Die Rolle der Ukraine in der gegenwärtigen Weltlage
Von Dr. Natalja Witrenko,
Vorsitzende der Progressiven Sozialistischen Partei der Ukraine
In der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 19. Februar berichtete die ukrainische Ökonomin und
frühere Präsidentschaftskandidatin Dr. Natalja Witrenko über die Lage in ihrem
Land.
Liebe Helga, liebe Konferenzteilnehmer,
es ist sehr wichtig, daß unsere Konferenz in einer Zeit der verschärften
Konfrontation zwischen zwei Blöcken von führenden Ländern in der Welt
stattfindet. Das sind zum einen die NATO-Staaten, angeführt von den USA, und zum
anderen der andere Block, der vor unseren Augen Gestalt annimmt, nämlich Rußland
und China, die in ihrer gemeinsamen Erklärung vom 4. Februar dieses Jahres ihre
Absicht verkündet haben, in allen Fragen zusammenzuarbeiten. Dies ist äußerst
wichtig, denn die Menschheit steht am Rande des Dritten Weltkriegs. Und auf
Messers Schneide dieser Konfrontation steht mein Land, die Ukraine.
Davor haben wir seit langem gewarnt. Ich möchte Sie an meine Rede vor dem
Europäischen Parlament am 26. Februar 2014 erinnern. Das war während einer Reise
von Vertretern unserer Partei, die meiner Meinung nach sehr wichtig für die
internationale Gemeinschaft war, als wir Deutschland, Frankreich und Italien
besuchten. Unsere Freunde vom Schiller-Institut haben uns bei der Organisation
dieser Reise geholfen. Damals sagte ich auf einer Pressekonferenz, daß der
Staatsstreich in der Ukraine im Jahr 2014 Nazis und Rußlandhasser an die Macht
gebracht hat und daß dies nicht nur für die Ukraine und nicht nur für den
eurasischen Kontinent, sondern für die ganze Welt äußerst schwerwiegende
Probleme mit sich bringen würde.
Und tatsächlich begannen die USA ab 2014, die Ukraine massiv zu unterstützen
und eine Konfrontation mit Rußland vorzubereiten. Wie anders läßt sich die
Tatsache interpretieren, daß seither 2,7 Milliarden Dollar an schweren Waffen
bereitgestellt wurden? Wie anders ist es zu verstehen, daß die ukrainische
Regierung nicht auf eine friedliche Lösung der Krise und die Suche nach
diplomatischen Wegen zur Beilegung dieses blutigen Konflikts im Südosten der
Ukraine, im Donbaß, ausgerichtet ist, sondern daß sie ständig zum Krieg mit
Rußland angestiftet wird?
Wir erleben in den letzten zwei oder drei Monaten, im Grunde seit letztem
Herbst, eine besondere Art militaristischer Psychose. Soweit ich weiß, haben die
USA allen ihren Satelliten grünes Licht gegeben, so daß nicht nur sie selbst
damit begannen, eine regelrechte Lawine von Waffen in die Ukraine zu schicken,
sondern auch die baltischen Länder, Polen, Kanada und das Vereinigte Königreich.
Sie alle, beunruhigt über die Geschehnisse in der Ukraine, begannen plötzlich,
angeblich zum Zweck der Verteidigung der Souveränität und territorialen
Integrität [der Ukraine] gegen Rußland, immer mehr und mehr Waffen in die
Ukraine zu liefern.
Ich betone, daß dies keine Geschenke an unser Land sind! Es handelt sich um
Kredite. Das letzte Darlehen kam von den USA, mit Kreditgarantien von 1
Milliarde Dollar. Großbritannien hat zweieinhalb Milliarden Dollar
bereitgestellt, genauer gesagt 2,3 Milliarden. Mehr als eine halbe Milliarde von
Kanada. 1,2 Milliarden Euro aus Frankreich. Woher sollen diese Mittel
zurückgezahlt werden? Wie können sie zurückgezahlt werden? All dies ist ein
Joch, es sind Fesseln für unser Volk.
Aber das ist nicht einmal die Hauptsache. Das Wichtigste ist, daß nicht nur
die ukrainische Wirtschaft zerstört wird, sondern unser Volk dient einfach als
Kanonenfutter. Die westlichen Massenmedien hämmern unablässig auf uns ein: Wenn
der Krieg mit Rußland beginnt, wird es auf ukrainischer Seite 50.000 oder 85.000
Tote geben.
Was bedeutet das? Das ist ein schwerer Druck auf unser Land, auf unser Volk!
Das ist ein extrem harter psychologischer Angriff auf die Gemütsverfassung
unserer Bevölkerung, der absolut unerträglich ist. Es ist einfach unerträglich.
