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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Warum nicht eine Win-Win-Situation schaffen?

Von Ray McGovern

Ray McGovern war CIA-Analyst und später Gründungsmitglied der regierungskritischen Organisation Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS, Geheimdienstveteranen für Vernunft). Auf der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 26. Mai 2022 hielt er die folgende Rede (Original Englisch).

Ich will damit beginnen, dem französischen Aspekt der Angelegenheit gerecht zu werden. Ich werde den französischen Kriegshelden des Zweiten Weltkriegs, Antoine de Saint-Exupéry, zitieren, der die kleine Novelle Le Petit Prince, Der kleine Prinz geschrieben hat. Ich möchte ihn nicht falsch zitieren, also lese ich wörtlich vor, wie er die Bedeutung seiner Worte dargestellt hat:
„Das Hauptthema des Kleinen Prinzen ist, wie wichtig es ist, unter die Oberfläche zu schauen, um die eigentliche Wahrheit und die eigentliche Bedeutung einer Sache zu finden. Es ist der Fuchs, der den Prinzen lehrt, mit dem Herzen zu sehen, statt nur mit den Augen. Leider haben die meisten Erwachsenen damit Schwierigkeiten.“

Nun, wir müssen heute ein wenig über Wahnsinn reden. Oberst Black fragt: „Sind wir alle verrückt geworden?“ Eine sehr berechtigte Frage angesichts des nuklearen Aspekts der Angelegenheit. Nur ganz kurz: Colonel Black war einer der 21 Hauptunterzeichner unseres Memorandums der Veteran Intelligence Professionals for Sanity an Präsident Biden vom 1. Mai.

(https://www.antiwar.com/blog/2022/05/01/intel-vets-nuclear-weapons-cannot-be-un-invented/) Was wir dort sagten, wurde nur eine Woche später vom Leiter der CIA und von der Direktorin der Nationalen Nachrichtendienste vor dem Streitkräfteausschuß des Senats bekräftigt. Avril Haines, die Nationale Geheimdienstdirektorin, sagte zu Senator Warner aus Virginia: „Herr Senator, wir wollen keinen Atomkrieg. Wir denken, einer der Hauptgründe für einen Atomkrieg wäre es, wenn Putin das Gefühl hat, daß er in der Ukraine besiegt wird.“ Nun, sie ist die Geheimdienstdirektorin, sie macht nicht die Politik, aber die Politik sollte eindeutig lauten: „Hallo! Wir dürfen Putin nicht das Gefühl geben, daß er in der Ukraine besiegt wird. Sonst könnte er Atomwaffen einsetzen.“ Aber die Politik ist eine andere, nicht wahr? Nancy Pelosi, Schumer und viele andere Politiker erklären: „Wir wollen den totalen Sieg“, wie hier schon gesagt wurde: „Wir wollen eine totale Niederlage für Putin.“ Das ergibt keinen Sinn.

Der Autor hat Recht, wenn er sagt, daß Erwachsene wirklich Schwierigkeiten haben, zu verstehen, was alles unter der Oberfläche vor sich geht.

Ich frage mich immer wieder, warum Präsident Biden es etwa sechs Wochen nach seinem Amtsantritt für nötig hielt, über die chinesische Herausforderung zu reden. Er sagte in etwa: „China versucht, das wirtschaftlich und militärisch mächtigste Land der Welt zu werden. Solange ich da bin, wird das nicht passieren.“ Und warum nicht? Sind die Chinesen aggressiv? Nein, und das wissen Sie, wenn Sie etwas über die chinesische Zivilisation der letzten Jahrtausende wissen. Haben die Chinesen in ihrem eigenen Land nicht eine Menge Arbeit zu tun? Das haben sie, und sie machen es gut.

Die Chinesen haben diese „seltsame“ Vorstellung, daß man eine Win-Win-Situation schaffen kann, daß beide Seiten miteinander auskommen können, wie wir früher sagten.

