Die afrikanische Perspektive
Von Jay Naidoo
Jay Naidoo war Kabinettsminister unter Präsident Nelson Mandela
in Südafrika. In der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 9. April sagte
er folgendes.
Ich danke Ihnen vielmals. Ich möchte Ihnen heute die Perspektive eines
afrikanischen Bürgers darlegen.
Wie die meisten afrikanischen Bürger bin auch ich zutiefst besorgt über das
menschliche Leid in der Ukraine und fordere, daß der Krieg beendet wird, daß
Rußland seine Streitkräfte abzieht und daß die humanitäre Krise dringend
angegangen wird. Ich fordere, daß sich die NATO und Rußland an den
Verhandlungstisch setzen und daß eine dauerhafte Friedensregelung erreicht wird,
die einen neuen sicheren und angestrebten Frieden zwischen Ost- und Westeuropa
einschließt. Die Welt braucht keinen weiteren Weltkrieg oder gar das
Weltuntergangsszenario eines nuklearen Winters. Die UN-Charta verpflichtet uns
alle dazu, einen friedlichen Weg zur Beilegung unserer Differenzen zu finden und
sicherzustellen, daß die Souveränität und Integrität aller Staaten gewahrt
bleibt.
Ich habe eine Rolle als Freiheitskämpfer gegen die Apartheid gespielt. Ich
war Mitglied des Kabinetts von Präsident Nelson Mandela. Ich wiederhole, daß wir
nur durch friedliche Verhandlungen unsere Unterschiede und unser Gruppendenken
überwinden und eine gemeinsame Basis finden können. Werden wir den Mut finden,
einander zu sehen und zu verstehen und den Wandel wie auch die Vielfalt in
unserer Welt zu bewältigen?
Afrika hat nicht die Absicht, erneut zum Schauplatz von Stellvertreterkriegen
in geopolitischen Konflikten zwischen globalen Mächten zu werden. Die Menschheit
sieht sich mit einer Reihe globaler Krisen konfrontiert, die einen perfekten
Sturm für ein Aussterben bilden. Die Anzeichen sind überwältigend und
bestätigen, daß wir uns in einer ökologischen Notlage befinden, in der
Pandemien, Ungleichheit, Hunger und Armut zunehmen.
Die Welt kann sich keinen Atomkrieg, kein weiteres Wettrüsten und auch keine
konventionelle Kriegsführung leisten. Und doch geschieht genau das.
Keiner will einen neuen Kalten Krieg. In Afrika haben wir mit dem massiven
Verlust von Menschenleben, der Zerstörung der Infrastruktur und sogar unseres
sozialen Gefüges teuer bezahlt.
1990 begrüßten wir das Ende des Kalten Krieges und den Traum von einer
atomwaffenfreien Welt. Südafrika hat sein Atomwaffenprogramm eingestellt und
sich gemeinsam mit seinen afrikanischen Mitstreitern für eine neue Weltordnung
eingesetzt, die auf Frieden, multilateraler Zusammenarbeit und einer neuen
globalen Sicherheitsarchitektur auf der Grundlage einer nachhaltigen Entwicklung
beruht. Unser gemeinsames Ziel ist ein dauerhafter und transformativer
Weltfrieden.
Stellen Sie sich eine Welt vor, die den Vorschlag von Gorbatschow aus dem
Jahr 1986 aufgegriffen hätte, als er einen sowjetischen Vorschlag für ein Verbot
aller Atomwaffen bis zum Jahr 2000 verkündete. Oder wenn die Vision von Olof
Palme, dem damaligen schwedischen Ministerpräsidenten, verwirklicht worden wäre,
als er in unser aller Namen ausrief, daß ein Atomkrieg alle Völker und alle
Staaten treffen kann, selbst die, die am weitesten vom Kriegsschauplatz entfernt
sind.
Das bedeutet aber auch, daß alle Völker und alle Staaten ein Recht haben,
über diese Massenvernichtungswaffen mitzureden. Wir haben einen wichtigen Moment
zur Sicherung des Weltfriedens, der Abrüstung verpaßt. Die Dynamik hinter dem
Ende der Atomwaffen ging verloren, als die Vereinbarungen auf der Strecke
blieben, und drei Jahrzehnte später stehen wir vor der Krise eines neuen
Wettrüstens. Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen ist die
einzige Verpflichtung mit einem multilateralen Ziel der nuklearen Abrüstung, die
1970 in Kraft gesetzt wurde und reaktiviert werden muß. Und es muß auf
demokratische Weise ein umfassender Rahmen geschaffen werden, der die Welt der
gesamten Menschheit repräsentiert.
