„Konzentrieren Sie sich auf das, was uns eint,
nicht auf das, was uns trennt“
Von Botschafter Dmitrij Poljanskij
Botschafter Dmitrij Poljanskij, Erster Stellvertretender
Ständiger Vertreter der Russischen Föderation bei den Vereinten Nationen,
übermittelte den folgenden Redebeitrag für ein Seminar des Schiller-Instituts am
22. Januar 2022 zum Thema „Führung macht den Unterschied: Kann ein Krieg mit
Rußland noch vermieden werden?“ Die Rede wurde aus dem Englischen übersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Name ist Dmitrij Poljanskij. Ich bin der
Erste Stellvertretende Ständige Vertreter Rußlands bei den Vereinten Nationen.
Ich möchte dem Schiller-Institut und Frau Helga Zepp-LaRouche dafür danken, daß
sie mich eingeladen haben, auf der heutigen Konferenz zu sprechen.
Die Nachrichten über unseren Vorschlag für Sicherheitsgarantien und die
Verhandlungen mit dem Westen beherrschen die Schlagzeilen dermaßen, daß man sich
in diesen Tagen kaum ein aktuelleres Thema vorstellen kann. Ich freue mich über
diese Gelegenheit, meine Ansichten aus unserer Sicht darzulegen.
Ich möchte vorsichtig optimistisch beginnen. Unser Dialog mit den USA, der
NATO und der OSZE [Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa]
wird weitergeführt. Während ich hier spreche, trifft sich unser Außenminister
[Sergej Lawrow] mit dem US-Außenminister [Antony] Blinken in Genf, um den
früheren Kontakt im Januar abzuverfolgen. Wir treffen uns also, und wir sprechen
miteinander. Ich habe keinen Zweifel daran, daß das eine positive Entwicklung im
Vergleich zum Stillstand der letzten Jahre ist.
Der Wert dieser Kontakte sollte nicht unterschätzt werden. Vor einiger Zeit
hätte man sie vielleicht sogar noch als das eigentliche Ergebnis betrachten
können. Realistisch gesehen sind diese Zeiten aber vorbei. Reden reicht heute
eindeutig nicht mehr aus, weil alle „Ehrenworte“ von unseren westlichen Partnern
wiederholt gebrochen wurden. Unsere nationalen Sicherheitsinteressen sind direkt
bedroht, weil die NATO-Länder an unseren Grenzen militärische Aufrüstung
betreiben.
Deshalb erwarten wir dieses Mal keine langwierigen Diskussionen, sondern eine
ganz konkrete Antwort unserer westlichen Kollegen auf die von uns vorgelegten
Vorschläge zu Sicherheitsgarantien. Wie Sie wissen, haben wir der amerikanischen
Seite im vergangenen Dezember zwei Entwürfe vorgelegt: einen
russisch-amerikanischen Vertrag über Sicherheitsgarantien sowie ein Abkommen
über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit Rußlands und der
NATO-Mitglieder.1 Die Vorstellungen in diesen Entwürfen sind nicht
aus der Luft gegriffen. Sie stützen sich auf frühere Vereinbarungen, u.a. auf
die OSZE-Gipfel in Istanbul 1999 und in Astana 2010, die besagen, daß die
OSZE-Mitglieder ihre eigene Sicherheit nicht auf Kosten der anderen stärken
werden. Keinem Staat, keiner Gruppe von Ländern oder Organisationen kann die
Hauptverantwortung für die Erhaltung von Frieden und Stabilität in Europa
übertragen werden. Das ist ein integraler Bestandteil der Kompromisse und
Entscheidungen, die auf höchster Ebene in der OSZE getroffen werden, und unsere
westlichen Partner müssen ihren Teil dieser Verpflichtungen erfüllen.
Kurz gesagt, wir wollen schriftliche, rechtsverbindliche und unumstößliche
Garantien für folgendes:
- daß die NATO nicht nach Osten expandiert;
- daß keine Angriffswaffen in der Nähe des russischen Territoriums
stationiert werden;
- daß die militärische Infrastruktur in Europa auf die Parameter
zurückgeführt wird, die in der Grundakte zwischen der NATO und Rußland von 1997
festgelegt sind.
Das sind unsere roten Linien, und unsere Kollegen im Westen sind sich dessen
wohl bewußt. Wir erwarten, daß wir so bald wie möglich schriftliche Kommentare
zu unserem Vorschlag für diese strategischen Initiativen erhalten und uns nicht
in endlosen und fruchtlosen Diskussionen verzetteln.
Leider versuchen unsere westlichen Kollegen, das ganze Thema auf die Ukraine
zu reduzieren. Manchmal scheint es, als ob sie sich in gewisser Weise selbst
hypnotisieren, indem sie die unmittelbare Gefahr einer russischen Invasion
sehen. Das hat etwas Irrationales, Sie wissen schon: Selbstverschuldete Phobien
sind etwas, das man eher in einer Therapie als in einem ernsthaften politischen
Kreis besprechen sollte.
Es scheint auch, daß unsere westlichen Kollegen durch den sogenannten „Sieg“
im Kalten Krieg geblendet sind und weiter in diesen Erinnerungen leben und
versuchen, aus einer Position der Überlegenheit heraus zu sprechen und mit
zweierlei Maß zu messen. Sie machen uns Vorwürfe wegen der Anwesenheit und
Bewegungen unserer Truppen auf unserem eigenen Hoheitsgebiet, während sie
behaupten, alles, was sie auf dem Gebiet der NATO tun, gehe niemanden etwas an.
Das wird nicht länger funktionieren.
Was die destabilisierenden Aktivitäten angeht, so ist es genau das, was der
Westen in der Ukraine tut, indem er immer mehr Waffen und Truppen dorthin
schickt und die Militarisierung des Landes vorantreibt. Anstatt Kiew zu
ermutigen, das Minsker Paket und seine anderen internationalen Verpflichtungen
einzuhalten, ermutigen unsere westlichen Partner Kiews blutrünstigen Blick auf
den Donbaß, weil es die sogenannte Hilfe des Westens als Freibrief auffaßt. Das
Jahr hat gerade erst begonnen, aber nach Angaben der
OSZE-Sonderbeobachtungsmission hat die Zahl der Waffenstillstandsverletzungen
bereits 3000 überschritten.
Aber das eigentliche Problem ist viel größer als die Ukraine. Die gesamte
Architektur der regionalen Sicherheit in Europa ist nahezu ruiniert. Die
Situation eskaliert, und entgegen der westlichen Darstellung gehen alle
Bedrohungen vom Westen und nicht von Rußland aus. Täglich wird versucht, uns mit
Sanktionen und schwerwiegenden Konsequenzen einzuschüchtern, was auch immer das
sein mag.
Das ist nichts Neues. Rußland hat sich seit Jahrhunderten gegen verschiedene
Bedrohungen gewehrt. Wir haben also gelernt, damit umzugehen. Man sollte die
Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, und wir haben immer noch die Chance,
uns auf das zu konzentrieren, was uns verbindet und nicht trennt.
Ich wünsche Ihrer Konferenz viel Erfolg und eine fruchtbare Fortsetzung Ihrer
Arbeit. Ich danke Ihnen sehr.
Anmerkung
1. Siehe https://www.mid.ru/en/foreign_policy/news/1790809/
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