Rettet Afghanistan vor der Gleichgültigkeit
Von Alexander Hartmann
Das Schiller-Institut veranstaltete am 17.1. ein Internetseminar
gegen das Unrecht, das derzeit an Afghanistan begangen wird.
Am 17. Januar, dem Martin-Luther-King-Tag in den Vereinigten Staaten,
veranstaltete das Schiller-Institut ein kurzfristig angesetztes Internetseminar
über die dramatische Situation in Afghanistan, wo gegenwärtig Millionen Menschen
der Hungertod droht, während die westlichen Mächte, allen voran die USA, weiter
wirksame Hilfe und Wiederaufbau blockieren.
Die Konferenz trug den Titel „Unrecht irgendwo ist eine Bedrohung für
Gerechtigkeit überall: Beendet das Morden in Afghanistan“; der erste Satz ist
ein Zitat von Martin Luther King. Sie begann mit einem Ausschnitt aus einer
Rede, die der 2019 verstorbene Ökonom und Staatsmann Lyndon LaRouche am
Martin-Luther-King-Tag 2004 in Alabama gehalten hatte und in der er Kings
besondere Führungsqualitäten hervorhob:
„Große Führungspersönlichkeiten wie Martin erheben sich auf eine höhere
Ebene. Sie betrachten ihr Leben als ein ,Talent‘, so wie das Evangelium es
darstellt. Das heißt, das Leben ist ein Talent, das einem gegeben wird: Du wirst
geboren und du stirbst. Das ist dein Talent, was du in dieser Zeit hast. Die
Frage ist: Du wirst es sowieso ausgeben. Aber wie wirst du es ausgeben?
Wofür wirst du es ausgeben, um es für alle Ewigkeit zu sichern? Was
tust du, um den Platz zu sichern, den du in der Ewigkeit einnehmen
willst?
Martin hatte ein klares Gespür für diese Frage. Die Rede ,Ich war auf dem
Gipfel des Berges‘1 hat mich vor Jahren beeindruckt: Es war einfach
ein klares Verständnis dessen, was er sagte; was er anderen sagte. Das Leben ist
ein Talent: Es kommt nicht darauf an, was man aus dem Leben herausholt. Was
zählt, ist das, was man hineinsteckt…“
Dann berichtete Helga Zepp-LaRouche über die Lage in Afghanistan. Die
westlichen Mächte hätten diese humanitäre Katastrophe in Afghanistan vorsätzlich
herbeigeführt: „Man muß sich das wirklich klarmachen: Es sind nicht die Taliban,
nicht Rußland und nicht China, die dafür verantwortlich sind. Es handelt sich um
eine vorsätzliche Aktion, womit der Westen die Regierung in Afghanistan
bestrafen wollte – aber er bestrafte das Volk, die Bevölkerung. Das grenzt an
Völkermord. Ich möchte das wirklich in aller Deutlichkeit sagen, denn wir müssen
die Weltöffentlichkeit aufrütteln, daß diese unglaubliche Ungerechtigkeit
angegangen werden muß.“
Ein Sturz der Taliban würde die Lage nicht verbessern: „Wenn man jetzt
versucht, die Taliban mit den Mitteln loszuwerden, die 20 Jahre lang nicht
funktioniert haben, will man dann dieses arme Land Afghanistan in einen neuen
Bürgerkrieg stürzen? Dieser Geopolitik muß ein Ende gesetzt werden. Deshalb
möchte ich einen anderen Ansatz vorstellen.“
Sie erinnerte an den großen muslimischen Gelehrten Ibn Sina (Avicenna), nach
dem die „Operation Ibn Sina“ für Afghanistan benannt werden soll, „einen der
größten Ärzte aller Zeiten“. Afghanistan brauche ein modernes Gesundheitssystem
mit modernen Krankenhäusern. Und der Aufbau eines modernen Gesundheitssystems
müsse der Anfang sein, um die Unterentwicklung und den unglaublichen
Zusammenbruch der Wirtschaft zu überwinden.
