Wir sollten uns zusammenschließen, um zu überleben
Von Sergej Pulinez
Prof. Sergej Pulinez ist leitender Wissenschaftler des
Weltraumforschungsinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften in
Moskau. Er verfügt über mehr als 40 Jahre Erfahrung in der Weltraum- und
Radiophysik, der Physik der Ionosphäre und der Geophysik. In der
Internetkonferenz des Schiller-Instituts sagte er am 19. Juni folgendes.
(Übersetzung aus dem Englischen.)
Guten Tag – oder guten Morgen für diejenigen, die noch Vormittag haben.
Ich möchte mit Ihnen meine Ideen über den Zusammenhang zwischen der
Entwicklung der Wissenschaft und dem gegenwärtigen Zustand unserer
Gesellschaft teilen. Wahrscheinlich werde ich mit ähnlichen Dingen beginnen,
die in dem ersten Vortrag über Akademie-Mitglied Wernadskij1
beschrieben wurden, dessen Ideen meiner Ansicht nach den Weg für das geebnet
haben, was ich jetzt mache – ganz besonders zwei Dinge.
Er war einer der ersten Wissenschaftler, der die Kernphysik zur
Wissenschaft machte – das Gebiet der Radiumforschung. Er war der Direktor des
Radium-Instituts in St. Petersburg, und ich arbeite jetzt auch mit Radon –
einem Tochterprodukt von Radium –, das eine sehr wichtige Rolle bei der
Veränderung der unteren Atmosphärenschicht spielt und zur Kopplung von
Lithosphäre, Atmosphäre und Ionosphäre beiträgt, wie ich etwas später
beschreiben werde.
Letztlich sind es seine Ideen zu den Wechselbeziehungen der Geosphäre, auf
denen unser Modell beruht. Eine seiner sehr interessanten und wichtigen Ideen
war die Idee der Noösphäre. Diesen Begriff hatten schon etwas früher der
französische Wissenschaftler Édouard Leroy und der Priester Pierre Teilhard
de Chardin vorgeschlagen. Aber Professor Wernadskijs Verdienst ist es, daß er
diesen Begriff mit materiellem Inhalt gefüllt hat: Er zeigte, daß die
Kenntnis der Naturgesetze und die Verbesserung der Technik einen
entscheidenden Einfluß auf den Ablauf der Prozesse auf der Erde und im
erdnahen Weltraum auszuüben beginnen und sie durch ihre Aktivität
verändern.
Abb. 1a: Vollständigkeit contra Simplizität: Um die Wechselwirkungen in der
Geosphäre richtig zu verstehen, muß man über die Atmosphäre hinaus
blicken und auch die Wirkungen aus dem Weltraum auf die Umwelt
berücksichtigen, insbesondere die Phänomene
der Stratosphäre und Ionosphäre.
Abb. 1b: Die zu stark vereinfachte „Lehrbuch-Version“.
Aber in vielen Ländern, vor allem in der westlichen Welt, hat man ein
etwas primitives Verständnis von der Wechselwirkung der Geosphäre. Wenn man
den unteren Teil des Bildes betrachtet (Abbildung 1), sieht man nur
die Biosphäre, die Atmosphäre, die Geosphäre und die Hydrosphäre und vergißt
völlig die Auswirkungen des Weltraums auf unsere Umwelt, der eine
entscheidende Rolle bei der Entwicklung unserer Natur und Gesellschaft
spielt.
Eine zweite, sehr wichtige Sache: Die Biosphäre, und insbesondere das
Leben der Menschheit, ist sehr fragil, denn wenn man sich den oberen Teil der
Abbildung betrachtet, sieht man, daß die Biosphäre sehr dünn ist, nur eine
dünne Haut – man könnte von einer „Haut des Lebens“ sprechen. Denn die 20 km
Atmosphäre, in der Lebewesen existieren, sind noch weniger als die Haut
unseres Körpers, wenn man es aus der Perspektive des Weltraums betrachtet.
Wir sollten also sehr vorsichtig sein, um die Bedingungen unseres Lebens zu
erhalten, damit wir nicht die Möglichkeit einer Zukunft verlieren.
