Die Rolle und Verantwortung der Medien
Von Saeed Naqvi
Saeed Naqvi ist ein bekannter indischer Journalist,
Fernsehkommentator und Interviewer. Im Internetforum des Schiller-Instituts am
9. April hielt er den folgenden Vortrag.
Ich danke Ihnen vielmals. Eigentlich ist es mir unangenehm und schmeichelhaft
zugleich, in der Gesellschaft dieser erlauchten Schar von Professoren und
Wissenschaftlern zu sprechen, denn wir Journalisten sind alles nur am Anfang und
nichts für lange Zeit. Wenn sich der Mond dreht, sind wir Phantome, Fiddler,
Texter und Possenreißer. Aber ich bin wohl geeignet, an dieser sehr wichtigen
Konferenz teilzunehmen, denn während meine wissenschaftlichen Freunde arbeiten
und über Dokumenten brüten, bin ich in 110 Länder gereist, entweder mit meinem
Kameramann oder nur mit Notizblock und Bleistift. Das qualifiziert mich, denke
ich, bis zu einem gewissen Grad, wenn auch nicht vollständig.
Ich bin ein indischer Journalist. Es gab eine Zeit, in der wir dachten, wir
hätten so etwas wie eine liberale Presse. Aber lassen Sie mich mit etwas ganz
anderem beginnen. Aischylos, der griechische Tragödiendichter, der Meister der
griechischen Tragödie um etwa 400 v. Chr., war auch ein Krieger; damals hatten
die Leute all diese verschiedenen Bezeichnungen. Er sagte einmal: „Wenn der
Krieg ausbricht, ist die Wahrheit das erste Opfer.“ Ich glaube nicht, daß dies
ein wissenschaftlicher Durchbruch ist, den ich Ihnen hier verrate. Mein guter
Freund, der verstorbene Phillip Knightley, hat ein Buch geschrieben, einen
meisterhaften Katalog der Kriegskorrespondenz, mit dem Titel The First
Casualty – das „erste Opfer“ ist die Wahrheit.
Lassen Sie mich meine Ausführungen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion
beginnen, und dabei war die „Operation Wüstensturm“ die erste gemeldete
Markierung eines besiegten Systems durch ein erfolgreiches System. Die meisten
sind sich dessen nicht bewußt.
Diese Operation war in Bezug auf die Informationsordnung viel wichtiger als
die Besetzung des Irak im Jahr 2003. Warum? Weil mein Freund Peter Arnett von
der Terrasse des Al-Rashid-Hotels in Bagdad aus etwas einleitete, was Sie und
ich und viele Generationen noch nie gesehen hatten: Er brachte einen Krieg über
CNN live in unsere Wohnzimmer. Ich erinnere mich, daß Dick Cheney damals
sagte – er war Verteidigungsminister und wurde später Vizepräsident, weil er den
Irak besetzte: „Ich sehe, daß der Krieg sehr gut läuft. Ich habe es gerade auf
CNN gesehen.“ Und dann warb Hosni Mubarak für CNN: „Oh, der Krieg
läuft gut. Ich habe es auf CNN gesehen.“
Nun, dieser Krieg hatte folgende Wirkung: Er pulverisierte Saddam Hussein.
Der siegreiche Westen hat seine Marke nicht nur unter den Sieg über die
Sowjetunion gesetzt, sondern ganz allgemein: „Hier sind wir, wir sind die
einzige Supermacht, und das ist unsere Unterschrift.“
Diese eine Fernsehsendung von Peter Arnett teilte die Welt in zwei Gruppen
von Zuschauern: den siegreichen Westen und die pulverisierte, besiegte,
gedemütigte muslimische Welt – wo diese in Indien steht, ist noch offen. Und
auch in vielen anderen Gesellschaften. Das heißt, es gibt ein Rätsel, das ich
Ihnen vorlegen möchte.
Nun, das ging so weiter. Es kam zu den beiden Intifadas und dann zum
Bosnienkrieg. Und im Bosnien-Krieg sagte Europa: Nein. Obwohl jeder täglich die
Vergewaltigung der Bosnier sah, wollte Europa nicht intervenieren. Denn wenn wir
auf einer Seite eingreifen, so stehen wir zusammen, damit wir uns nicht
streiten. Wenn wir zusammenstehen, wenn wir uns auf die Seite der Serben
stellen, stehen die Serben auf der Seite der Alliierten. Wenn sich Deutschland
auf die Seite Kroatiens stellt, wäre Kroatien auf der Seite der Achsenmächte.
Wir werden also nicht intervenieren. Außenminister Genscher ist dann hingegangen
und hat Kroatien anerkannt, und das hat den Hühnerstall in Aufruhr versetzt.
Warum ich das jetzt sage? Meine Erinnerung beruht nicht auf Dokumenten. Ich
war selbst dort; ich war in Zagreb. Und Kardinal Kuharić von der Zagreber
Kathedrale war nach Rom gekommen und hat den Papst getroffen. Das wurde völlig
mißverstanden, denn es hieß: „Oh, die Achse kommt, die Achse kommt!“ So hieß es
in den Nachrichtenmedien, die geschaffen worden waren. Das hatte seine
Auswirkungen in den Regionen.
Wir, die wir Indien unterstützen, hatten unsere eigenen Nachahmermedien.
