Indien und die entstehende neue Weltarchitektur
Von Sam Pitroda
Sam Pitroda ist ein indischer Erfinder, Unternehmer und war
Minister oder Berater von sieben indischen Premierministern. In der
Internetkonferenz des Schiller-Instituts hielt er am 18. Juni den folgenden
Vortrag. (Übersetzung aus dem Englischen.)
Vielen Dank, Dennis. Meine Damen und Herren, ich grüße Sie aus Chicago.
Zunächst möchte ich dem Schiller-Institut, Helga, Dennis, David und anderen
dafür danken, daß sie mir diese Gelegenheit gegeben haben. Es ist in der Tat
ein besonderes Privileg und eine Ehre, mit diesen hervorragenden Rednern
zusammen zu sein.
Ich spreche zu Ihnen als Weltbürger, der nicht nur über die gegenwärtige
Krise in der Ukraine und die möglichen Auswirkungen auf unseren Frieden,
unseren Wohlstand, unsere Lebensmittel, unsere Energie und unsere Wirtschaft
besorgt ist, sondern auch als jemand, der sich große Sorgen um die Zukunft der
Menschheit macht.
Einerseits verfügen wir über ein großes Potential an Zukunftstechnologien,
insbesondere in den Bereichen IT, Biowissenschaften und Energie, um unsere
Welt zu verändern. Leider liegt unser Augenmerk immer noch auf Macht und
Profit, und nicht auf dem Planeten und den Menschen („power and profit, not
people and planet“). Ich bin hier, um meine persönlichen Ansichten zu
vertreten, als Inder, der seit 58 Jahren in den USA lebt und Demokratie,
Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Vielfalt, menschliche Entwicklung und
Technologie bewundert und an Wahrheit, Vertrauen und Liebe glaubt.
Wenn ich mir die globalen geopolitischen Gespräche ansehe, die heute in der
Welt geführt werden, mache ich mir Sorgen darüber, daß wir über unsere Zukunft
entscheiden, indem wir auf unsere Vergangenheit schauen. Es ist bedauerlich,
daß wir uns immer noch Gedanken über eine unipolare oder bipolare Welt machen.
Wir wollen immer noch andere Länder dominieren, ärmere Menschen ausnutzen und
uns nicht wirklich auf das Potential konzentrieren, das die Technologie heute
bietet. Es geht darum, die Welt anzugleichen, die Menschen zu vernetzen,
zusammenzuarbeiten, zu kooperieren, gemeinsam etwas zu schaffen, im Gegensatz
zu unserer heutigen Architektur, die immer noch hauptsächlich auf Befehl und
Kontrolle ausgerichtet ist. Und das macht mir wirklich große Sorgen.
Ich habe kürzlich ein Buch mit dem Titel Redesign the World („Die
Welt neu gestalten“) geschrieben, in dem es vor allem um das Potential der
Technologie geht, insbesondere um die Hyperkonnektivität. Bei der
Hyperkonnektivität geht es um die Vernetzung, um die Verkleinerung, um die
Verbindung kleinerer Unternehmen. Es geht um Nicht-Hierarchie, um Offenheit,
Zugänglichkeit, Konnektivität, Demokratisierung und Dezentralisierung. Leider
setzen wir viele dieser Ideen nicht ein, um eine neue Welt zu schaffen. Neue
Instrumente werden eingesetzt, um Konzepte der alten Welt zu fördern, und
nicht, um eine neue Welt zu schaffen, in der es Wohlstand für alle gibt, in
der die Würde der Menschen gewahrt bleibt und in der der Planet und die
Menschen klar im Mittelpunkt stehen.
Bei allen Aktivitäten geht es heute nur noch um Macht und Profit. Die
Märkte steigen und fallen, weil es irgendwo einen globalen Konflikt gibt. Wir
haben das in den letzten Monaten wegen der Krise in der Ukraine erlebt. Auf
der einen Seite können wir rechtfertigen, was vor sich geht, auf der anderen
Seite stellen wir fest, daß unabhängig von der Rechtfertigung auf beiden
Seiten unschuldige Menschen getötet werden. Eigentum wird ohne Grund zerstört.
Und es ist keine Lösung in Sicht, denn es ist fast wie ein „mexikanisches
Patt“.
Jetzt beginnen wir zu erkennen, welche Auswirkungen dies auf Energie,
Lebensmittel und die Wirtschaft hat. Das Wirtschaftsmodell, das wir vor 70-80
Jahren auf der Grundlage eines starken Dollars, des IWF und der Weltbank
geschaffen haben, scheint in einer hypervernetzten Welt nicht mehr zu
funktionieren.
