„Alles in allem erscheint Hershs Artikel recht glaubwürdig“
Von Oberstleutnant a.D. Ralph Bosshard
Der Schweizer Oberstleutnant a.D. Ralph Bosshard diente im Jahr
2014 in der Sonderbeobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa (SMM der OSZE), wo er als leitender Planungsoffizier
tätig war. Bis 2017 diente er als militärischer Sonderberater des Ständigen
Vertreters der Schweiz bei der OSZE und des Schweizer Botschafters in Kiew.
Von 2017 bis 2020 diente er als Operationsoffizier in der hochrangigen
OSZE-Planungsgruppe, die eine militärische Friedensoperation im Südkaukasus
plante. Im Online-Seminar des Schiller-Instituts zu den Enthüllungen über die
Nordstream-Sabotage am 23. Februar 2023 sagte er folgendes.
Guten Abend aus der Schweiz. Die Informationen über die Sabotage von Nord
Stream 2, oder vielmehr die Verantwortung dafür, sickern nun langsam durch die
Schweizer Presse. Natürlich stehen wir derzeit vor der Wahl, ob wir dem
bekannten Journalisten Seymour Hersh, der bereits mehrfach erwähnt wurde, oder
den offiziellen Aussagen des Weißen Hauses glauben sollen.
Wie auch immer man zu Seymour Hersh stehen mag, man kann ihn kaum als
russischen Einflußagenten oder Agenten der Einflußnahme oder wie auch immer
man es nennen mag, bezeichnen. Ich denke, diejenigen, die versucht haben, ihn
zu diskreditieren, haben sich eher selbst diskreditiert. Hersh ist zweifellos
ein Profi, der durchaus in der Lage ist, den Wahrheitsgehalt der ihm
zugetragenen Informationen zu überprüfen. Andererseits hat die Regierung Biden
bisher nur seine Aussagen und ihre Beteiligung an der Sabotage bestritten,
ohne alternative Erklärungen für unbestrittene Fakten zu liefern.
Eine Plausibilitätsprüfung des Artikels von Seymour Hersh kann anhand der
Analyse vorgenommen werden, die wir auf der Grundlage der unmittelbar nach der
Sabotage dieser beiden Pipelines vor Bornholm bekannten Informationen
durchgeführt haben. In der Tat waren auch Herrn Hersh zufolge professionelle
Taucher der Streitkräfte am Werk, was uns natürlich nicht überrascht. Darüber
hinaus deckt sich sein Artikel mit unseren Erkenntnissen, daß eine gründliche
Vorbereitung erforderlich war, daß die Installation einer großen Menge
Sprengstoff an den Pipelines notwendig war und stundenlange, anstrengende
Arbeit unter sehr schwierigen Bedingungen erforderte. Darüber hinaus wurde
unsere Vermutung, daß ein kleines Kriegsschiff im Rahmen einer Marineübung
eingesetzt wurde, auch durch den Artikel von Herrn Hersh bestätigt.
Übrigens halte ich die Wahl eines Minenräumbootes, von dem Herr Hersh
spricht, für sehr sinnvoll, denn das Vorhandensein von Sprengstoff, Tauchern
und einer Dekompressionskammer auf einem solchen Schiff ist leicht zu
erklären. Diese Schiffe sind nicht so groß wie die aufsehenerregenden
Zerstörer und die amphibischen Landungsschiffe, die bei der BALTOPS-Übung
eingesetzt wurden. Auch die Tarnung der Vorbereitungen zum Sabotageakt durch
eine Übung überrascht uns nicht. Alles in allem erscheint mir der Artikel von
Herrn Hersh recht glaubwürdig, mit allen Konsequenzen, die diese Aussage für
die Glaubwürdigkeit offizieller Erklärungen des Weißen Hauses haben kann.
Ein gewisses Glaubwürdigkeitsdefizit sehe ich vor allem bei jenen
Presseerzeugnissen, die versuchen, jede von der offiziellen Linie abweichende
Darstellung von vornherein als russische Propaganda und Verschwörungstheorien
zu diskreditieren. Im Gegenteil, man kann heute davon ausgehen, daß die
Geschichten über russische U-Boote, über Torpedos, über Sprengladungen, die
beim Bau der Pipelines angebracht wurden, und über Wartungsroboter, die an der
Sabotage beteiligt waren, Teil einer Kampagne zur Verschleierung unangenehmer
Tatsachen und damit Teil einer Desinformationskampagne waren. Das sollten wir
bedenken, wenn wir in naher Zukunft Artikel der westlichen – insbesondere der
deutschsprachigen – Presse lesen.