Dahinter steckt natürlich eine lange Geschichte. Wir brauchen einen Feind, wenn wir die Rüstungsunternehmen füttern wollen, damit die wiederum unsere Politiker füttern und sich mehr Geld aneignen können. Sie kennen das. Aber wenn man tiefer schaut, wenn man unter die Oberfläche schaut: Warum nicht? Warum nicht eine Win-Win-Situation?

Russisch-amerikanische Kooperation 2013

Wladimir Putin hat es etwas anders ausgedrückt. Einige von Ihnen erinnern sich vielleicht daran, daß wir vor gerade einmal neun Jahren kurz vor dem offenen Krieg gegen Syrien standen, mit Tomahawk-Raketen usw. Wer hat Obama aus der Patsche geholfen? Nun, der Name des Mannes war zufällig Wladimir Putin. Und was hat er gesagt? Er sagte: Wir wissen, daß ihr den syrischen Präsidenten Bashar Al-Assad beschuldigt, bei Damaskus einen chemischen Angriff verübt zu haben. Wir glauben nicht, daß das wahr ist, wir glauben, daß ihr in eine Mausefalle getappt seid. Aber trotzdem haben wir mit den Syrern ein Abkommen geschlossen. Wir haben mit ihnen vereinbart, daß sie alle ihre chemischen Waffen unter UN-Aufsicht verladen und auf einem Ihrer Kriegsschiffe, das speziell für die Vernichtung chemischer Waffen ausgerüstet ist, vernichten lassen, wenn Sie das erlauben. Obama meinte: „Wirklich?“ Denn (Außenminister) Kerry hatte ihm nichts davon erzählt. Aber sie arbeiteten daran. Ich erwähne das deshalb, weil das der Höhepunkt der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Rußland in den letzten Jahrzehnten war.

Putin schrieb sogar einen Gastkommentar in der New York Times, das Datum war der 12. September 2013, Printausgabe. Er sprach diese Win-Win-Situation an, dieses „Warum können wir nicht miteinander auskommen?“ Denn er sah, was kommen würde, weil Obama gerade eine wichtige Rede gehalten hatte. Putin schreibt in der New York Times: (https://www.nytimes.com/2013/09/12/opinion/putin-plea-for-caution-from-russia-on-syria.html; http://en.kremlin.ru/events/president/news/19205)

„Wenn wir Gewalt gegen Syrien vermeiden können, wird dies die Atmosphäre in internationalen Angelegenheiten verbessern und das gegenseitige Vertrauen stärken. Es wird unser gemeinsamer Erfolg sein und die Tür für eine Zusammenarbeit in anderen wichtigen Fragen öffnen.
Meine berufliche und persönliche Beziehung zu Präsident Obama ist von wachsendem Vertrauen geprägt. Ich weiß das zu schätzen. Ich habe seine Ansprache an die Nation am 10. September sorgfältig studiert. Und ich würde einem seiner Argumente zum amerikanischen Exzeptionalismus eher nicht zustimmen, wenn er sagt, daß die Politik der Vereinigten Staaten das ist, was Amerika anders macht. Das ist es, was uns außergewöhnlich macht‘. Es ist höchst gefährlich, die Menschen zu ermutigen, sich selbst als außergewöhnlich zu betrachten, ganz gleich aus welchen Gründen. Es gibt große und kleine Länder, reiche und arme, solche mit einer langen demokratischen Tradition und solche, die noch auf dem Weg zur Demokratie sind. Auch ihre Politik ist unterschiedlich. Wir sind alle unterschiedlich, aber wenn wir um den Segen des Herrn bitten, dürfen wir nicht vergessen, daß Gott uns alle gleich geschaffen hat.“

„Gott hat uns gleich geschaffen.“ Kommt Ihnen das bekannt vor? Mit anderen Worten, Putin sagt: „Herr Präsident, Sie prahlen damit, außergewöhnlich zu sein. Sie müssen wissen, daß ich, selbst in diesem sehr versöhnlichen, hoffnungsvollen Kommentar, nicht zustimme. Ich denke, daß alle Nationen gleich sind, was die Frage angeht, ob sie außergewöhnlich sind oder nicht, und das sollten Sie auf Anhieb wissen.“

