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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Die afrikanische Perspektive

Von Jay Naidoo

Jay Naidoo war Kabinettsminister unter Präsident Nelson Mandela in Südafrika. In der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 9. April sagte er folgendes.

Ich danke Ihnen vielmals. Ich möchte Ihnen heute die Perspektive eines afrikanischen Bürgers darlegen.

Wie die meisten afrikanischen Bürger bin auch ich zutiefst besorgt über das menschliche Leid in der Ukraine und fordere, daß der Krieg beendet wird, daß Rußland seine Streitkräfte abzieht und daß die humanitäre Krise dringend angegangen wird. Ich fordere, daß sich die NATO und Rußland an den Verhandlungstisch setzen und daß eine dauerhafte Friedensregelung erreicht wird, die einen neuen sicheren und angestrebten Frieden zwischen Ost- und Westeuropa einschließt. Die Welt braucht keinen weiteren Weltkrieg oder gar das Weltuntergangsszenario eines nuklearen Winters. Die UN-Charta verpflichtet uns alle dazu, einen friedlichen Weg zur Beilegung unserer Differenzen zu finden und sicherzustellen, daß die Souveränität und Integrität aller Staaten gewahrt bleibt.

Ich habe eine Rolle als Freiheitskämpfer gegen die Apartheid gespielt. Ich war Mitglied des Kabinetts von Präsident Nelson Mandela. Ich wiederhole, daß wir nur durch friedliche Verhandlungen unsere Unterschiede und unser Gruppendenken überwinden und eine gemeinsame Basis finden können. Werden wir den Mut finden, einander zu sehen und zu verstehen und den Wandel wie auch die Vielfalt in unserer Welt zu bewältigen?

Afrika hat nicht die Absicht, erneut zum Schauplatz von Stellvertreterkriegen in geopolitischen Konflikten zwischen globalen Mächten zu werden. Die Menschheit sieht sich mit einer Reihe globaler Krisen konfrontiert, die einen perfekten Sturm für ein Aussterben bilden. Die Anzeichen sind überwältigend und bestätigen, daß wir uns in einer ökologischen Notlage befinden, in der Pandemien, Ungleichheit, Hunger und Armut zunehmen.

Die Welt kann sich keinen Atomkrieg, kein weiteres Wettrüsten und auch keine konventionelle Kriegsführung leisten. Und doch geschieht genau das.

Keiner will einen neuen Kalten Krieg. In Afrika haben wir mit dem massiven Verlust von Menschenleben, der Zerstörung der Infrastruktur und sogar unseres sozialen Gefüges teuer bezahlt.

1990 begrüßten wir das Ende des Kalten Krieges und den Traum von einer atomwaffenfreien Welt. Südafrika hat sein Atomwaffenprogramm eingestellt und sich gemeinsam mit seinen afrikanischen Mitstreitern für eine neue Weltordnung eingesetzt, die auf Frieden, multilateraler Zusammenarbeit und einer neuen globalen Sicherheitsarchitektur auf der Grundlage einer nachhaltigen Entwicklung beruht. Unser gemeinsames Ziel ist ein dauerhafter und transformativer Weltfrieden.

Stellen Sie sich eine Welt vor, die den Vorschlag von Gorbatschow aus dem Jahr 1986 aufgegriffen hätte, als er einen sowjetischen Vorschlag für ein Verbot aller Atomwaffen bis zum Jahr 2000 verkündete. Oder wenn die Vision von Olof Palme, dem damaligen schwedischen Ministerpräsidenten, verwirklicht worden wäre, als er in unser aller Namen ausrief, daß ein Atomkrieg alle Völker und alle Staaten treffen kann, selbst die, die am weitesten vom Kriegsschauplatz entfernt sind.

Das bedeutet aber auch, daß alle Völker und alle Staaten ein Recht haben, über diese Massenvernichtungswaffen mitzureden. Wir haben einen wichtigen Moment zur Sicherung des Weltfriedens, der Abrüstung verpaßt. Die Dynamik hinter dem Ende der Atomwaffen ging verloren, als die Vereinbarungen auf der Strecke blieben, und drei Jahrzehnte später stehen wir vor der Krise eines neuen Wettrüstens. Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen ist die einzige Verpflichtung mit einem multilateralen Ziel der nuklearen Abrüstung, die 1970 in Kraft gesetzt wurde und reaktiviert werden muß. Und es muß auf demokratische Weise ein umfassender Rahmen geschaffen werden, der die Welt der gesamten Menschheit repräsentiert.