Als nächstes kann man sehen, daß die Interaktion der Geosphäre viel
komplexer ist, weil es den Einfluß von oben gibt, von der Sonne, von der
galaktischen kosmischen Strahlung. Denn die Energie der Sonnenaktivität wird
in die Energie unserer Magnetosphäre umgewandelt, die eine Vielzahl
verschiedener Ströme und Felder in unserer Umgebung, in der Ionosphäre, in
der Atmosphäre erzeugt. Viele physikalische Ereignisse werden von der
Sonnenaktivität beeinflußt, z.B. können wichtige Einrichtungen wie Kraftwerke
von der Sonnenaktivität beeinflußt werden. Sie erinnern sich vielleicht an
die Katastrophe in Kanada im Jahr 1989, als die gesamte Provinz Ontario einen
ganzen Tag lang ohne Strom war.
Überdies gibt es Einflüsse auf die seismische Aktivität, die auf unsere
Umwelt wirkt, und diese Aktivität wird nicht nur in die Atmosphäre
projiziert, sondern auch in die Ionosphäre und sogar in die Magnetosphäre,
und verändert unsere Umwelt.
Dies wird deutlich, wenn man sich den globalen Stromkreis anschaut, in dem
wir leben. Wir befinden uns ständig innerhalb des globalen Stromkreises, und
auf der Erdoberfläche beträgt das vertikale elektrische Feld oder der
Gradient des vertikalen elektrischen Feldes 100 Volt/Meter. Zwischen Ihren
Beinen und Ihrem Kopf herrschen also fast 200 Volt Unterschied, und dieser
globale Stromkreis wird durch viele Faktoren verändert, durch die galaktische
kosmische Strahlung, durch Luftverschmutzung, durch natürliche
Radioaktivität. So trägt z.B. die galaktische kosmische Strahlung auch zur
Wolkenbildung bei.
Erdbeben und Wirbelstürme
Abb. 2: Carnegie-Kurve und Gewitter-Aktivität
Die Carnegie-Kurve zeigt Variationen des Gradienten des
elektrischen Potentials über der Erdoberfläche im Verlauf des 24stündigen
Tages. Die Abbildung zeigt die Veränderung in Prozent des Durchschnitts.
Links unten: Donner sind eine Folge elektrischer Entladungen, die ebenfalls
je nach Tageszeit variieren. Die oberste Kurve für die Welt insgesamt ähnelt
der Carnegie-Kurve: Wenn das elektrische Potential groß ist, sind die
Gewitter-Entladungen häufiger. Rechts: die geographische Verteilung der
Gewitter-Entladungen an zwei verschiedenen Zeitpunkten im Abstand mehrerer
Monate. Man beachte die Verschiebung zwischen der nördlichen und der
südlichen Hemisphäre.
Es besteht somit ein Zusammenhang zwischen der Wirkung der galaktischen
kosmischen Strahlung und der Gewitteraktivität (Abbildung 2). Hier
sehen Sie die sogenannte „Carnegie-Kurve“. Das ist eine
Universalzeit-Variation des elektrischen Feldes der Erdoberfläche, und auf
der rechten Seite sieht man die Verteilung der Gewitterentladungen, die sich
hauptsächlich über den Kontinenten konzentrieren, und im Sommer ist diese
Gewitteraktivität in der nördlichen Hemisphäre höher als in der südlichen
Hemisphäre.
Interessant und sehr rätselhaft ist jedoch, daß diese tägliche elektrische
Feldaktivität eine sehr starke Korrelation mit der globalen seismischen
Aktivität aufweist. Wenn wir die Ursache-Wirkungs-Beziehungen betrachten,
kann man feststellen, daß die seismische Aktivität wahrscheinlich die
Gewitteraktivität auf unserem Planeten steuert. Man sieht, daß die seismische
Aktivität hauptsächlich in solchen Längengraden auftritt, wo die
Magnetfeldlinien aus dem Schwanz der Magnetosphäre während der Nacht auf
diesen Längengrad projiziert werden. Man kann die Linien der tektonischen
Hauptaktivität für den Fall sehen, daß es in der westlichen Hemisphäre Tag
und in der östlichen Hemisphäre Nacht ist, und der gesamte
asiatisch-pazifische Teil seismisch aktiv ist. In der gegenüberliegenden
Darstellung sieht man die Projektion des Südpols und die seismische Aktivität
in der westlichen Hemisphäre.
