Chinas BRI: Ihre Begründung und wahrscheinlichen Auswirkungen
Von Dr. Justin Yifu Lin
Dr. Justin Yifu Lin ist Dekan des Instituts für Neue
Strukturökonomie und des Instituts für Süd-Süd-Kooperation und Entwicklung sowie
Ehrendekan der Hochschule für Nationale Entwicklung der Universität Peking. Er
war von 2008 bis 2012 Chefökonom und Vizepräsident der Weltbank. Auf der
Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 9. April hielt er den folgenden
Vortrag.
Ich danke Ihnen vielmals. Dies ist eine sehr zeitgemäße Konferenz in einer
sehr schwierigen Zeit in der Welt. Ich fühle mich geehrt, an diesem Panel
teilzunehmen und Ihnen meine eigenen Erkenntnisse darüber mitzuteilen, warum
China die Gürtel- und Straßen-Initiative (Belt and Road Initiative, BRI)
vorgeschlagen hat und welche Auswirkungen diese neue Initiative wahrscheinlich
auf die Welt haben wird.
Der Grund, warum China die BRI vorgeschlagen hat, liegt meiner Meinung nach
darin, daß China ein verantwortungsvoller Akteur in der Welt sein möchte. Denn
derzeit ist China, gemessen am Marktkurs, die zweitgrößte Volkswirtschaft der
Welt. Gemessen an der Kaufkraftparität ist China jedoch die größte
Volkswirtschaft der Welt. China ist auch das größte Handelsland der Welt, und
deshalb wird China bald ein Land mit hohem Einkommen sein.
So wie andere große Länder der Welt ihren Beitrag zur Entwicklung anderer
Länder leisten, so sollte auch China etwas dazu beitragen. Länder wie die USA,
aber auch in Europa oder Japan tragen alle etwas bei. Und ein Weg für China,
seinen Beitrag an der globalen Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen, ist
natürlich, sich an den bestehenden Strukturen, nämlich dem IWF und der Weltbank,
zu beteiligen. Das war ursprünglich auch Chinas Absicht.
So einigten sich 2009 Präsident Hu Jintao und Präsident Obama darauf, daß
China seinen Beitrag zum IWF und zur Weltbank erhöhen und damit natürlich auch
sein Stimmrecht in diesen Institutionen ausbauen sollte. Es gab zwar diese
Vereinbarung, aber leider wurde sie vom US-Kongreß blockiert, so daß sie nicht
umgesetzt werden konnte.
Selbst wenn China seinen Beitrag im bestehenden Rahmen ohne Abstimmung
erhöhen kann, ist es fraglich, ob das funktioniert. Denn nach dem Zweiten
Weltkrieg haben die anderen Länder bereits großzügig 4,6 Billionen US-Dollar,
gemessen an der Kaufkraft von 2007, beigesteuert, um den Entwicklungsländern bei
ihrer Entwicklung zu helfen. Und dennoch sind bisher von den rund 200
Entwicklungsländern auf der Welt nur zwei von einem niedrigen Einkommen zu einem
hohen Einkommen gelangt: Das eine war Südkorea, das andere Taiwan-China. Und in
den 1960er Jahren gab es weltweit 101 Volkswirtschaften mit mittlerem
Einkommen.
Als ich Chefvolkswirt und Senior-Vizepräsident der Weltbank wurde, schafften
bis 2008 nur 13 von ihnen den Sprung vom mittleren Einkommen zum hohen
Einkommen, und von diesen 13 waren acht europäisch. Dazu gehörten Portugal,
Spanien und Griechenland. Der Unterschied ihrer Einkommen war zu den anderen
Ländern am Anfang sehr gering. Die anderen fünf Länder waren bekanntlich Japan
und natürlich die ostasiatischen „Drachen“ wie Korea, Taiwan, Hongkong.
Anhand dieser Statistik können wir also sehen, daß die meisten
Entwicklungsländer in Lateinamerika, Südasien und Afrika trotz der großzügigen
Unterstützung der fortgeschrittenen Länder im Status eines Landes mit niedrigem
oder mittlerem Einkommen gefangen blieben. Sie haben sich nicht wesentlich
verbessert.
Würde sich China der bestehenden Architektur anschließen, indem es lediglich
mehr Geld zur Verfügung stellte, wäre das Ergebnis sehr wahrscheinlich das
gleiche. Obwohl andere Länder großzügig Geld zur Verfügung gestellt haben,
konnten weder Entwicklungsmangel noch Armut oder Hunger behoben werden.