In der groben Zweipoligkeit der globalen geopolitischen Stimmung haben sich
die afrikanischen Bürger dafür entschieden, sich über diese Narrative
hinwegzusetzen. Afrika ist seit jeher Teil einer Bewegung der Blockfreien. Unser
Kontinent brennt bereits in den Konflikten, die in den Ressourcenkriegen
ausgetragen werden, die uns heimsuchen, angetrieben von den räuberischen
Interessen globaler multinationaler Konzerne, die versuchen, unseren Kontinent
neu zu kolonisieren und ein weiteres brutales Ausbeutungsmodell des gewaltsamen
Auslaugens aufzuzwingen. Afrika steht vor Herausforderungen für die Beendigung
des Zustands unseres Kontinents als Epizentrum des Hungers. Wir wollen, daß
unsere Souveränität respektiert wird. Wir können unsere knappen Ressourcen nicht
in ein verschärftes globales Wettrüsten stecken.
In einer Welt, in der wir versuchen, eine funktionierende und
verantwortungsvolle globale Governance aufzubauen, müssen wir uns eine ganz
andere Welt vorstellen als die, die wir 1989, 1990 oder auch nach dem Zweiten
Weltkrieg erlebt haben. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist ein
Anachronismus einer längst vergangenen Welt, der durch die Uneinigkeit seiner
fünf ständigen Vetomitglieder – die Vereinigten Staaten, Rußland, England,
Frankreich und China – eingeengt wird, wobei jedes Mitglied seine eigenen
Interessen und seinen eigenen Einfluß in den Vordergrund stellt.
Wir plädieren für eine neue Sicherheitsarchitektur, die den Willen und die
Bestrebungen von mehr als nur den großen Weltmächten widerspiegelt. Afrika mit
seinen 54 Ländern und 1,4 Milliarden Bürgern kann nicht von einer sinnvollen
Beteiligung an der Entscheidungsfindung ausgeschlossen werden. Die afrikanischen
Bürger wollen Teil einer globalen Bewegung sein, die die alten Trennlinien
zwischen Ost und West überwindet. Ein Kontinent mit Bodenschätzen und
natürlichen Ressourcen, die eine globale Wirtschaft antreiben, und mit dem
jüngsten Bevölkerungsprofil der Welt will eine neue wirtschaftliche und
politische Vereinbarung, die einen transformativen Frieden anstrebt.
Wir brauchen keine Weltmacht, die als unser Polizist auftritt. Wir wollen das
Paradigma des Krieges, das von imperialem und kolonialem Denken geprägt ist,
hinter uns lassen. Das zentrale Ziel, das wir anpacken wollen, ist die
Klimakrise und der Aufbau einer grünen Kreislaufwirtschaft, die eine nachhaltige
menschliche Entwicklung und erneuerbare Energien umfaßt.
Wir hoffen, daß Afrika sich Gehör verschafft, und zwar nicht nur bei unseren
Regierungen, sondern auch bei der Debatte über eine neue integrative und
entwicklungsfördernde Architektur, die die Stimmen von Bürgern, Bürgergruppen,
Studenten, Frauen, Jugendlichen und einer Vielzahl von Basisorganisationen und
-koalitionen einbeziehen muß. Wir ringen mit einer Chemie von Krisenumständen,
die wir zu einem Neubeginn galvanisieren können, hin zu dem, was uns zu Menschen
macht, was einen positiven Übergang für unsere evolutionäre Reise zu einer
besseren Menschheit definiert – weg von Krieg, wirtschaftlicher und politischer
Aggression und Militarismus, hin zu einem neuen, transformativen globalen
Frieden.
Wie unser Präsident Nelson Mandela weise sagte: „Es scheint immer unmöglich,
bis man es geschafft hat.“ Ich bete und hoffe mit der Mehrheit der afrikanischen
Bürgerinnen und Bürger, daß wir heute den politischen Willen finden, dieses
Stück Mandela in uns selbst zu finden, um eine größere Menschlichkeit zu
manifestieren, zu der wir fähig sind.
Ich danke Ihnen.
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