Abb. 3: Kosmische Strahlung und der Hurrikan Katrina
Pulinez: „Diese tägliche elektrische Feldaktivität weist eine sehr starke
Korrelation mit der globalen seismischen Aktivität auf. Wenn wir die
Ursache-Wirkungs-Beziehungen betrachten, kann man feststellen, daß die
seismische Aktivität wahrscheinlich die Gewitteraktivität auf unserem
Planeten steuert.“ Rechts oben: Anzahl der Erdbeben 1973-2017,
aufgeschlüsselt nach der Tageszeit (mit einer geglätteten Kurve). Rechts
unten: Anzahl der Erdbeben innerhalb einer Woche im Februar 2015 (mit einer
geglätteten Kurve). Man beachte die Ähnlichkeit der Kurven zur Carnegie-Kurve
(links).
Abb. 4: Ein plötzlicher Rückgang der kosmischen Strahlung aus der Galaxis,
die die Erde erreicht, löste den Hurrikan Katrina aus. Solche plötzlichen
Rückgänge sind die Folge solarer koronaler Masseauswürfe und der dadurch
ausgelösten magnetischen Stürme, weil ein Teil der kosmischen Strahlung von
der Erde „weggeblasen“ wird. Der Rückgang des Zustroms kosmischer Strahlung
führte zu einer Absenkung der Lufttemperatur in einer Höhe von 16 km in der
Tropopause von fast 9°C. Das bedeutete eine drastische Vergrößerung der
Temperaturdifferenz zwischen der Tropopause und der Oberfläche der Erde bzw.
der Ozeane, was wiederum zu einer Steigerung der vertikalen Turbulenzen und
der vertikalen Konvektion und so zum Hurrikan Katrina führte. Oben links:
Durchschnittsdaten für sieben Hurrikane der (stärksten) Kategorie 5 im
Atlantischen Ozean. Jeweils zwei Tage vor der Entwicklung dieser extrem
starken Hurrikane gab es einen starken Rückgang der kosmischen Strahlung aus
der Galaxis.
Was die Wirkung der galaktischen kosmischen Strahlung angeht, so hat
wahrscheinlich noch niemand gehört, daß die galaktische kosmische Strahlung
einen Einfluß auf die Entstehung und Verstärkung von Wirbelstürmen hat. Das
möchte ich Ihnen am Beispiel des Hurrikans Katrina zeigen. Wahrscheinlich hat
noch niemand gehört, daß es vor dem Hurrikan Katrina einen starken
geomagnetischen Sturm gegeben hatte, während dessen es zu einer sogenannte
Forbush-Abnahme des galaktischen kosmischen Strahlungsflusses kam, was zu
einer Absenkung der Lufttemperatur in 16 km Höhe in der Tropopause um fast
9°C führte. Aufgrund dieses Temperaturrückgangs in der Tropopause stieg die
Temperaturdifferenz zwischen der Boden- bzw. Meeresoberfläche und der
Tropopause drastisch an, was zu einer Zunahme der vertikalen Turbulenz und
der vertikalen Konvektion führte, und das wiederum hatte die Entstehung des
Hurrikans Katrina zur Folge.
Und das ist nicht der einzige Fall. Das violette Bild zeigt die von Mexiko
erhobenen statistischen Daten für Hurrikane der Kategorie 5, die stärksten
Hurrikane im Atlantischen Ozean, und man kann sehen, daß jeweils zwei Tage
vor der Entwicklung der Hurrikane der Kategorie 5 der galaktische kosmische
Strahlungsfluß abnimmt.
Wissenschaftliche Kooperation führt zum Fortschritt
Um in der Wissenschaft Fortschritte zu machen, sollten wir alle Dinge
berücksichtigen, die in unserer Umgebung passieren. Ich meine die
Wechselwirkungen zwischen den Geosphären.