Sie betonte: „Wenn wir dazu die moralische Kraft und Entschlossenheit
aufbringen können, dann tun wir meiner Meinung nach auch das Beste dafür, unsere
eigene Zivilisation zu retten. Denn es ist noch nicht entschieden, wie diese
ungewöhnliche Periode der Geschichte enden wird. Wenn wir es in Bezug auf
Afghanistan gut und richtig machen, dann besteht die Hoffnung, daß wir auch die
größeren strategischen Krisen lösen können. Wenn wir Afghanistan jetzt helfen,
ist das das Beste, was wir tun können, nicht nur für das afghanische Volk,
sondern für die Zukunft der gesamten Zivilisation. Deshalb appelliere ich an
Sie, sich der Operation Ibn Sina anzuschließen.“
„Wir dürfen nicht gleichgültig sein“
Ray McGovern, Mitbegründer der „Geheimdienst-Veteranen für Vernunft“ (VIPS),
griff das berühmte Zitat von Martin Luther King vom Titel der Veranstaltung auf:
„Es scheint mir hier sehr wichtig zu sein, daß wir über Unrecht sprechen:
Unrecht irgendwo ist Unrecht überall. Es war bereits die Rede von der
Vorstellung, daß uns das doch gleichgültig sein könnte. Das ist eine falsche
Behauptung. Wir dürfen nicht gleichgültig gegenüber Unrecht sein.“
Er zitierte aus einem Brief, den Martin Luther King aus dem Gefängnis in
Birmingham schrieb. „Wie eine Eiterbeule nicht geheilt werden kann, wenn sie
nicht mit all ihrer eitrigen Häßlichkeit der natürlichen Heilkraft von Luft und
Licht ausgesetzt wird, so muß auch das Unrecht mit all seinen Reibungen, die
seine Offenlegung verursacht, der Luft der öffentlichen Meinung und dem Licht
des menschlichen Gewissens ausgesetzt werden, bevor sie geheilt werden
kann.“
Schuld an der „verwerflichen Gleichgültigkeit“, mit der die Mehrheit die
schrecklichen Zustände in Afghanistan und anderswo einfach hinnehme, sei der
verbreitete Rassismus. Als Beispiel für solchen Rassismus zeigte McGovern ein
kurzes Video über den Vietnamkrieg, in dem jeden Tag Hunderte von Kindern
getötet wurden, was vom Kommandeur der US-Truppen in Vietnam, General
Westmoreland, mit der Bemerkung gerechtfertigt wurde: „Der Orientale mißt dem
Leben nicht denselben hohen Preis bei wie der Westler. Das Leben ist reichlich
vorhanden, im Orient ist das Leben billig. Und wie die Philosophie des Orients
es ausdrückt, ist das Leben nicht wichtig.“
McGovern kommentierte Westmorelands Äußerung: „Das ist in seinem Charakter
durch und durch Rassismus… Wir müssen ein wenig offen sein und vor allem, wenn
wir Dr. King gedenken, offen darüber sprechen, was hier wirklich vor sich geht…
Das müssen wir erkennen, und wir müssen an vorderster Front stehen. Wir müssen
in der Lage sein zu leiden, wie Dr. King es tat. Einige von uns müssen
vielleicht so sehr für die Gerechtigkeit eintreten, daß sie sehr leiden. Aber
wir müssen es tun.“
Die Wirtschaft muß stabilisiert werden
Dr. Shah Mehrabi, Mitglied des Gouverneursrats der afghanischen Zentralbank,
beschrieb die Wirtschaftslage in Afghanistan vor der Machtübernahme der Taliban,
als die Abhängigkeit von ausländischer Hilfe bereits existierte. Hinzu kamen die
schwerste Dürre seit 35 Jahren und die Folgen der COVID-Pandemie.
„Als das Taliban-Regime an die Macht kam, übernahm es diese Bedingungen in
der Wirtschaft. Und all diese Dinge haben sich in hohem Maße verschlechtert. Zum
einen wegen der internationalen Hilfe, denn Afghanistan war stark auf
internationale Hilfe angewiesen. Wir sprechen hier von einer Wirtschaft, die zu
mehr als 40% des BIP auf Hilfe angewiesen war. Außerdem wurden 75% der
öffentlichen Ausgaben von anderen bereitgestellt. Als das Taliban-Regime an die
Macht kam, wurde all das eingestellt. Die Hilfe wurde eingestellt und die
Entwicklungsprojekte wurden nicht mehr durchgeführt.“ Infolgedessen sei die
wirtschaftliche Aktivität im Land beinahe zum Stillstand gekommen.