Wir brauchen eine neue Wirtschaftsordnung, und das ist eine große
Herausforderung. Wir brauchen eine Wirtschaftsordnung, die stärker
dezentralisiert ist, die sich mehr auf kleinere Unternehmen stützt, die sich
auf lokale Talente, lokale Überlegungen, das Potential lokaler Böden und
lokaler Lebensmittel stützt, die aber gleichzeitig die Globalisierung
respektiert und fördert.
Wir neigen dazu, die Welt in Schwarz und Weiß, in Schubladen zu sehen. Wir
müssen lernen, die Welt in Grautönen zu sehen. Es geht nie um Globalisierung
oder Lokalisierung; es geht um beides gleichzeitig.
Der Schlüssel liegt darin, zu verstehen, was man globalisiert und was man
nicht globalisieren sollte. Schauen Sie sich den Dünger an und wie er sich auf
die lokalen Böden und Mikroben auswirkt und im Namen der Technologie, der
Globalisierung, die lokalen Lebensmittel fast vernichtet. Wir schaffen so eine
Situation, in der die lokale Lebensgrundlage beeinträchtigt wird.
Letzten Endes betreffen Beschäftigung und Wirtschaft jeden. Nicht jeder
Mensch versteht das geopolitische Gleichgewicht. Sie schauen auf das, was
ihnen wehtut. Und für sie werden Wirtschaft und Arbeitsplätze, Sicherheit,
Frieden und Wohlstand sehr wichtig. Unser gesamter wirtschaftlicher Wohlstand
ist heute von oben nach unten gerichtet, obwohl wir einen Ansatz von unten
nach oben brauchen.
Gandhisches Denken notwendig
Ich bin in einem Gandhischen Umfeld aufgewachsen, denn ich wurde 1942 im
britischen Raj geboren. Nach der Unabhängigkeit gab es in Indien viel
Aufregung wegen des Gandhischen Denkens, das sich im Wesentlichen auf
Dezentralisierung, menschliche Entwicklung und „small is beautiful“
konzentrierte. Der Schwerpunkt lag auch auf der Gewaltlosigkeit.
Ich glaube, unsere Welt hat vergessen, sich auf die Gewaltlosigkeit zu
konzentrieren. Überall, wo man sich umsieht, in jedem größeren städtischen
Gebiet, gibt es ein riesiges Ausmaß an Gewalt. In den USA hören wir das jeden
Tag. Schießereien in Einkaufszentren, Schulen, Colleges, am Arbeitsplatz.
Wirklich wichtig ist, daß wir für Sicherheit sorgen, für Arbeitsplätze,
Beschäftigung, Bildung, Hilfe für eine große Zahl von Menschen, die am unteren
Ende der wirtschaftlichen Skala stehen. Und darauf sollten wir uns
konzentrieren. Dort muß unsere neue Technologie eingesetzt werden, und nicht
als Künstliche Intelligenz für die Verteidigung, nicht als Big Data und andere
Dinge, um Menschen zu kontrollieren.
Ich glaube, daß wir mit unserer Herangehensweise an sehr grundlegende Werte
etwas falsch machen. Das macht mir Sorgen. Ich mache mir Sorgen darüber, daß
in den sozialen Medien Lügen verbreitet werden, die sich auf die Bürger, ihren
Geldbeutel und das globale Gleichgewicht der Kräfte auswirken. Und es wird
eine riesige Menge Geld für unnötige Konflikte verschwendet. Heute geben wir
jedes Jahr zwei Billionen Dollar für die Verteidigung aus. Und durch die
Erweiterung der NATO wird diese Zahl noch weiter steigen. Dabei wissen wir,
daß wir den Hunger mit nur etwa 200 Milliarden Dollar pro Jahr beseitigen
können. Es ist uns nicht gelungen, Hunger, Armut, Diskriminierung und
Ungleichheit zu beseitigen. Ich denke, das sind die wahren Herausforderungen,
die vor uns liegen.
Bei der neuen Wirtschaft geht es also nicht um BIP, BSP, Handelsbilanz oder
Pro-Kopf-Einkommen. Es geht um eine gerechte Verteilung des Wohlstands. Heute
neigen wir dazu, ein Wirtschaftsmodell danach zu beurteilen, wie viele
Milliardäre es schafft, und nicht danach, wie viele Menschen aus der Armut
befreit werden. Heute beurteilen wir die Wirtschaft anhand der Aktienmärkte
und nicht anhand der Beschäftigung.
