Den Geist von Bandung der Blockfreien wiederbeleben
Von Dr. Kirk Meighoo
Dr. Kirk Meighoo ist ehemaliger Senator von Trinidad und Tobago.
Guten Tag! Ich möchte den Veranstaltern dafür danken, daß sie mich
eingeladen haben, die vorangegangenen Beiträge unter ein übergreifendes Thema
zu stellen, das meiner Meinung nach die aktuelle Krise am besten in den
richtigen historischen Kontext stellt.
Der NATO/Ukraine-Rußland-Konflikt ist das jüngste Kapitel in der sich
entfaltenden Geschichte des Geistes von Bandung, der Ablösung der alten
imperialen westlichen Ordnung durch eine wirklich integrative, gerechte
internationale Ordnung, deren oberstes Ziel die Entwicklung der gesamten
Menschheit in jedem Land ist und nicht die geopolitische Beherrschung und
Ausbeutung der Vielen durch die Wenigen.
Um diesen historischen Übergang geht es im NATO-Rußland-Konflikt, nicht um
einen falschen geopolitisch- ideologischen Kampf zwischen „östlichem
Autoritarismus“ und „westlicher Demokratie“. Der NATO-Rußland-Konflikt ist die
jüngste Episode des alten Systems, das verzweifelt und selbstzerstörerisch
versucht, die Entstehung des neuen Systems zu verhindern.
Dies ist eine lange Geschichte, die 1955 begann, als die erste offizielle
asiatisch-afrikanische oder afro-asiatische Konferenz in Bandung auf Westjava
in Indonesien, stattfand. Die globale Ordnung - die wir heute noch haben -
wurde neu definiert durch die Vereinten Nationen (gegründet 1945), den IWF und
die Weltbank (gegründet 1944) und die NATO (gegründet 1949).
Als die UNO 1945 gegründet wurde, gab es 51 Mitgliedsstaaten. Die meisten
Länder Afrikas, Asiens und der Karibik waren noch Kolonien der europäischen
Imperien und daher keine Mitglieder. Erst als sie unabhängig wurden, konnten
diese Länder in die UNO aufgenommen werden.
Als sie dann als unabhängige Nationen der internationalen Gemeinschaft
beitraten, wurden sie und ihre Anliegen an den Rand gedrängt, obwohl sie den
Großteil der Menschheit repräsentierten. In vielen dieser Länder herrschte ein
erdrückendes, unmenschliches Maß an Armut. Die Unabhängigkeit wurde als Chance
gesehen, Entwicklung zu erreichen. Das war und ist unsere erste und höchste
Priorität: nicht Demokratie, nicht Klimawandel, nicht einmal Menschenrechte -
so lobenswert diese auch sein mögen - sondern Entwicklung.
Nachdem die Bretton-Woods-Institutionen Europa nach den Zerstörungen des
Zweiten Weltkriegs wiederaufgebaut hatten, konzentrierten die ehemaligen
imperialen Mächte des Westens ihre globale Aufmerksamkeit auf die Geopolitik
des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion und nicht auf die wirtschaftliche
Entwicklung der neuen unabhängigen Länder.
Die Konferenz von Bandung war der erste organisierte Versuch, die
Interessen dieser Länder auf der internationalen Bühne durchzusetzen. Ihr
erklärtes Ziel war es, die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit
zwischen Afrika und Asien zu fördern und sich dem Kolonialismus oder
Neokolonialismus jeglicher Nation entgegenzustellen.
Die 29 teilnehmenden Länder repräsentierten eine Gesamtbevölkerung von 1,5
Milliarden Menschen, was damals 54% der Weltbevölkerung entsprach. Die
Konferenz wurde von Indonesien, Birma (Myanmar), Indien, Ceylon (Sri Lanka)
und Pakistan organisiert.
In den folgenden Jahren wuchs die Zahl der neuen unabhängigen Länder, die
sich vom europäischen Kolonialismus gelöst hatten, fast exponentiell. Bis 1970
war die Zahl der UN-Mitglieder auf 127 angestiegen. Heute sind es 193
Mitglieder.
Ich möchte betonen, daß die Befreiung von 142 Nationen seit 1945 - der
Mehrheit der Menschheit - die wichtigste Entwicklung der Menschheitsgeschichte
in den letzten 100 Jahren war.
Leider ist die internationale Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg diesen
Ländern, der Masse der Menschheit, nicht entgegengekommen. Statt dessen haben
sich die alten imperialen Mächte und ihre Verbündeten in der G7 organisiert,
und zusammen mit der NATO haben ihre herrschenden Klassen darum gekämpft, die
Kontrolle und Hegemonie über die anderen über 100 Länder aufrechtzuerhalten
(während sie gleichzeitig die Bevölkerungen ihrer eigenen Länder immer mehr
verarmen ließen).
Trotz der Bemühungen der alten westlichen imperialen Mächte ist der
Übergang zur neuen Ordnung unvermeidlich. Die alten imperialen Mächte können
ihn nicht aufhalten, egal wie sehr sie es versuchen.
Dies ist die übergreifende Geschichte der letzten 75 Jahre. Doch die
Geschichte ist nicht so einfach. Während der Übergang selbst unvermeidlich
ist, ist es die Art und Weise, wie der Übergang abläuft, nicht.
Die Fragen lauteten schon immer: Wie lange wird dieser Übergang dauern? Wie
wird das neue System aussehen? Wird der Übergang friedlich oder kriegerisch
sein? Werden die alten Mächte zu Partnern bei der Einführung des neuen Systems
oder werden sie feindselig und aggressiv sein? Wo werden die neuen Zentren des
politischen, wirtschaftlichen, militärischen, sozialen und kulturellen
Einflusses liegen? Wird das neue System genauso ausbeuterisch sein wie das
alte, oder können wir auf eine breitere Entwicklung und mehr Wohlstand
hoffen?
Dies ist der Kontext, den ich uns für unsere künftige Diskussion
vorschlage. Dies ist die objektive Bewegung der Geschichte, wie ich sie
erkenne, und wir sollten versuchen, sie so produktiv und harmonisch wie
möglich zu steuern, zum Nutzen und zur Entwicklung aller.
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