Brasiliens Rolle in der physischen Weltwirtschaft
Von Felipe Maruf Quintas
Felipe Maruf Quintas ist Professor für Politikwissenschaften an
der Fluminense Federal University in Rio de Janeiro und Kolumnist für „Monitor
Mercantil“. Im Schlußabschnitt der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am
19. Juni 2022 sagte er folgendes. (Übersetzung aus dem Portugiesischen.)
Brasilien ist flächenmäßig das fünftgrößte Land der Welt, bevölkerungsmäßig
das sechstgrößte und es hat die zwölftgrößte Wirtschaft der Welt, die fast 2 %
des weltweiten BIP erwirtschaftet. Brasilien ist das führende Land im
Mercosur, einem regionalen Wirtschaftsblock unter den südamerikanischen
Ländern, und gehört zu den Mitgliedern der BRICS. Historisch gesehen verfolgt
Brasilien eine eigene internationale Politik und versucht, in seinem
strategischen Umfeld, zu dem Südamerika und Westafrika gehören, Einfluß zu
gewinnen.
Zivilisatorisch gesehen ist Brasilien eine Synthese der gesamten
Menschheit, da die brasilianische Bevölkerung aus einer Mischung von Völkern
aller Kontinente besteht. Die ursprüngliche Quelle für die Entstehung
Brasiliens ist die Rassenmischung zwischen Portugiesen und Spaniern, Indianern
und Afrikanern, die später durch einen großen Zustrom von Italienern, Arabern,
Japanern, Juden, Slawen und Deutschen ergänzt wurde. Ethnische Apartheid hat
es in Brasilien nie gegeben, nicht einmal während der Zeit der Sklaverei.
Die breite rassische und kulturelle Mischung schuf eine eigene soziale
Konfiguration, die sich stark vom angelsächsischen Multikulturalismus
unterscheidet, eine Konfiguration, die nicht die Lockesche Toleranz zwischen
verschiedenen und getrennten Menschen forderte, sondern die Kombination
verschiedener ethnischer Gruppen und kultureller Erbschaften in einem neuen,
typisch brasilianischen Amalgam.
Auf diese Weise bindet Brasilien die verschiedenen Geisteswissenschaften in
eine eigene Zivilisation ein, die von ihrem Wesen her nicht den Konflikt mit
anderen sucht, sondern Brücken für den gegenseitigen Dialog und das Lernen
baut, wie es in Brasilien seit jeher üblich ist. Die Veranlagung zum Dialog
und zur Mäßigung ergibt sich aus der typisch brasilianischen Anerkennung aller
Menschen als gleichberechtigte Wesen, und sie hat historisch gesehen
innenpolitisch zu einer größeren institutionellen und sozialen Stabilität
geführt als in anderen südamerikanischen Ländern.
Dies hat den Prozeß der Industrialisierung Brasiliens im 20. Jahrhundert
und seine Führungsrolle auf dem Kontinent begünstigt. Außenpolitisch
ermöglichte es eine versöhnliche und defensive Haltung mit dem Ziel, die
Nichteinmischung ausländischer Mächte in das eigene Territorium und in das der
Nachbarländer zu gewährleisten.
Die brasilianische Zivilisation hat ein großes Territorium als
physisch-geographische Basis, größer als das der Vereinigten Staaten und etwas
kleiner als das Chinas. Von den großen Nationen der Welt ist Brasilien die
einzige, deren gesamtes Territorium für sofortige demographische und
wirtschaftliche Aktivitäten zur Verfügung steht. Darüber hinaus ist es ein
physisches Wirtschaftsland par excellence, da fast alle Energiequellen in
Brasilien zu finden sind, wie Erdöl, Kohle, Wasser, Uran, Sonnenlicht und
Wind. Brasilien ist ein Land mit reichlich Sonnenlicht und vielfältigen und
umfangreichen Wasservorkommen, einer großen Artenvielfalt und einem Boden, der
reich an verschiedenen Arten von Mineralien ist. Brasilien hat das Potential,
sich wirtschaftlich selbst zu versorgen, und könnte, wenn es seinen
Industrialisierungsprozeß vertieft, zu einer der wichtigsten physischen
Wirtschaftsmächte der Welt werden.
Brasilien verfügt bereits über eine bewundernswerte wirtschaftliche und
industrielle Infrastruktur, die größtenteils von den nationalistischen und
entwicklungsfreundlichen Regierungen des 20. Jahrhunderts aufgebaut wurde. Im
Verlauf der 1950er Jahre gelang es dem brasilianischen Ingenieurwesen, eine
neue Hauptstadt im tiefen Landesinneren zu errichten und die Cerrado-Savanne
für die wirtschaftliche Entwicklung zu erschließen.
Diese Entwicklung wurde durch die Gründung der Embrapa, der brasilianischen
Gesellschaft für landwirtschaftliche Forschung, in den 1970er Jahren
verstärkt, die den sauren Boden des Cerrado in kultivierbares Land verwandelte
und Brasilien zu einer Agrarmacht machte. Die staatliche Erdölgesellschaft
Petrobras ist eine der größten der Welt und war bis vor kurzem ein
integriertes Erdölunternehmen, das alle vor- und nachgelagerten Bereiche
umfaßte. Dank Petrobras ist Brasilien weltweit führend in der
Tiefsee-Ölförderung. Brasilien hat die „Pre-Salt“-Vorkommen entdeckt, die
potentiell die größten Ölvorkommen der Welt darstellen.