Vergessen Sie nicht, daß der Zusammenbruch der Sowjetunion genau der Zeitpunkt
war, an dem die wirtschaftliche Liberalisierung Indiens begann. Vor dieser Zeit
gab es nur einen einzigen Sender, Doordarshan, der ein wenig wie ein
staatliches Fernsehen war. Weitere Kanäle gab es in Indien nicht. Doch die
Werbung, die in der Wirtschaft aufblühte, verlangte nach Werbeflächen, und es
entstanden zahlreiche Kanäle. Diese Kanäle dienten der Industrie, den
Industriekapitänen, der Unternehmenswelt. Mit anderen Worten: Wären die Probleme
der Menschen, die Sozialhilfe, die Armut, Wohnungen, Land, Trinkwasser
hochgespielt worden, dann hätte es Aufstände gegeben. Wir wollten das Volk nicht
aufhetzen. Die Wirtschaft muß ihre Werbung haben; es sollte eine Mittelschicht
mit der Art von Werbung geschaffen werden, die die Mittelschicht mag.
Die Gesellschaft ist aber nicht den liberalen Weg gegangen – sie ist
überhaupt nicht den liberalen Weg gegangen. Jeder, der Indien aufmerksam
beobachtet, weiß, daß genau das hier passiert ist. Es waren die Medien.
Da die Zeit begrenzt ist, möchte ich Ihnen sagen, daß ich in den späten
1960er Jahren als junger Journalist in die Dienste einer Zeitung namens The
Statesman trat. Diese Zeitung befand sich damals im Besitz von zwölf
verschiedenen britischen Unternehmen. Die ganze Sichtweise aus den Kolonien war
noch sichtbar. Das koloniale System war auf dem Rückzug, aber es hatte einige
gute Institutionen hinterlassen, und eine davon war The Statesman. Es war
eine großartige Zeitung, und ich hatte das Privileg, dort ausgebildet worden zu
sein.
Wie lauteten die Vorgaben? Die zwölf Unternehmen hatten ein Kuratorium, ein
Direktorium und einen Treuhänderrat. Das Kuratorium gab dem Herausgeber eine
politische Linie vor, und ein Jahr lang wurde der Herausgeber weder vom Markt
noch von der Regierung noch von den eigentlichen Schreibern irgendwie behelligt.
Die Redaktion, so hieß es, „übt eine kritische Unterstützung des Establishments
auf Basis von Ausgabe zu Ausgabe“.
Mit anderen Worten: In einer Demokratie wird eine Regierung durch das Volk
geschaffen. Unsere Aufgabe ist es nicht, dem Urteil des Volkes zu folgen,
sondern im Namen des Volkes zu sehen, wie die Regierung funktioniert, ob sie nun
die BJP, die Faschisten, die Kommunisten, die Ultralinken oder die Ultrarechten
ist, das war nicht unsere Sache. Wir waren da, um die Entscheidung des Volkes in
jeder einzelnen Frage zu unterstützen.
Dieses System wurde in Indien während des Notstands von Frau Gandhi
durchbrochen. Frau Gandhis Notstand löste die Presse auf. Es entstanden zwei
Gruppen: diejenigen, die Frau Gandhi haßten, und diejenigen, die diejenigen
haßten, die Frau Gandhi haßten. Das hat sich bis zum heutigen Tag
fortgesetzt.
In der globalen Arena, bei den Sowjets, den sogenannten Progressiven und den
Kapitalisten, wurde gefeiert, was weltweit als Sieg der Demokratie, der
Menschenrechte und der guten Regierungsführung hätte gefeiert werden müssen.
Diese Worte wurden damals nie erwähnt. Gefeiert wurde dies als Sieg des Marktes,
als Sieg des zügellosen Kapitalismus. Und dafür wird regional und überall der
Preis gezahlt.
Was passiert jetzt, im Moment, mit den Medien? Ich habe Aischylos zitiert,
„wenn der Krieg ausbricht...“ Was die Amerikaner angeht, so fragte Trump Carter:
„Sir, die Chinesen schreiten voran. Was sollen wir tun?“ Carter drehte sich um
und sagte: „Hören Sie, seit 1979 haben die Chinesen keinen Krieg mehr geführt.“
Sie hatten Krieg gegen Vietnam geführt, wenn Sie sich erinnern, und ich habe
über diesen Krieg berichtet. „Danach“, so Carter, „haben wir nie
aufgehört, Krieg zu führen“. Und unsere Medien haben daher nie aufgehört,
Kriegsmedien zu sein.
Eine der großen Tragödien unserer Zeit ist daher der einzigartige
Zusammenbruch der Glaubwürdigkeit der westlichen Medien. Ja, wir werden die
Tragödie von Butscha mit feuchten Augen betrachten. Ja, wir beobachten, was in
der Ukraine vor sich geht. Aber die Frage bleibt in unserem Hinterkopf: „Ist das
die ganze Wahrheit?“
Es ist anders als in My Lai. Als My Lai geschah, ging Walter Cronkite hin und
deckte die ganze Sache auf, und das änderte die Richtung des Vietnamkrieges.
Heute gibt es Zweifel an Butscha. Es gibt jene, die alles glauben wollen. Es
gibt aber auch jene, die den Berichten nicht trauen. Es gibt eine Spaltung. Und
es geht um die neue globale Ordnung. Wo stehen die Medien bei all dem? Darüber
müssen wir sehr gründlich nachdenken.
Ich danke Ihnen.
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