Die Trennung zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen – wie z.B.: der
eine ist Seismologe, der andere ist Meteorologe usw. – sollte meines
Erachtens aufgehoben werden, denn alle Auswirkungen in unserer Umwelt hängen
mit der Interaktion zwischen verschiedenen Wissenschaftsbereichen,
verschiedenen Geosphären zusammen, und nur ein ganzheitlicher Ansatz und eine
erweiterte internationale Zusammenarbeit werden zum Fortschritt der
Wissenschaft führen.
In den letzten Jahren kann man feststellen, daß es zu einer gewissen
Verlangsamung der wissenschaftlichen Entwicklung gekommen ist. Wahrscheinlich
ist das auf das geringere Niveau der wissenschaftlichen Zusammenarbeit
zurückzuführen, und ich möchte zeigen, daß alle Fortschritte unserer
Wissenschaft auf die Kontakte zwischen Wissenschaftlern verschiedener Länder
zurückzuführen sind. (Zu den folgenden Erläuterungen zeigte Prof. Pulinez
Fotografien aus den letzten Jahrzehnten, Red.)
Dieses Bild zeigt eine junge Dame, mit der ich während der Reagan-Zeit
gesprochen habe, und sie fragte mich: „Ist Rußland das Reich des Bösen?“ Ich
versuchte, sie davon zu überzeugen, daß dem nicht so ist. Aus diesem jungen
Mädchen wurde schließlich die berühmte amerikanische Astronautin Tammy
Jernigan, die jetzt eine sehr wichtige Position im Livermore National
Laboratory hat.
Alle unsere radiophysikalischen Studien sind nur in Zusammenarbeit voran
gekommen. Dieses Bild zeigt den Hauptkonstrukteur des Netzwerks des
bodengestützten Ionosphärenradars, genannt Digisonden. Diese Wissenschaftler
kommen aus Charkiw in der Ukraine, und das Foto wurde in der Ukraine
aufgenommen.
Dieses Bild zeigt die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern aus Polen,
Taiwan und Rußland. Daneben ist das Standbild von Kopernikus.
Und dieses Bild hier zeigt ein internationales Projekt zur
Erdbebenvorhersage, an dem Italien, Frankreich, die Vereinigten Staaten,
Rußland und Japan beteiligt sind.
Nur in enger Zusammenarbeit können wir also echte Fortschritte in der
Wissenschaft erzielen, und nichts in der Wissenschaft oder in den
zwischenmenschlichen Beziehungen darf vernachlässigt oder eliminiert
werden.
Wie Sie sehen, ist das hier ein Porträt von Dostojewski, ein Wandgemälde,
das im März dieses Jahres an der Wand einer italienischen Universität
angebracht wurde und sich gegen die Auslöschung der russischen Kultur in der
Welt richtet.
Ich möchte mit einigen Aussagen schließen, die zeigen, daß wir uns heute
in einer sehr gefährlichen Situation befinden. Wir sehen nämlich, daß in der
Welt Vorurteile und Intoleranz zunehmen, wenn eine Seite die Argumente der
anderen Seite nicht akzeptiert. Selbst wenn die Argumente der anderen Seite
richtig sind, werden sie nicht akzeptiert, nur weil diese Seite nicht zur
„richtigen“ Seite gehört. Es scheint besser zu sein, falsche Ansichten in der
eigenen Reihen zu haben, als Leute von der anderen Seite, die wahrscheinlich
mit ihrer Meinung Recht haben.
Primitivismus und Unwissenheit nehmen zu, weil die Menschen nicht mehr
genug Wissen über Physik, Chemie, Geographie haben. Sie wollen nur das haben,
was sie essen können und was sie reich macht, aber sie denken nicht an die
Zukunft, die nur durch die Entwicklung der Wissenschaft und durch
Zusammenarbeit aufgebaut werden kann.
Das ist ein moralischer Verfall, der zu Entvölkerung führt, zur
Degradierung unserer Gesellschaft, zur Rückentwicklung und möglicherweise zum
Krieg und zum Aussterben der Menschheit.
Daher mein Appell, daß wir kooperieren und zusammenarbeiten sollten, um
das Aussterben der Menschheit zu verhindern. Ich danke Ihnen vielmals.
Anmerkung
1. Vgl. die Vorträge von Jason Ross und William Jones im gleichen
Konferenzabschnitt, siehe Neue Solidarität 30/2022.
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