Ich bin sehr besorgt über die globale Mentalität. Ich denke, wir brauchen
weltweit neue Gespräche, um unsere Demokratie auf Inklusion auszurichten, die
Menschenrechte auf die Bedürfnisse der Menschen, den Kapitalismus auf eine
neue Wirtschaft, in der sich der Reichtum nicht konzentriert, in der der
Lokalisierung mehr Bedeutung beigemessen wird, in der Dezentralisierung im
Mittelpunkt steht und in der der Schwerpunkt auf der Entwicklung von unten
nach oben und nicht von oben nach unten liegt. Wir wollen anfangen, über ein
System der Erhaltung im Gegensatz zum Konsum nachzudenken. Wir müssen
Technologien einsetzen, um die Produktivität und die Effizienz zu verbessern,
die Kosten zu senken, aber gleichzeitig sicherstellen, daß wir unsere Umwelt
nicht verschmutzen. Der Planet muß im Mittelpunkt unserer Entwicklung
stehen.
Und schließlich glaube ich aufgrund meines persönlichen Hintergrunds, daß
der Schlüssel darin liegt, sich auf eine gewaltfreie Welt zu konzentrieren.
Wir können nicht so weitermachen wie bisher und erwarten, daß die Gewalt in
der Welt zurückgeht.
In Amerika wird derzeit über Waffengesetze diskutiert, und kürzlich hörte
ich, daß ein 18-jähriger Junge Zigaretten kaufen wollte und es nicht durfte.
Er wollte Tabak kaufen, durfte es aber nicht. Dann wollte er Bier kaufen. Er
konnte es nicht kaufen, weil er zu jung war. Aber er wollte eine Waffe kaufen,
und es gab kein Problem. Wie können wir in einem derartigen globalen System
ein sicheres Umfeld für unsere Kinder erwarten?
Ich denke, das sind die Probleme. Wir wissen, was die Lösungen sind. Aber
eine Handvoll Leute an der Spitze haben ein anderes Wertesystem. Sie wollen
die Waffenlobbys fördern, sie wollen offensichtlich, vielleicht unwissentlich,
Gewalt fördern. Sie wollen die Konzentration von Reichtum, sie wollen, daß die
Umwelt verschmutzt wird. Und das beunruhigt mich wirklich, weil wir nicht
zuhören. Die Menschen an der Spitze, die Menschen an der Macht, hören nicht
auf die Menschen an der Basis. Sie haben jegliches Gespür für Menschlichkeit
verloren, und es geht ihnen nur noch um die Machtverhältnisse. Es geht ihnen
um den Wohlstand einiger weniger, und das muß sich ändern.
Ich denke, die neue Wirtschaft muß sich ganz einfach darauf konzentrieren,
Millionen von Menschen aus der Armut zu befreien, Hunger und Gewalt zu
beseitigen, für ausreichend Nahrung, Bildung und Gesundheit zu sorgen. Und
nicht nur auf die Handelsbilanz, das BIP und das BSP schauen. Es ist machbar,
es ist nicht sehr kompliziert, aber wir müssen über eine Umgestaltung
nachdenken. Das derzeitige Konzept funktioniert nicht mehr.
In einer hypervernetzten Welt brauchen wir ein neues Konzept, das nicht auf
Profit und Macht, sondern auf den Planeten und die Menschen ausgerichtet ist.
Wir wissen, wie wir es gemeinsam schaffen können, aber wir müssen ein neues
Gespräch beginnen.
Ich bin hier, um uns alle aufzufordern, darüber nachzudenken, wie wir neue
Werkzeuge und neue Technologien nutzen können, um die Menschheit wirklich auf
die nächste Stufe zu heben, anstatt weiter zu kämpfen, weiter zu töten, weiter
zu verletzen und weiter Milliardäre zu schaffen. Es ist an der Zeit, sich
ernsthaft mit der Neugestaltung der Welt zu befassen. Die Antworten sind hier.
Wenn genug von uns zusammenkommen und ein globales Gespräch darüber führen,
bin ich sicher, daß wir beginnen können, die Dinge zu verändern.
So wie die Dinge heute stehen, mache ich mir Sorgen um die Welt; ich mache
mir Sorgen um meine eigenen Enkelkinder. Die Welt, die ich von meinen
Großeltern geerbt habe, war einfach, arm, aber sicher und sauber. Die Welt,
die ich meinen Enkeln übergebe, ist komplex, verschmutzt, voller Konflikte,
aber reich. Und ich möchte, daß wir alle zusammenkommen und nicht nur über die
Geschehnisse in der Ukraine sprechen. Das ist nur ein kleines, unbedeutendes
Teil des Puzzles. Sondern auch darüber sprechen, was weltweit mit der
Menschheit geschieht.
Ich danke Ihnen.
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