Exzeptionalismus ist ein Irrweg

Jetzt fällt mir noch ein kleiner Hinweis ein. Es ist hier bei uns nämlich üblich, am Ende einer Rede zu sagen: „Gott segne die Vereinigten Staaten von Amerika.“ In der jüdisch-christlichen biblischen Literatur gibt es nichts, was es irgendjemandem, auch nicht dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, erlaubt, den Imperativ mit Gott zu verwenden. „Gott, du segnest die Vereinigten Staaten von Amerika. Alle anderen, nun, das liegt in deinem Ermessen, aber Amerika segnest du.“ Das ist ein kleines Symptom dafür, womit wir es zu tun haben.
Es gibt noch einen anderen Weg. Ich weiß nicht, ob viele unserer Zuschauer den Schriftsteller Kurt Vonnegut kannten, er war der größte Humanist oder Agnostiker. Und doch hat er sehr deutlich darauf hingewiesen, daß man an die Dinge auch anders herangehen kann. Sie sollten wissen, daß Kurt Vonnegut während der Ardennenoffensive in der 106. Infanteriedivision war. Er wurde von den Deutschen gefangen genommen und nach Dresden gebracht, kurz vor den großen Brandbombenangriffen der US-Luftwaffe und der Briten. Während dieser Bombardierungen versteckte er sich mit den anderen Kriegsgefangenen in einem Fleischschrank, und als sie wieder ins Freie kommen konnten, mussten sie die vielen Leichen ausgraben und sie wieder einbuddeln, wo sie ein Stück Gras unter den Trümmern fanden. Warum sage ich das alles? Ich sage es, weil Vonnegut die Menschheit in ihrer schlimmsten Form kannte. Er war dabei, er sah, wie Menschen anderen Menschen solche Dinge antaten.

Jahre später fragte jemand Vonnegut - und ich betone nochmals, daß er ein Humanist war, also ein Agnostiker: „Kurt, was hältst du von Jesus von Nazareth?“ Auch hier möchte ich nicht falsch zitieren, er sagte wörtlich:

„Ich sage über Jesus, wie alle Humanisten: Wenn das, was er gesagt hat, gut ist und so vieles davon absolut schön ist, was macht es dann aus, ob er Gott war oder nicht? Wenn Jesus nicht die Bergpredigt gehalten hätte, mit ihrer Botschaft der Barmherzigkeit und des Mitleids, würde ich kein Mensch sein wollen. Ich wäre lieber eine Kakerlake.“

Ich habe die Bergpredigt heute Morgen wieder nachgeschlagen. Ich möchte vier der acht Seligpreisungen zitieren und erläutern, warum sie auf diese Situation vielleicht nicht zutreffen und wie weit der amerikanische Exzeptionalismus in Bezug auf diese Seligpreisungen entfernt ist.

„Selig sind die Sanftmütigen.“ Hm. „Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit.“ Gerechtigkeit? Gerechtigkeit bedeutet doch, daß alle gleich sind, oder? Keine Ausnahmen und kein Exzeptionalismus, wenn ich das richtig gelesen habe. „Selig sind, die Frieden stiften.“ Und hören Sie sich das an; das ist der letzte Satz: „Selig seid ihr, wenn man euch beleidigt, verleumdet und verfolgt.“ Freuen Sie sich! Sie befinden sich in guter Gesellschaft; genauso erging es schon den frühen Propheten.