Auch der kürzlich leider privatisierte staatliche Stromkonzern Eletrobrás
war für den Bau einiger der größten Wasserkraftwerke der Welt verantwortlich,
wie Itaipú, Tucuruí, Paulo Afonso und Belo Monte, und entwickelte das
umfangreichste integrierte Stromsystem der Welt mit Übertragungsleitungen, die
ganz Brasilien abdecken. Brasilien ist das einzige Land auf dem Kontinent, das
über weitreichende Übertragungsleitungen verfügt – nicht Rußland, nicht China,
nicht die USA, die eher regionalisierte Stromsysteme haben. Nur Brasilien hat
ein solches integriertes Stromsystem, dank Eletrobrás, dank der treibenden,
nationalistischen Aktionen des brasilianischen Staates. Das Wasserkraftwerk
Itaipú wird gemeinsam mit Paraguay genutzt und ist ein wichtiger Faktor für
die Entwicklung dieses Nachbarlandes und die südamerikanische Integration.
Darüber hinaus entwickelte Eletrobrás in den 70er und 80er Jahren ein
kühnes Atomprogramm, das zum Bau von zwei großen Kernkraftwerken führte, die
strategisch günstig zwischen den beiden größten Verbrauchszentren Brasiliens
liegen, und zwar symbolisch in einem Gebiet, in dem es früher Sklaverei gab
und in dem Sklaven lebten – und das somit den Sieg der Entwicklung und der
nationalen Souveränität über die Sklaverei darstellt. Die Kernkraftwerke Angra
dos Reis, Angra I und Angra II, haben eine strategische, wirtschaftliche und
auch symbolische Bedeutung: den Sieg der Entwicklung über die
Unterentwicklung, über die Sklaverei, über die soziale Ungleichheit.
© Colegio de Economistas de Ucayali
Die „Bi-ozeanische Eisenbahn“ soll durch Brasilien und Peru führen und den
Atlantik und den Pazifik miteinander verbinden.
Darüber hinaus verbinden die Autobahnen Trans-Amazon, Belem-Brasilia und
Cuibá-Santarém die weniger bevölkerten Regionen des Landes und sorgen für die
nationale Integration.
Derzeit wird mit Hilfe Chinas eine bi-ozeanische Eisenbahn von Peru nach
Brasilien geplant (siehe Abbildung), die den südamerikanischen
Kontinent einbinden und seine Handelsbeziehungen über den Atlantik und den
Pazifik hinweg stärken wird, was für Brasilien hervorragend geeignet ist,
seine Handelsmöglichkeiten im Pazifikraum und insbesondere mit China, der
derzeit größten physischen Wirtschaftsmacht, zu erweitern. Brasilien braucht
den Zugang zum Pazifik, um Südamerika zu integrieren und seine Investitions-
und Handelsmöglichkeiten mit Asien und insbesondere mit China zu erweitern,
das heute das Zentrum der Weltwirtschaft ist.
Die Entwicklung der brasilianischen Realwirtschaft wird für die Stärkung
der BRICS als neue globale geopolitische Achse, für die Integration
Südamerikas und für die Verbindung zwischen Südamerika und Afrika, einem
Kontinent, zu dem Brasilien starke historische und kulturelle Bindungen hat,
von grundlegender Bedeutung sein. Auf diese Weise wird Brasilien ein
strategischer Akteur bei der Ausweitung der Neuen Seidenstraße in der
südatlantischen Region sein, um diesen Halbozean dynamischer zu machen und ihn
von der Macht der angelsächsischen imperialen Eliten zu befreien. Brasilien
kann den Südatlantik in ein neues internationales Wirtschaftszentrum
verwandeln und seinen Status als Peripherie überwinden, den der britische und
angelsächsische Imperialismus dem Südatlantik über Jahrhunderte auferlegt
hat.
Die Entwicklung Brasiliens, eines Landes mit einem integrativen und
versöhnlichen Ansatz zwischen den Völkern und Kulturen, würde es zu einem
Protagonisten bei der Schaffung einer neuen, inklusiveren, polyzentrischen
Globalisierung machen, einer Globalisierung, die von den spekulativen und
Freihandelsvorgaben der neokolonialen Eliten des Nordatlantiks befreit
ist.
Die Welt ist in dem Maße von Brasilien abhängig, in dem es sich der Welt
öffnete und in den Tropen eine großzügigere Neudefinition der Domäne der
Menschheit ermöglichte. Der Imperialismus steht im Widerspruch zum
zivilisatorischen Charakter Brasiliens, da dieser auf einer Hierarchie unter
den Völkern beruht, die im Gegensatz steht zur wahren Praxis der Brasilianer,
nämlich Kinder der Vereinigung des Zusammenlebens verschiedener Völker zu
sein.
Deshalb ist die Entwicklung der brasilianischen Wirtschaft, die die
nationale Macht Brasiliens stärkt, keine Bedrohung für die Welt. Im Gegenteil,
sie ist die Voraussetzung dafür, daß Brasilien sich international als großer
Vermittler und Schlichter für den Weltfrieden und die Entwicklung anderer
Länder, als ein Pol, der den Fortschritt und das Gemeinwohl der ganzen Welt
ausstrahlt, präsentieren kann.
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