Meiner Meinung nach liegt das Scheitern daran, daß die meisten
Unterstützungsleistungen der fortgeschrittenen Länder heute in den humanitären
Bereich, wie Bildung und Gesundheit, geflossen sind. Natürlich kann niemand
behaupten, diese Bereiche seien unwichtig. In einer transparenten Demokratie
wird niemand bestreiten, daß sie wichtig sind. Aber diese Art der Unterstützung
konnte keine Arbeitsplätze schaffen, sie konnte nicht zum Wachstum beitragen,
weil sie nicht auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und das Wachstum in den
heutigen Entwicklungsländern abzielte.
Und was die chinesische Erfahrung betrifft, so haben wir ein Sprichwort:
„Wenn du als Land reich werden willst, dann baue zuerst Straßen“, um die
Infrastruktur zu verbessern. Denn wenn man die Infrastruktur verbessert, dann
kann man auch moderne Technologien einsetzen. Und wenn man die Infrastruktur
verbessert, kann man industrielle Produkte schaffen.
Das war der Grund, warum Präsident Xi Jinping bei seinem Besuch in Kasachstan
im September 2013 die Gürtel- und Straßen-Initiative vorschlug. Und im Oktober
desselben Jahres nahm er am ASEAN-Gipfel in Indonesien teil und schlug die
Maritime Seidenstraße des 21. Jahrhunderts vor, und die Nutzung der
Infrastrukturkonnektivität als Mittel der globalen Entwicklungszusammenarbeit
zur Verbesserung der Infrastruktur in den Entwicklungsländern, um die
Entwicklung in den Entwicklungsländern zu fördern.
Zu diesem Zweck schlug China vor, die Asiatische
Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) zu gründen. Die AIIB wurde von 57
Gründungsmitgliedern gegründet und hat jetzt 104 Mitgliedsländer. Gemessen an
der Zahl der Mitgliedsländer ist sie nach der Weltbank die zweitgrößte
multilaterale Entwicklungsinstitution. Und bisher haben 147 Länder und 32
internationale Organisationen ein Kooperationsabkommen mit China unterzeichnet,
um die BRI umzusetzen.
Das ist wichtig, denn ich denke, daß jedes Land die Notwendigkeit sieht, die
Mängel ihrer eigenen Infrastruktur zu beseitigen. Und wenn diese Initiative
umgesetzt werden kann, wird sich die Welt verändern. Denn wie wir alle wissen,
haben sich die 197 Mitgliedsländer der UNO auf die Ziele für nachhaltige
Entwicklung der Agenda 2030 geeinigt. Und bekanntlich sind dies 17 verschiedene
Ziele, und sie alle sind sehr wichtig: keine Armut, kein Hunger, gute Gesundheit
und so weiter.
Sie alle sind wünschenswert, aber wie kann man sie erreichen? Das achte Ziel,
menschenwürdige Arbeitsplätze, ist von entscheidender Bedeutung: Wenn man den
Menschen menschenwürdige Arbeitsplätze gibt, werden sie ein Einkommen haben, sie
werden sicherlich nicht arm sein, sie werden sich Lebensmittel kaufen können,
sie werden nicht hungern, sie werden für sich selbst sorgen, sie werden gesund
bleiben.
Aber wie schafft man für die Menschen gute Arbeitsplätze? Man braucht
Industrialisierung, man braucht technologische Innovation. Doch um
Industrialisierung, technologische Innovation und die Einführung der modernsten
Technologie zu ermöglichen, braucht es Infrastruktur. Das ist das neunte Ziel
der Agenda 2030. Und die BRI wird den Ländern helfen, ihre Infrastruktur zu
verbessern, so daß die Länder die Möglichkeit haben, sich zu modernisieren und
zu industrialisieren, was letztendlich den Menschen anständige Arbeitsplätze
bringt, und mit anständigen Arbeitsplätzen gibt es, wie ich schon sagte, keinen
Hunger und keine Armut mehr, und jeder lebt in guter Gesundheit.
Ich denke also, wenn wir zusammenarbeiten, um die BRI als neuen globalen
Rahmen für die Entwicklungszusammenarbeit zu nutzen, dann wird eine Welt ohne
Armut möglich sein. Damit möchte ich schließen.
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