Die Notwendigkeit, die Welt neu zu gestalten
Von Sam Pitroda
Sam Pitroda ist ein indischer Telekommunikations-Ingenieur,
Erfinder, Unternehmer und Buchautor und war Berater der indischen
Ministerpräsidenten Rajiv Gandhi und Manmohan Singh. In der Internetkonferenz
des Schiller-Instituts am 9. April hielt er den folgenden Vortrag.
Ich danke Ihnen. Meine Damen und Herren, ich grüße Sie aus Chicago.
Der Krieg in der Ukraine ist, wie jeder andere Krieg auch, für die Menschheit
von großer Bedeutung. Er geht uns alle an, denn er macht unsere Mitmenschen
unglücklich durch Tod, Zerstörung, Vertreibung, Armut, Hunger, Haß und falsche
Propaganda. Es gibt keinen Grund für einen Krieg im Jahr 2022. Nichts kann all
die Zerstörungen rechtfertigen, die derzeit stattfinden. Ich bin nicht hier, um
Partei zu ergreifen. Ich bin vor allem hier, um über die Notwendigkeit einer
Neugestaltung der Welt zu sprechen.
Die heutige Sicherheitsordnung basiert auf Befehlsstrukturen, im Gegensatz zu
Zusammenarbeit, Kooperation, Mitgestaltung und Kommunikation. Die heutige
Weltordnung basiert auch auf dem totalen Einsatz für Macht und Profit, im
Gegensatz zu dem, was gut für den Planeten und die Menschen ist. Ich habe ein
Buch mit dem Titel Redesign the World („Die Welt umgestalten“)
geschrieben, weil ich glaube, daß wir in der hypervernetzten Welt von heute und
morgen, in der alle acht Milliarden Menschen im wesentlichen miteinander
verbunden sind, ein neues Paradigma brauchen.
Was bedeutet es, eine vernetzte Welt zu haben? Wie können wir diese
Konnektivität nutzen, um die menschliche Zivilisation auf die nächste Stufe zu
bringen? Die Welt wurde zum letzten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg umgestaltet,
was die Weltbank, den IWF, die NATO, die WTO, die WHO und viele andere
Organisationen hervorbrachte. In dieser Zeit entstanden auch das BIP, das BSP,
das Pro-Kopf-Einkommen, die Zahlungsbilanz und verschiedene Meßgrößen. Dieses
Konzept hat sich beim Wachstum, beim Wohlstand, beim Wiederaufbau Europas und
beim Wiederaufbau Japans bewährt. Aber gleichzeitig hat dieses Konzept die
Probleme im Zusammenhang mit Armut, Hunger, Gewalt und Krieg nicht gelöst.
Dieser Entwurf basierte auf Demokratie, Menschenrechten, Kapitalismus, Konsum
und Militär.
Unmittelbar nach diesem Design wurde die Welt entkolonialisiert. Niemand
hätte je gedacht, daß wir uns in so kurzer Zeit entkolonialisieren würden. Und
niemand hätte gedacht, daß China in der Lage sein würde, so aufzusteigen, wie es
der Fall war. Die Sowjetunion brach ohne einen Tropfen Blut zusammen, und dann
wurde die Welt für eine gewisse Zeit unipolar. In diesem Prozeß wurde die
Technologie allgegenwärtig, die Ungleichheit nahm zu, und dann veränderte der
11. September 2001 alles.
Schließlich erinnert uns COVID-19 daran, daß wir alle miteinander verbunden,
verwoben, voneinander abhängig und aufeinander bezogen sind. Letzten Endes kommt
es auf zwei Dinge an: den Planeten und die Menschen. Wir haben mit unserer
Umwelt, der globalen Erwärmung, wirklich große Fehler gemacht, und wir haben uns
nicht um unsere Menschen gekümmert.
Was wir jetzt wirklich brauchen, ist ein völlig neues Paradigma. Wir müssen
unsere Demokratien, oder welche Regierungsform wir auch immer haben, zur
Inklusion führen. Wir müssen den Bedürftigen helfen, alle anderen Menschen
respektieren, und wir können nicht weiterhin Menschen angreifen, wobei
unschuldige Menschen getötet werden, hauptsächlich weil es an der Spitze einen
Machtkampf gibt. Wir müssen uns wirklich auf die menschlichen Bedürfnisse
konzentrieren; die Menschenrechte sind nicht gut genug. Wir leben in einem
Umfeld, in dem wir alles produzieren können.