Insbesondere forderte er, die Guthaben Afghanistans in den westlichen Banken
freizugeben, um die Preise zu stabilisieren, „damit die Menschen sich die
grundlegenden Dinge des Lebens leisten können. Das können sie derzeit nicht,
denn erstens sind die Preise zweistellig gestiegen, und zweitens haben viele
Menschen ihr Einkommen verloren, so daß sie diese Waren und Dienstleistungen
nicht bezahlen können, um so mehr, wenn die Preise zweistellig gestiegen sind.
Selbst bei denjenigen, die ein Einkommen haben, sinkt die Kaufkraft.“
Er betonte: „Die einfachen Afghanen haben nichts mit dem Regime zu tun,
unabhängig von diesem oder anderen Regimen… Sie dürfen nicht vom Zugang zu ihren
Reserven abgeschnitten werden, damit das Finanzsystem weiter arbeiten kann und
diese Menschen nicht in das Elend stürzen, in dem sie sich derzeit in den
meisten Teilen Afghanistans befinden. Alle Berichte besagen, daß die Bevölkerung
in eine Hungersnot gerät, und wenn nichts unternommen wird, dann kommt es zu
einem massiven Exodus vieler Afghanen in den Iran, die Türkei und nach Europa,
was schon angefangen hat. Das wird für viele europäische Partner eine sehr
kostspielige Situation sein.“
Dr. Joycelyn Elders, ehemalige Leiterin der US-Gesundheitsdienste und
Mitgründerin des Komitees für den Zusammenfall der Gegensätze, begrüßte die
Teilnehmer „zu diesem wichtigen Symposium. Es ist wichtig für uns; wir haben uns
darüber Gedanken gemacht, uns Sorgen gemacht, jahrelang daran gearbeitet. Wir
halten es für mehr als angebracht, diese Diskussion über die Beendigung des
schrecklichen Unrechts zu führen, das heute in Afghanistan und an vielen anderen
Orten auf der Welt geschieht. Nicht nur in Afghanistan, sondern in vielen
anderen Ländern, auch in den Vereinigten Staaten.“
Sie betonte: „Wenn wir über die Notwendigkeit von lebensnotwendigen Dingen
sprechen – Nahrung, sauberes Wasser –, dann gilt das für alle Menschen
gleichermaßen, unabhängig davon, wo sie sind, was sie tun und was vor sich geht.
Es ist etwas, das wir tun müssen. Die Bedürfnisse der Menschen nach Nahrung,
Wasser und medizinischer Versorgung sind die gleichen, unabhängig von ihrer
Regierung und unabhängig davon, wo sie sich befinden.“
Sie schloß: „Lassen wir uns nicht von der Krankheit der moralischen
Gleichgültigkeit anstecken. Wer nichts tut, kann auch nichts erreichen. Lassen
Sie uns etwas bewirken: Laßt uns die Art von Nationen sein, die wirklich etwas
bewirken können. Wir können etwas bewirken: Wir haben das Know-how, wir haben
die Möglichkeiten, wir haben die Mittel, wir haben das Wissen. Und ich denke,
wir müssen vorwärts gehen, nicht zurück.“
Gemeinsames Interesse mit den „Feinden“
Graham Fuller, Islamexperte und ehemaliger CIA-Beamter, betonte:
„Die Vereinigten Staaten haben gemeinsame Interessen mit drei Ländern in der
Region, die sie als Feinde betrachten: Iran – wo die Vereinigten Staaten seit
mindestens 30 Jahren versuchen, das Regime zu stürzen -, Rußland und China.