Die Sabotage von Nord Stream 2 ist jedoch nicht der einzige Aspekt der
Eskalation, den Helga Zepp-LaRouche gerade erwähnte. Ein weiterer sind die
Angriffe ukrainischer Drohnen auf die Luftwaffenstützpunkte Engels und
Djagilewo in Westrußland, wo russische Langstreckenflugzeuge stationiert sind,
deren Aufgabe die Aufrechterhaltung der strategischen Abschreckung ist. Es
überrascht nicht, daß dies als direkter Angriff auf Rußlands
Abschreckungsfähigkeit, ja sogar auf Rußlands Existenz als Staat interpretiert
wurde und nun zu den vorgestern von Präsident Putin angekündigten Konsequenzen
der nuklearen Rüstungskontrolle geführt hat.
Die Frage, die ich mir jetzt stelle, ist, ob die Ukraine die Unterstützung
der USA für ihren eigenen Krieg gegen Rußland nutzt, oder ob die Vereinigten
Staaten den ukrainischen Haß gegen Rußland für ihre eigenen Zwecke nutzen? Mir
scheint jedenfalls, daß die ganze Strategie der Regierung Biden in Washington
aus den Händen gleitet.
Jedenfalls ging die kooperative Strategie, die Rußlands Präsident Wladimir
Putin seit 2001 zusicherte, im Dezember 2021 endgültig zu Ende, wie Helga
Zepp-LaRouche gerade erwähnte. Ich sehe es so, daß auch die deutsche Regierung
ihren Teil der Verantwortung dafür trägt. Die Beendigung der Zusammenarbeit
und die Aussetzung des START-III-Abkommens ist wahrscheinlich der vorletzte
Schritt des Ausstiegs aus Rüstungskontrollabkommen im Allgemeinen. Und ich
will gar nicht an den nächsten Schritt denken, der zunächst den Nahen Osten in
Brand setzen könnte, wenn z.B. durchsickern sollte, daß Rußland bereit ist,
den Iran notfalls mit Atomwaffen auszustatten, wie es die USA mit mehreren
NATO-Staaten im Rahmen der nuklearen Teilhabe tun.
Offensichtlich stellt die Regierung Biden ihre geopolitischen Ambitionen
derzeit höher an als die legitimen Sicherheitsinteressen langjähriger Partner
und Verbündeter. Dies ist auch für mich ein Grund zur Besorgnis. Es ist die
Biden-Administration, die derzeit die NATO spaltet und damit ihrem Erzfeind
Putin zu einem billigen Erfolg verhilft, und das ist aus meiner Sicht nicht
als Ausdruck einer klugen Strategie zu verstehen. Ein solches Verhalten sollte
anderen potentiellen Verbündeten der USA und des Westens im Allgemeinen als
Warnung dienen, und die Unterstützung der USA für die Ukraine im derzeitigen
Krieg könnte relativ bald ungeplante und unerwünschte Auswirkungen haben.
Im Moment scheint mir die russische Regierung den Krieg in der Ukraine noch
nicht eskalieren lassen zu wollen, geschweige denn sich auf einen direkten
Konflikt mit den Vereinigten Staaten einzulassen. Das könnte China dazu
zwingen, einzugreifen. Allerdings ist Norwegen, das den Sabotageakt offen und
bereitwillig unterstützt hat, jetzt stark exponiert und könnte natürlich das
Ziel des nächsten russischen Schlags werden. Das wird nicht morgen oder am
nächsten Wochenende geschehen. Ich bin sicher, daß sich Rußland mit seiner
Reaktion Zeit lassen wird. Die Reaktion wird gründlich durchdacht sein, wie
die Erfahrung der letzten Monate und Jahre zeigt, die ich in der Organisation
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verbracht habe. Ich denke,
sie wird so gestaltet sein, daß man berechtigte Zweifel über die Verantwortung
für weitere Sabotageakte hegen wird.
Es wird also, um mit den Worten der deutschsprachigen Presse zu sprechen,
in naher Zukunft auch Anlaß zu weiteren Verschwörungstheorien geben.
In diesem Sinne: Vielen Dank und ich freue mich auf Ihre Ausführungen.
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