bedroht.
10. Was wir in dieser Situation kurzfristig am meisten beachten müssen, ist
nicht die Art und Weise, wie sich die russische und die chinesische Regierung
verhalten. Vielmehr handelt es sich um eine Bewegung von Kräften, die unter
den oben beschriebenen Umständen bankrott zu gehen drohen, um alle Probleme
durch den Krieg zu verschleiern.
11. Der Autor war in den 1990er Jahren im Zentrum der japanischen Regierung
tätig und hatte Erfahrung darin, alle damals bestehenden Probleme mit China
und Nordkorea unter dem Tisch zu lösen. Ausgehend von dieser Erfahrung frage
ich mich angesichts der russischen Invasion in der Ukraine vor allem, warum
die US-Regierung nicht in der Lage war, dieses Problem durch Gespräche hinter
den Kulissen zu lösen. Wenn man dafür nicht die sinkende Qualität der
Regierungsbeamten verantwortlich machen kann, ist es schwierig, die
Schlußfolgerung zu verwerfen, daß die Regierung Biden möglicherweise einen
Krieg wollte. Ich glaube, daß es für die Vereinigten Staaten jetzt an der Zeit
ist, zum Ausgangspunkt der Demokratie zurückzukehren und einen
Regierungswechsel einzuleiten, um das wirkliche nationale Interesse und nicht
das Interesse einiger weniger zu verwirklichen, wie es uns die Vereinigten
Staaten in Japan, einem im Krieg besiegten Land, gelehrt haben.
12. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Welt zu einer unipolaren Welt
geworden. Wir haben keine andere Wahl, als dem Handeln der Vereinigten Staaten
zu folgen. Aus dieser Perspektive wird die Agenda der USA das Schicksal der
gesamten Menschheit bestimmen, und ich hoffe aufrichtig, daß das amerikanische
Volk zu dem Gründergeist zurückkehrt, der sich gegen den britischen
Kolonialismus erhoben hat, und den richtigen Weg wählt.
Anmerkung
1. Beim Zug der Fluggänse fliegt eine Gans vorneweg, die anderen folgen in ihrem Windschatten.
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