Es ist leichter gesagt als getan, aber ich denke, wir müssen weitermachen. Es ist ein typisch amerikanischer Charakterzug, dem ich begegnet bin, daß die Menschen zögern, etwas zu tun, bei dem sie möglicherweise nicht erfolgreich sind. Wer will schon ausgelacht werden? Wer möchte etwas aus Prinzip tun und dann von den Leuten gesagt bekommen: „Ray, was hast du dir dabei gedacht, dich so gegen einen kriegslüsternen Politiker zu stellen?“ Es gibt diesen natürlichen Widerwillen, man will Dinge nicht tun, zu denen uns unser Herz unter der Oberfläche drängen würde.

Einer meiner Propheten ist Daniel Berrigan, der letzten Monat 101 Jahre alt geworden wäre. Nach einer Aktion bei Baltimore, wo wir Einberufungskarten verbrannten, waren wir in dem einzigen Bundesbürogebäude dieser kleinen Stadt. Es war ein Postamt, und wir saßen herum. Ich dachte mir: „Wow! Das war eine große Aktion. War es das wert? Waren wir verrückt? Das werden alle sagen. Wollten wir nur Aufmerksamkeit erregen? War es das wert?“ Und dann sagte Daniel Berrigan: „Mir kam der Gedanke: ,Schau, Dan, das Gute ist es wert, daß man es tut, einfach weil es gut ist. Die Ergebnisse sind nicht unwichtig, aber sie sind zweitrangig gegenüber der guten Tat.“

Dan Berrigan war nicht nur ein mutiger Mensch, er war auch ein Dichter, und er hatte einen großartigen Sinn für Humor. Ich zitiere das, weil man bei dieser Arbeit enttäuscht werden kann, man braucht einen guten Sinn für Humor. Dan erzählt, was als Nächstes geschah, nachdem er in diesem kleinen Postamt zu dieser Erkenntnis gekommen war. Sie waren etwa zu acht, und sein Bruder Phil trug seinen Klerikerkragen und alles. Dan drückt es so aus: „In dem Moment schwingt die Tür auf und ein FBI-Inspektor kommt herein. Er sieht sich im Raum um, erblickt Phil und sagt: ,Ah, Sie schon wieder! Ich werde meine Religion wechseln!'“ Dan schreibt: „Ein größeres Kompliment kann man meinem Bruder Phil nicht machen.“ Man muß in schweren Zeiten einen leichten Sinn bewahren.

Und man muß sich daran erinnern, wenn wir über eine „regelbasierte Ordnung“ sprechen, eine Art Ersatz für die UNO oder den Westfälischen Frieden. Es gibt nämlich eine Regel, die wichtiger ist als alle anderen. „Die größte unter ihnen ist die Liebe.“ Helga (Zepp-LaRouche) hat das erwähnt. Wir müssen uns alle daran erinnern, daß wir tief in unserem Inneren diese anderen Menschen verstehen müssen. Wir müssen versuchen, sie so sanft wie möglich von der Vorstellung zu befreien, daß sie etwas Besonderes sind und daß sie den ganzen Rest der Welt beherrschen können. Das wird ohnehin nicht passieren, aber je eher wir alle das begreifen, desto besser. Ich spreche natürlich von uns Amerikanern.

Ich möchte mit zwei kleinen Zitaten schließen. Einem von Teilhard de Chardin: „Der Tag wird kommen, an dem wir, nachdem wir die Winde, die Gezeiten und die Schwerkraft nutzbar gemacht haben, auch die Energien der Liebe nutzbar machen werden. Und an diesem Tag wird der Mensch zum zweiten Mal in der Geschichte der Welt das Feuer entdeckt haben.“ Das stammt aus seinem Buch Feuer der Liebe. Und zum Schluß muß ich nur noch Friedrich Schiller zitieren, unter dessen Namen dieses Institut existiert. Einige werden die Worte wiedererkennen, denn schon Beethoven beschloß, sie zu stehlen. Sie lauten: „Alle Menschen werden Brüder“ - und Schwestern. Wir können alles durchstehen, solange wir uns nur daran erinnern. Und vergessen Sie nicht, von allen regelbasierten Ordnungen ist „die größte unter ihnen die Liebe“. Ich danke Ihnen vielmals.