Was in unserem Land mit der Bevölkerung geschieht, ist ein sehr schwieriger
Prozeß: Die Menschen packen Notfalltaschen, versuchen, Luftschutzbunker zu
finden, organisieren örtliche Verteidigungsmilizen.
Und das ist ohne Frage auch ein schwerer Schlag für die Wirtschaft. Als
Präsident Selenskyj dies alles vor einem Monat sah, war selbst er sprachlos,
denn die Ukraine hat allein seit Beginn dieses Jahres 14 Milliarden Dollar
verloren – Zwölfeinhalb Milliarden durch Kapitalflucht und eineinhalb
Milliarden, die von der ukrainischen Zentralbank zur Stützung der Währung
ausgegeben wurden. Und ich möchte betonen, daß die Gold- und Währungsreserven
der Ukraine weniger als 30 Milliarden betragen. Und jetzt gab es bereits 14
Milliarden Verluste.
Unsere Eurobonds, die ukrainischen Staatsschulden, sind zusammengebrochen.
Die nationale Währung ist zusammengebrochen, wie ich bereits erwähnt habe, und
das internationale Kapital ist blockiert – die internationalen Kapitalmärkte
sind für die Ukraine geschlossen. Investitionen fließen ab. Und das alles ist
buchstäblich in den letzten Wochen geschehen. Die Nationalbank der Ukraine hat
ihre BIP-Prognose bereits von 3,8 Prozent auf 3,4 Prozent nach unten
korrigiert.
Was wird als nächstes passieren? In unserem Land fehlen den Menschen die
Mittel selbst für das Nötigste. Heute wurde bekanntgegeben, daß der Brotpreis
bald um 25 oder 30 Prozent angehoben werden soll. Und das, obwohl wir aufgrund
der brutalen Renten- und Lohnpolitik bereits die verarmteste Bevölkerung in
Europa haben, mit der kürzesten Lebenserwartung.
Das ist das Ergebnis der Bemühungen, unsere Länder gegeneinander
auszuspielen. Und das, obwohl Rußland wiederholt erklärt hat, daß es nicht die
Absicht hat, in die Ukraine einzumarschieren. Sie führen ihre militärischen
Übungen auf ihrem eigenen Territorium durch. Aber die westlichen Medien, die USA
und das Vereinigte Königreich hören nicht auf sie. Selbst wenn Rußland die Zahl
seiner Truppen jetzt in Grenznähe reduziert und sie nach Abschluß der Übungen in
ihre Stützpunkte zurückzieht, geht es weiter. Es heißt: Nein, wir sehen keinen
Deeskalationsprozeß; nein, wir trauen dem nicht, was Rußland sagt.
Was ist das Ziel? Daß es zum Krieg kommt, auf jeden Fall.
Wer zündet das Feuer des Krieges an, innerhalb der Ukraine und von außen?
Innerhalb der Ukraine sind es in erster Linie die Nazis. All diese
Organisationen sind aus dem Boden gestampft worden: Parteien, Bewegungen,
Organisationen, die nach Blut dürsten. Sie haben eine Ideologie namens
ukrainischer integraler Nationalismus. Diese Ideologie wurde von [Dmitro] Donzow
und [Mykola] Sziborskyj [zu Beginn des 20. Jahrhunderts] geschaffen und dann von
Bandera und Schuchewitsch umgesetzt. Es ist eine Ideologie der Feindschaft
zwischen unseren Völkern. Es ist eine Ideologie des Krieges, des
menschenfeindlichen Krieges. Diese Ideologie einer nazistischen Ukraine hat
einen Teil der Bevölkerung unseres Landes infiziert. Das Schlimmste ist, daß
diese Ideologie zur offiziellen Ideologie der ukrainischen Regierung geworden
ist, genau wie wir gewarnt haben.
Infolgedessen sind Menschen mit russischer Kultur, Angehörige ethnischer
Minderheiten, zu Menschen zweiter Klasse geworden. Sehen Sie mich an: Ich bin
ethnisch ukrainisch, aber meine Muttersprache ist Russisch. Ich kann mir nicht
vorstellen, außerhalb der russischen Zivilisation zu leben. Aber alle russischen
Fernsehsender und alle Sendungen in russischer Sprache wurden in der Ukraine
verboten. In den Gerichten, Regierungsbehörden, Schulen und Universitäten wird
nur Ukrainisch gesprochen. Und ständig wird die Psychose geschürt, daß die
„Moskowiter“ vernichtet werden müssen. Das wird offen gesagt, im Fernsehen.
Das ist innerhalb der Ukraine. Und außerhalb der Ukraine sehen wir, daß die
USA, angeführt von Biden, der angeblich um die Souveränität der Ukraine besorgt
ist, nur auf die Version der Nazi-Ideologen hören. Warum versteht Biden, der von
Souveränität spricht, nicht, daß die Souveränität der Ukraine in der Erklärung
über die staatliche Souveränität verankert ist und daß unsere Souveränität in
zwei Referenden im Jahr 1991 bestätigt wurde – eines im März und eines im
Dezember.
