Dialog statt Kampf der Kulturen
Von Zaher Wahab
Zaher Wahab ist ehemaliger Berater des afghanischen Ministers
für Hochschulbildung. Im Schlußabschnitt der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 19. Juni 2022 hielt er den folgenden Vortrag.
(Übersetzung aus dem Englischen.)
Grüße aus Portland, Oregon. Zunächst möchte ich dem Schiller-Institut für
die Einberufung dieser Konferenz danken, und auch dafür, daß ich die
Möglichkeit habe, einige Gedanken und Ideen mit Ihnen zu teilen. Außerdem
möchte ich dem Schiller-Institut für sein Engagement bei der Schaffung einer
besseren Welt danken und dafür, daß es Afghanistan in den Nachrichten
hält.
Wir befinden uns in der Tat in einer existentiellen Krise. Das
Fehlverhalten meiner Wahlheimat, der Vereinigten Staaten, die seit Jahren
überall auf der Welt Unruhe stiften, schmerzt mich zutiefst. Und es schmerzt
mich auch wegen meines Herkunftslandes, Afghanistan. Es erübrigt sich, darauf
hinzuweisen, daß meine Wahlheimat mein Herkunftsland so ziemlich ruiniert
hat.
Wenn Sie sich umsehen, werden Sie feststellen, daß unsere Welt voller
Hunger und Armut ist, voller Ungleichheit, Unterdrückung, Erniedrigung,
Schmerz, Leid, Unsicherheit und allgemeiner Unterentwicklung. Ich sehe in
Afghanistan und den Vereinigten Staaten Paradebeispiele für diese Phänomene:
Epidemien, eine Energiekrise, Massenmigration, konventionelle Kriege,
Konflikte, Gewalt, und wie es aussieht, stehen wir am Rande eines Atomkriegs.
Es ist eine Welt der Unterdrückung, der Ausbeutung, der einseitigen
Entscheidungsfindung und des Machtmißbrauchs durch die Mächtigen.
Das bestehende Paradigma hat sein eigenes Narrativ geschaffen, wie z.B.
„Zivilisation, freie Marktwirtschaft, Menschenrechte“ usw., oder „Freiheit,
Demokratie, das gute Leben“. Das bestehende Paradigma stützt sich auch auf
seine eigenen Strukturen, die „Recht und Ordnung“ sein sollen: der
Internationale Währungsfonds, die Weltbank, die WTO, sogar die UNO, und die
Abhängigkeit der meisten Währungen vom Dollar.
Aber wenn man genau hinschaut, stellt man fest, daß das Paradigma sich
eindeutig auflöst. Es ist diskreditiert, es ist entzaubert, es ist entlarvt,
und es bricht zusammen. Deshalb glaube ich, daß das zusammenbrechende,
zerfallende Paradigma großen Schaden anrichten könnte. Es kann überall auf der
Welt wirtschaftliche Not verursachen.
Wir brauchen dringend einen neuen Dialog – eine neue Sprache, wenn Sie so
wollen – und ein neues Paradigma. Wir müssen Samuel Huntingtons Idee vom
„Kampf der Kulturen“ und die Idee vom sogenannten „Ende der Geschichte“
zurückweisen.
Ich behaupte, daß die Geschichte im Gegenteil sehr lebendig und in Bewegung
ist. Die Geschichte ist nicht zu Ende. Was die Geschichtsschreibung der
Zukunft uns über diese Zeiten erzählen wird, bleibt abzuwarten. Wir müssen –
im Gegensatz zu Samuel Huntington – auf die Worte des ehemaligen iranischen
Präsidenten Mohammad Chatami hören, der zu einem Dialog der Kulturen
aufgerufen hat. Wir müssen den Pluralismus der Ideen, den Pluralismus der
Kulturen, den Multikulturalismus, die neuen Konstruktionen, die verschiedenen
Religionen und die verschiedenen politischen Systeme denken, sprechen und
praktizieren. Wir müssen diesen neuen Dialog der Zivilisationen fördern und
praktizieren, und wir müssen Humanismus, Pluralismus, gegenseitige kulturelle
Befruchtung, gegenseitigen Respekt und Zusammenarbeit betonen.
Kurz gesagt, wir müssen einen neuen Lebensentwurf fördern, diskutieren und
praktizieren.
Die Vereinigten Staaten und der westliche Imperialismus müssen die
Verantwortung für den Schaden übernehmen, den sie seit der Eröffnung des
Suezkanals, dem Beginn des neuen Imperialismus, angerichtet haben. Die USA und
der Westen müssen den Zusammenbruch des imperialistischen westlichen
Paradigmas akzeptieren und amerikanischen Exzeptionalismus, Eurozentrismus und
Rassismus beenden. Sie müssen anderen Ländern mit Respekt, Mitgefühl,
Fürsorge, Zusammenarbeit und auf Augenhöhe begegnen.
Wir müssen uns zu dem entstehenden Dialog über eine gemeinsame Kultur, eine
gemeinsame Zivilisation und eine gemeinsame Herangehensweise an Probleme
verpflichten. Wir müssen von der unipolaren Welt zu einer multipolaren Welt
übergehen. Wir brauchen ein neues Konzept und eine neue Architektur für
Frieden, Entwicklung und Sicherheit. Es ist nicht allein der mächtige
imperiale Westen, der Ressourcen, Sicherheit, Frieden und Entwicklung
braucht.
Alle Länder, alle Menschen überall auf der Welt brauchen Frieden,
Entwicklung, Gerechtigkeit, Demokratie und Sicherheit. Dem muß Rechnung
getragen werden. Im Rahmen des neuen Paradigmas müssen wir die Staaten
unterstützen, wir müssen den Regionalismus unterstützen, wir müssen neue
Währungen und neue Organisationen wie die BRICS unterstützen, und wir müssen
auch die chinesische Gürtel- und Straßen-Initiative unterstützen und an ihr
mitwirken.
Konkret würde der neue Dialog unter anderem darin bestehen, daß der Norden,
die kolonialen, imperialen Mächte, dem Süden gerechte Reparationen für die
jahrhundertelange Plünderung und Ausbeutung zahlen muß. Der Norden muß alle
Formen direkter und indirekter militärischer, wirtschaftlicher, politischer
und anderer Formen der Aggression einstellen. Die Vereinigten Staaten müssen
alle ihre Militärbasen auf der ganzen Welt schließen. Die USA müssen alle
Devisen anderer Länder freigeben, die sie als Geiseln halten – insbesondere
für Afghanistan. Und die USA und der Westen müssen alle die Diebe aus der
ganzen Welt ausliefern, die mit Unmengen von Geld aus ihren alten Ländern
geflohen sind und im Westen im Luxus leben. Die USA müssen die Monopole auf
COVID-Impfstoffe aufheben. Die USA und der Norden müssen einen fairen Preis
für alle Rohstoffe, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräfte der
Entwicklungsländer zahlen. Und die USA müssen aufhören, sich wie ein Imperium
zu verhalten.
Wie es aussieht, ist die Ära des Imperiums und des derzeitigen,
verfallenden Paradigmas vorbei. Die Vereinigten Staaten und der entwickelte
Norden müssen wie andere Nationen in der Gemeinschaft aller Nationen leben und
aufhören, sich wie ein Imperium zu verhalten.
Kurz gesagt, das alte Paradigma ist in Verruf geraten, und das neue
Paradigma ist im Entstehen begriffen. Möge es gedeihen. Wir brauchen eine neue
Form des Dialogs von der Basis aus, sodaß man alle diese Themen sprechen kann.
Ich danke Ihnen vielmals.
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