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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Dialog statt Kampf der Kulturen

Von Zaher Wahab

Zaher Wahab ist ehemaliger Berater des afghanischen Ministers für Hochschulbildung. Im Schlußabschnitt der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 19. Juni 2022 hielt er den folgenden Vortrag. (Übersetzung aus dem Englischen.)

Grüße aus Portland, Oregon. Zunächst möchte ich dem Schiller-Institut für die Einberufung dieser Konferenz danken, und auch dafür, daß ich die Möglichkeit habe, einige Gedanken und Ideen mit Ihnen zu teilen. Außerdem möchte ich dem Schiller-Institut für sein Engagement bei der Schaffung einer besseren Welt danken und dafür, daß es Afghanistan in den Nachrichten hält.

Wir befinden uns in der Tat in einer existentiellen Krise. Das Fehlverhalten meiner Wahlheimat, der Vereinigten Staaten, die seit Jahren überall auf der Welt Unruhe stiften, schmerzt mich zutiefst. Und es schmerzt mich auch wegen meines Herkunftslandes, Afghanistan. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß meine Wahlheimat mein Herkunftsland so ziemlich ruiniert hat.

Wenn Sie sich umsehen, werden Sie feststellen, daß unsere Welt voller Hunger und Armut ist, voller Ungleichheit, Unterdrückung, Erniedrigung, Schmerz, Leid, Unsicherheit und allgemeiner Unterentwicklung. Ich sehe in Afghanistan und den Vereinigten Staaten Paradebeispiele für diese Phänomene: Epidemien, eine Energiekrise, Massenmigration, konventionelle Kriege, Konflikte, Gewalt, und wie es aussieht, stehen wir am Rande eines Atomkriegs. Es ist eine Welt der Unterdrückung, der Ausbeutung, der einseitigen Entscheidungsfindung und des Machtmißbrauchs durch die Mächtigen.

Das bestehende Paradigma hat sein eigenes Narrativ geschaffen, wie z.B. „Zivilisation, freie Marktwirtschaft, Menschenrechte“ usw., oder „Freiheit, Demokratie, das gute Leben“. Das bestehende Paradigma stützt sich auch auf seine eigenen Strukturen, die „Recht und Ordnung“ sein sollen: der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, die WTO, sogar die UNO, und die Abhängigkeit der meisten Währungen vom Dollar.

Aber wenn man genau hinschaut, stellt man fest, daß das Paradigma sich eindeutig auflöst. Es ist diskreditiert, es ist entzaubert, es ist entlarvt, und es bricht zusammen. Deshalb glaube ich, daß das zusammenbrechende, zerfallende Paradigma großen Schaden anrichten könnte. Es kann überall auf der Welt wirtschaftliche Not verursachen.

Wir brauchen dringend einen neuen Dialog – eine neue Sprache, wenn Sie so wollen – und ein neues Paradigma. Wir müssen Samuel Huntingtons Idee vom „Kampf der Kulturen“ und die Idee vom sogenannten „Ende der Geschichte“ zurückweisen.

Ich behaupte, daß die Geschichte im Gegenteil sehr lebendig und in Bewegung ist. Die Geschichte ist nicht zu Ende. Was die Geschichtsschreibung der Zukunft uns über diese Zeiten erzählen wird, bleibt abzuwarten. Wir müssen – im Gegensatz zu Samuel Huntington – auf die Worte des ehemaligen iranischen Präsidenten Mohammad Chatami hören, der zu einem Dialog der Kulturen aufgerufen hat. Wir müssen den Pluralismus der Ideen, den Pluralismus der Kulturen, den Multikulturalismus, die neuen Konstruktionen, die verschiedenen Religionen und die verschiedenen politischen Systeme denken, sprechen und praktizieren. Wir müssen diesen neuen Dialog der Zivilisationen fördern und praktizieren, und wir müssen Humanismus, Pluralismus, gegenseitige kulturelle Befruchtung, gegenseitigen Respekt und Zusammenarbeit betonen.

Kurz gesagt, wir müssen einen neuen Lebensentwurf fördern, diskutieren und praktizieren.

Die Vereinigten Staaten und der westliche Imperialismus müssen die Verantwortung für den Schaden übernehmen, den sie seit der Eröffnung des Suezkanals, dem Beginn des neuen Imperialismus, angerichtet haben. Die USA und der Westen müssen den Zusammenbruch des imperialistischen westlichen Paradigmas akzeptieren und amerikanischen Exzeptionalismus, Eurozentrismus und Rassismus beenden. Sie müssen anderen Ländern mit Respekt, Mitgefühl, Fürsorge, Zusammenarbeit und auf Augenhöhe begegnen.

Wir müssen uns zu dem entstehenden Dialog über eine gemeinsame Kultur, eine gemeinsame Zivilisation und eine gemeinsame Herangehensweise an Probleme verpflichten. Wir müssen von der unipolaren Welt zu einer multipolaren Welt übergehen. Wir brauchen ein neues Konzept und eine neue Architektur für Frieden, Entwicklung und Sicherheit. Es ist nicht allein der mächtige imperiale Westen, der Ressourcen, Sicherheit, Frieden und Entwicklung braucht.

Alle Länder, alle Menschen überall auf der Welt brauchen Frieden, Entwicklung, Gerechtigkeit, Demokratie und Sicherheit. Dem muß Rechnung getragen werden. Im Rahmen des neuen Paradigmas müssen wir die Staaten unterstützen, wir müssen den Regionalismus unterstützen, wir müssen neue Währungen und neue Organisationen wie die BRICS unterstützen, und wir müssen auch die chinesische Gürtel- und Straßen-Initiative unterstützen und an ihr mitwirken.

Konkret würde der neue Dialog unter anderem darin bestehen, daß der Norden, die kolonialen, imperialen Mächte, dem Süden gerechte Reparationen für die jahrhundertelange Plünderung und Ausbeutung zahlen muß. Der Norden muß alle Formen direkter und indirekter militärischer, wirtschaftlicher, politischer und anderer Formen der Aggression einstellen. Die Vereinigten Staaten müssen alle ihre Militärbasen auf der ganzen Welt schließen. Die USA müssen alle Devisen anderer Länder freigeben, die sie als Geiseln halten – insbesondere für Afghanistan. Und die USA und der Westen müssen alle die Diebe aus der ganzen Welt ausliefern, die mit Unmengen von Geld aus ihren alten Ländern geflohen sind und im Westen im Luxus leben. Die USA müssen die Monopole auf COVID-Impfstoffe aufheben. Die USA und der Norden müssen einen fairen Preis für alle Rohstoffe, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräfte der Entwicklungsländer zahlen. Und die USA müssen aufhören, sich wie ein Imperium zu verhalten.

Wie es aussieht, ist die Ära des Imperiums und des derzeitigen, verfallenden Paradigmas vorbei. Die Vereinigten Staaten und der entwickelte Norden müssen wie andere Nationen in der Gemeinschaft aller Nationen leben und aufhören, sich wie ein Imperium zu verhalten.

Kurz gesagt, das alte Paradigma ist in Verruf geraten, und das neue Paradigma ist im Entstehen begriffen. Möge es gedeihen. Wir brauchen eine neue Form des Dialogs von der Basis aus, sodaß man alle diese Themen sprechen kann. Ich danke Ihnen vielmals.