Und da dies der Fall ist, hätte die westliche „Demokratie“ die Demokratie in
der Ukraine unterstützen müssen. Aber das bedeutet die Volksmacht und den Willen
des Volkes. Lesen Sie die Erklärung der staatlichen Souveränität. Sehen Sie sich
an, wofür unsere Bevölkerung gestimmt hat. Denken Sie daran, daß es diese Art
von Ukraine war, die von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wurde. Das
war die Art von Souveränität, die als Souveränität der Ukraine anerkannt wurde.
Sie beinhaltete den blockfreien Status (Neutralität) für die
Ukraine.1
Dazu gehörte auch ein Unionsstaat mit Rußland und Belarus. Gäbe es einen
Unionsstaat, hätte es kein Problem mit der Krim gegeben. Die Krim wäre das
Lieblingskind sowohl der Ukraine als auch Rußlands geblieben, anstatt ein
Streitobjekt zu sein.
Was getan werden muß
Deshalb ist es heute wichtig zu erkennen, was getan werden muß, um die
Situation radikal zu ändern und einen Krieg zu verhindern. Ich werde dies in
zwei Teile gliedern: was die Ukraine tun muß, und was die internationale
Gemeinschaft tun muß.
Die oberste Priorität für die Ukraine ist die Entnazifizierung. Es
gilt, die ukrainische Regierung mit vereinten Kräften der gesamten
Weltgemeinschaft dabei zu unterstützen, alle Parteien, Bewegungen und
Organisationen mit nazistischer Ausrichtung zu verbieten.
Dafür gibt es genug internationale Normen und Grundsätze. Ich will nur die
Konventionen nennen, die es der internationalen Gemeinschaft ermöglichen, der
Ukraine in dieser Hinsicht zu helfen. Das sind
- die Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes,
- die Internationale Konvention zur Beseitigung jeder Form von
Rassendiskriminierung und
- der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte.
Dort steht alles drin: ein Verbot von Kriegspropaganda, ein Verbot der
Tätigkeit von Organisationen, die Rassendiskriminierung betreiben – sei es auf
Grundlage der Rasse, der ethnischen Zugehörigkeit oder anderer Kriterien.
Das ist es, was in der Ukraine getan werden muß. Es ist von herausragender
Bedeutung für die Ukraine. Und man muß sich darüber im Klaren sein, daß die
Ukraine nicht überleben wird, wenn nicht folgendes geschieht: Entnazifizierung,
die Wiederherstellung unseres blockfreien Status und die Verwirklichung dessen,
was der ausdrückliche Wille unseres Volkes war – ein Unionsstaat mit Rußland und
Belarus.
Was die internationale Seite betrifft, was muß getan werden? Natürlich hoffen
und beten wir leidenschaftlich, daß es Rußland und China gemeinsam gelingen
wird, die USA und Deutschland davon zu überzeugen, sich an den Verhandlungstisch
zu setzen und eine neue Weltarchitektur auszuarbeiten – um jene Prinzipien zu
finden, sie zu bestätigen und sie zur Grundlage einiger Dokumente zu machen, die
eine friedliche Koexistenz verschiedener Länder unter Achtung ihrer nationalen
Interessen und Eigenheiten ermöglichen.
Und natürlich müssen wir das Wirtschaftsmodell, das Weltwirtschaftsmodell,
ändern. Wir erinnern uns, wie Lyndon LaRouche uns erklärt hat, daß es ohne eine
radikale Änderung des Wirtschaftsmodells keine nachhaltige Entwicklung geben
wird, und daß es unmöglich sein wird, die nationalen Interessen der
verschiedenen Länder zu verteidigen.
Das ist es, wonach die gesamte fortschrittliche Menschheit streben muß. Und
das ist die Position unserer Progressiven Sozialistischen Partei der
Ukraine.
Vielen Dank.
Anmerkung
1. Der Oberste Sowjet der Ukrainischen SSR beschloß am 16. Juli 1990 die
Erklärung der staatlichen Souveränität. In dieser Erklärung wurde auch erklärt,
daß die Republik die Absicht hat, in Zukunft „ein dauerhaft neutraler Staat zu
werden, der sich nicht an Militärblöcken beteiligt“, und daß sie keine
Atomwaffen akzeptieren, herstellen oder beschaffen wird.
Am 1. Dezember 1991 fand dann in der Ukraine eine Volksabstimmung über die
Unabhängigkeit statt. Eine deutliche Mehrheit von 92,3 % der Abstimmenden
stimmte dabei für die Unabhängigkeit des Landes, mit der auch die
Grundprinzipien der „Souveränitätserklärung der Ukraine 1990“ bestätigt
wurden.
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