Niemals aufgeben
Von Ray McGovern
Ray McGovern ist ehemaliger Analyst der Central Intelligence
Agency (CIA) und Mitbegründer der Veteran Intelligence Professionals for
Sanity (VIPS).
Ich danke Ihnen für die Einladung. Wir befinden uns in der Tat in einer
tiefen Krise. Sie ist einzigartig, aber es gab etwas ähnliches in den Tagen,
als ich in den 1930er Jahren in Deutschland geboren wurde. Wir haben das
überlebt, und wir können auch diese Krise überleben.
Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich an einen jungen Rechtsanwalt in
Berlin namens Raimund Pretzel, der sich später den Künstlernamen Sebastian
Haffner zulegte, als sein Tagebuch entdeckt wurde. Er war in der schlimmsten
Zeit in Berlin. Er versuchte, seinen Frieden mit den Geschehnissen zu machen.
Ich möchte ein paar Sätze aus der englischen Version zitieren, die den Titel
Defying Hitler trägt; die deutsche Version heißt Die Geschichte
eines Deutschen. Originalton Haffner: Der einzelne, der sich dem
Faschismus widersetzt, „ist kein geborener Held, noch weniger ein geborener
Märtyrer. Er ist einfach ein Durchschnittsmensch mit vielen Schwächen... Dies
aber will er nicht. Und so läßt er sich auf ein Duell ein…, mit einer stillen
Entschlossenheit, nicht nachzugeben.“
Sie werden zugeben müssen, daß er für jemanden, der weder ein Held noch ein
Märtyrer ist, einen sehr guten Kampf führt. Wird er gezwungen sein, den Kampf
aufzugeben?
Darauf mußte Haffner folgendes antworten [sinngemäß]:
„Nein. Die Deutschen haben verloren. Und warum? Ich sehe nicht, daß man der
Mehrheit der Deutschen, die 1933 glaubten, der Reichstagsbrand sei das Werk
der Kommunisten, einen Vorwurf machen kann.“ – Oder kann man der Mehrheit der
westlichen Bevölkerung einen Vorwurf machen, die der ständigen Propaganda
ausgesetzt ist, daß der Einmarsch in die Ukraine „unprovoziert“ war? – „Was
man ihnen vorwerfen kann“, sagt Haffner, „ist, daß das deutsche Volk das mit
kleinmütiger Unterwürfigkeit als Tatsache akzeptiert hat. Das Feuer war eine
Tatsache, und sie haben ihr bißchen persönliche Freiheit verloren, als ob es
notwendig gewesen wäre. ,Die Kommunisten haben den Reichstag niedergebrannt?'
Da war es völlig normal, daß die Regierung ,entschiedene Maßnahmen‘ ergriff
und alle persönlichen Freiheiten aufhob.“
Was fehlte, war eine eiserne Entschlossenheit. Was fehlte, war der Kern der
Integrität, den man bei Tieren Zucht nennt. Es gab genug Menschen in
Deutschland und anderswo, die sich den Dingen hätten stellen können, aber das
ist nicht geschehen. Diesmal gibt es genug Menschen auf der Welt, die sich der
bestehenden Situation stellen, und das wird auch geschehen.
Wie kann ich da so zuversichtlich sein? Weil ich denke, daß diese
„kleinmütige Unterwürfigkeit“ nicht eintreten wird, wenn sich die Menschen in
diesem Winter mit zehn Decken zudecken müssen und es trotzdem nicht warm wird.
Ich denke, auch die kleinmütigen Menschen in Westeuropa und Osteuropa werden
sich mit dem, was hier passiert, auseinandersetzen müssen, auch wenn sie den
Kräften, die über sie herrschen, deutlich unterlegen sind. Ich sage das mit
einer gewissen Zuversicht.
Einige von Ihnen werden wissen, daß ein ungarisch-jüdischer Anwalt namens
[Benjamin] Ferencz als letzter der Nürnberger Ankläger gestorben ist. Er war
ein bemerkenswerter Mann. Wenn Sie ihn nicht kennen, erkundigen Sie sich über
ihn. Er gab uns diesen Rat, er sagte: „Wenn man Gerechtigkeit will, muß man
davon ausgehen, Erfolg zu haben. Denn man wird Erfolg haben, wenn man drei
Bedingungen erfüllt, nur drei: niemals aufgeben, niemals aufgeben und –
niemals aufgeben.“
Schauen wir also an, wie das Leben aussieht, geben wir uns ein Versprechen,
schauen wir auf all die Menschen, die uns heute zuschauen und die bereit und
in der Lage sind, die notwendigen Opfer zu bringen, damit es den Menschen auf
der Welt besser gehen möge. Ich schließe mit einer Metapher, die vorhin
verwendet wurde, nämlich der Metapher des Gladiators. Was werden wir dem
Gladiator geben? Wir geben ihm einen Daumen nach oben. Die Welt wird dies hier
überstehen, aber nur, wenn wir niemals aufgeben. Ich danke Ihnen vielmals.
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