Leider denken wir immer noch an eine Wirtschaft des Mangels, obwohl wir eine
Wirtschaft des Überschusses haben. Worüber streiten wir eigentlich? Es gibt
genug für alle und noch mehr, denn die Technologie hat uns einzigartige
Möglichkeiten in den Bereichen Produktion, Management, Vertrieb, Lieferung,
Märkte und Handel eröffnet. Aber wir müssen anders denken. Ich sage oft: Wir
haben eine Denkweise des 19. Jahrhunderts, Prozesse des 20. Jahrhunderts und
Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts.
Der Kapitalismus hat nicht für jeden Früchte gebracht. Er hat die
Ungleichheit vergrößert, so daß nur sehr wenige Menschen über viel Reichtum
verfügen und viele Menschen gar nichts haben. Wir brauchen eine neue Wirtschaft,
Dezentralisierung, Entwicklung von unten nach oben, Vernetzung von
Unternehmen.
Und wir müssen uns auf die Lokalisierung konzentrieren, während wir die
Globalisierung noch fördern. In lokalen Talenten, lokalen Ressourcen und lokalem
Boden steckt eine Menge Weisheit, und das müssen wir nutzen. Wir können nicht
zur Globalisierung übergehen, nur weil wir die Gewinne optimieren können.
Das Bruttoinlandsprodukt ist vielleicht nicht der richtige Weg, um die
Wirtschaft zu betrachten; wir brauchen das Bruttoumweltprodukt, das
Bruttoprodukt der menschlichen Entwicklung, und die ganze Idee des Konsums ist
zu weit gegangen. Am Ende produzieren wir das, was sich die Menschen leisten
können, und nicht das, was die Menschen brauchen. Wir müssen uns auf die
Nachhaltigkeit konzentrieren, wir müssen uns auf die Erhaltung
konzentrieren.
Und schließlich habe ich die Wurzeln von Mahatma Gandhi. Ich glaube fest an
die Gewaltlosigkeit. In dieser Welt gibt es keinen Platz für Gewalt.
Gewalt beginnt zu Hause, auf den Straßen, in den Städten. Und unsere Antwort
auf Gewalt ist die Bereitstellung von mehr Waffen, mehr militärischer
Ausrüstung. Heute produzieren wir militärische Ausrüstung im Wert von 2
Billionen Dollar; wir geben 2 Billionen Dollar aus, obwohl wir wissen, daß mit
200 Milliarden Dollar der Hunger in der Welt beseitigt werden kann.
Ich denke, es ist an der Zeit, daß wir uns überall auf die Gewaltlosigkeit
konzentrieren. Aber was machen wir mit dieser Idee? Die Idee besteht darin,
Demokratie durch Integration zu ersetzen, Menschenrechte durch menschliche
Bedürfnisse, Kapitalismus durch neue Wirtschaft, Konsum durch Umweltschutz und
Nachhaltigkeit und Militär durch Gewaltlosigkeit.
Wie können wir das tun? Diejenigen, die den Wunsch nach Veränderung haben,
haben keine Macht. Und diejenigen, die Macht haben, melken bereits das System
und haben kein Interesse daran, es zu ändern. Wir müssen also wirklich eine neue
Debatte beginnen. Wir müssen eine Debatte am unteren Ende der
Wirtschaftspyramide beginnen. Wir brauchen Vertreter des Wandels, wir brauchen
neue Institutionen, und wir müssen einige der bestehenden Institutionen
aufbrechen. Ich glaube, daß einige Institutionen ihren Nutzen überlebt
haben.
Seit 75 Jahren haben wir keine einzige neue globale Institution wie die UNO,
die Weltbank oder den IWF geschaffen. Ich denke, es ist an der Zeit, über eine
Neugestaltung der Welt nachzudenken. Und diese Neugestaltung muß die Menschen
und den Planeten in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen uns ständig sagen: Wenn
es gut für den Planeten ist, dann sollten wir es tun. Wenn es gut für die
Menschen ist, sollten wir es tun.
Leider sind unsere Entwürfe heute, wie ich bereits sagte, auf Macht und
Profit ausgerichtet. Solange diese Denkweise nicht von Befehl und Kontrolle zu
Koordination, Kooperation, Vernetzung und gemeinsamer Schöpfung übergeht, werden
wir kein neues Paradigma für die Menschheit schaffen.
Ich bin der festen Überzeugung, daß die Hyperkonnektivität, die Informationen
demokratisiert, Entscheidungen dezentralisiert und Dienste mit Inhalt, Kontext,
Dauer und Kommunikation entmonetarisiert, eine einzigartige Chance für die
Menschheit ist, mit Innovationen und Kreativität die Menschheit auf die nächste
Stufe zu heben. Ich glaube an die Neugestaltung. Etwas anderes möchte ich hier
gar nicht betonen. Aber ich bin davon überzeugt, daß wir uns alle die Hände
reichen müssen, um eine neue Weltordnung zu schaffen. Ich danke Ihnen.
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