Dennoch haben alle drei Länder und als vierter die Vereinigten Staaten ein
ernsthaftes Interesse daran, Stabilität, ein Ende des Terrorismus und des
Bürgerkriegs zu erreichen und der Region Zentralasien die Möglichkeit zu geben,
sich durch die neuen regionalen Pläne unter der Führung Chinas im Rahmen der
Gürtel- und Straßen-Initiative weiterzuentwickeln…
Ich denke daher, daß es den Vereinigten Staaten nicht gut zu Gesicht steht,
eine solche höchst negative Politik aufrechtzuerhalten, die darauf abzielt,
China, Rußland, die Taliban, den Iran, Syrien und eine Reihe anderer Länder zu
schwächen. Die Vereinigten Staaten sollten eine bessere Nation sein. Wir sollten
in der Lage sein, alle unsere technischen, organisatorischen, finanziellen,
institutionellen und infrastrukturellen Fähigkeiten einzubringen, um die
Positionen dieser Länder zu unterstützen. Es muß kein Nullsummenspiel sein
zwischen den Vereinigten Staaten und China oder zwischen den Vereinigten Staaten
und Rußland oder irgendeinem anderen dieser Länder.
Je mehr man die andere Seite zum Feind erklärt, desto mehr beginnt die andere
Seite davon überzeugt zu sein, daß sie vielleicht tatsächlich der Feind ist und
daß die Vereinigten Staaten, indem sie sie zum Feind erklären, vielleicht auch
für sie der Feind sind. Das ist dann in der Tat eine Situation, in der man nur
verlieren kann.“
„Es ist immer der richtige Zeitpunkt, das Richtige zu tun“
Die EIR-Landwirtschaftsexpertin Marcia Merry Baker sprach über die
Krise der Nahrungsmittelversorgung in Afghanistan. Afghanistan sei ein
weizenorientiertes Land, aber da im Land nicht genug davon produziert wird,
mußte es schon immer große Mengen an Weizen importieren. Nun verhindere die
finanzielle Blockade durch den Westen solche Importe, so daß die Vorräte schnell
aufgebraucht werden. Auch die Aussaat des Winterweizens sei aufgrund der
Umstände viel geringer ausgefallen als sonst.
Deshalb müsse die internationale Gemeinschaft eingreifen, um zu helfen. „Wir
stellen uns also eine Situation vor, in der, sagen wir, innerhalb einer Woche
Rußland, China, die Vereinigten Staaten und Indien zusammen mit Frankreich,
Australien und anderen weizenproduzierenden Nationen beschließen,
zusammenzuarbeiten, und Sie müßten eine Zeitlang Tausende von Tonnen Weizen pro
Woche per Zug oder Flugzeug oder auf andere Weise dorthin bringen. Werden sie
das schaffen?“
In der anschließenden Diskussion gab es weitere Beiträge. Dr. Matin Baraki
vom Zentrum für Nah- und Mitteloststudien am Institut für Politikwissenschaft
der Philipps-Universität Marburg in Deutschland berichtete über die
jahrzehntelangen Leiden des Landes durch geopolitisch motivierte militärische
Interventionen ausländischer Mächte, wie dem Britischen Empire, der Sowjetunion
und zuletzt der USA und der NATO. Qasim Tarin, Mitgründer der Einheits- und
Freiheitsbewegung Afghanistans und Vorsitzender des Afghanistan Business
Network, das sich für die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans einsetzt,
sprach vom „reichsten Land der Welt mit dem ärmsten Volk auf der Welt“. Denn
Afghanistan verfüge über Rohstoffe im Wert von vielen Billionen Dollar, sei aber
Gefangener im „Großen Spiel“ der Supermächte. Die USA hätten zuletzt den Taliban
die Rückkehr an die Macht erlaubt, aber dann Afghanistan unfair im Stich
gelassen. Auch er zitierte Dr. Martin Luther King: „Es ist immer der richtige
Zeitpunkt, das Richtige zu tun.“ Die Zeit sei gekommen, mit dem afghanischen
Volk Frieden zu schließen.
Zum Abschluß des Seminars schlug Dr. Joycelyn Elders vor, über das Komitee
für den Zusammenfall der Gegensätze ein „Medizinisches Manifest“ für die Welt zu
veröffentlichen, ein Vorschlag, dem Helga Zepp-LaRouche begeistert
zustimmte.
Das Video der Veranstaltung finden Sie auf der Internetseite des
Schiller-Instituts unter https://schillerinstitute.com/blog/2022/01/16
Anmerkung
1. Eine deutsche Überstzung dieser Rede finden Sie im Internet unter: https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/004944.html
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