In der groben Zweipoligkeit der globalen geopolitischen Stimmung haben sich die afrikanischen Bürger dafür entschieden, sich über diese Narrative hinwegzusetzen. Afrika ist seit jeher Teil einer Bewegung der Blockfreien. Unser Kontinent brennt bereits in den Konflikten, die in den Ressourcenkriegen ausgetragen werden, die uns heimsuchen, angetrieben von den räuberischen Interessen globaler multinationaler Konzerne, die versuchen, unseren Kontinent neu zu kolonisieren und ein weiteres brutales Ausbeutungsmodell des gewaltsamen Auslaugens aufzuzwingen. Afrika steht vor Herausforderungen für die Beendigung des Zustands unseres Kontinents als Epizentrum des Hungers. Wir wollen, daß unsere Souveränität respektiert wird. Wir können unsere knappen Ressourcen nicht in ein verschärftes globales Wettrüsten stecken.

In einer Welt, in der wir versuchen, eine funktionierende und verantwortungsvolle globale Governance aufzubauen, müssen wir uns eine ganz andere Welt vorstellen als die, die wir 1989, 1990 oder auch nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist ein Anachronismus einer längst vergangenen Welt, der durch die Uneinigkeit seiner fünf ständigen Vetomitglieder – die Vereinigten Staaten, Rußland, England, Frankreich und China – eingeengt wird, wobei jedes Mitglied seine eigenen Interessen und seinen eigenen Einfluß in den Vordergrund stellt.

Wir plädieren für eine neue Sicherheitsarchitektur, die den Willen und die Bestrebungen von mehr als nur den großen Weltmächten widerspiegelt. Afrika mit seinen 54 Ländern und 1,4 Milliarden Bürgern kann nicht von einer sinnvollen Beteiligung an der Entscheidungsfindung ausgeschlossen werden. Die afrikanischen Bürger wollen Teil einer globalen Bewegung sein, die die alten Trennlinien zwischen Ost und West überwindet. Ein Kontinent mit Bodenschätzen und natürlichen Ressourcen, die eine globale Wirtschaft antreiben, und mit dem jüngsten Bevölkerungsprofil der Welt will eine neue wirtschaftliche und politische Vereinbarung, die einen transformativen Frieden anstrebt.

Wir brauchen keine Weltmacht, die als unser Polizist auftritt. Wir wollen das Paradigma des Krieges, das von imperialem und kolonialem Denken geprägt ist, hinter uns lassen. Das zentrale Ziel, das wir anpacken wollen, ist die Klimakrise und der Aufbau einer grünen Kreislaufwirtschaft, die eine nachhaltige menschliche Entwicklung und erneuerbare Energien umfaßt.

Wir hoffen, daß Afrika sich Gehör verschafft, und zwar nicht nur bei unseren Regierungen, sondern auch bei der Debatte über eine neue integrative und entwicklungsfördernde Architektur, die die Stimmen von Bürgern, Bürgergruppen, Studenten, Frauen, Jugendlichen und einer Vielzahl von Basisorganisationen und -koalitionen einbeziehen muß. Wir ringen mit einer Chemie von Krisenumständen, die wir zu einem Neubeginn galvanisieren können, hin zu dem, was uns zu Menschen macht, was einen positiven Übergang für unsere evolutionäre Reise zu einer besseren Menschheit definiert – weg von Krieg, wirtschaftlicher und politischer Aggression und Militarismus, hin zu einem neuen, transformativen globalen Frieden.

Wie unser Präsident Nelson Mandela weise sagte: „Es scheint immer unmöglich, bis man es geschafft hat.“ Ich bete und hoffe mit der Mehrheit der afrikanischen Bürgerinnen und Bürger, daß wir heute den politischen Willen finden, dieses Stück Mandela in uns selbst zu finden, um eine größere Menschlichkeit zu manifestieren, zu der wir fähig sind.

Ich danke Ihnen.