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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Der Ukrainekrieg ist ein Indikator und
Beschleuniger des westlichen Untergangs

Von Oberstleutnant a.D. Ralph Bosshard

Der Schweizer Oberstleutnant a.D. Ralph Bosshard diente der OSZE in verschiedenen Funktionen als leitender Planungsoffizier, seine Tätigkeit führte ihn unter anderem nach Kiew, Mariupol und Dnepropetrowsk. In der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 15. April sagte er folgendes. (Übersetzung aus dem Englischen.)

Der andauernde Krieg in der Ukraine ist wahrscheinlich ein Indikator und zugleich ein Beschleuniger für den Niedergang des Westens. Die politische Bedeutung Westeuropas schrumpft. Wir sehen das daran, daß der Globale Süden rebelliert und es sich leisten kann, z.B. in der UN-Vollversammlung nicht nach den Wünschen des Westens zu stimmen.

Die abnehmende wirtschaftliche Bedeutung des Westens läßt sich daran ablesen, daß es dem Westen in neun Jahren ständig verschärfter Sanktionen nicht gelungen ist, Rußland zu einer Änderung seines Verhaltens zu zwingen. Heute sind die Sanktionen nur noch ein Teil der Bemühungen, Rußland zu schaden; sie dienen keinem positiven Ziel mehr. Auch der Westen zeigt sich uneinig, und der Biden-Administration gelingt es kaum, ihre Verbündeten und Freunde zu vereinen, indem sie Angst vor Rußland schürt.

Die Uneinigkeit zeigt sich nicht nur in Europa, sondern auch im Fernen Osten in Form der Unstimmigkeiten zwischen Frankreich und den AUKUS-Ländern. Der Besuch Macrons in China hat auch grundlegende Differenzen innerhalb des westlichen Blocks offenbart. Macrons Thesen zur strategischen Unabhängigkeit Europas fanden möglicherweise deshalb so viel Aufmerksamkeit, weil dies einer der wenigen Bereiche war, in denen zwischen Macron und Xi Jinping Einigkeit herrschte. Die Worte des chinesischen Staatschefs über eine multipolare Welt waren wahrscheinlich Balsam auf Macrons Wunden.

Verschiedene europäische Länder verfolgen ihre eigenen geopolitischen Ambitionen: Polen will sein Intermarium-Konzept aus den 1920er Jahren umsetzen und vielleicht sogar das mittelalterliche Großfürstentum Litauen wiederherstellen. Frankreich möchte weiterhin die Rolle der Grande Nation in der Welt spielen, Italien träumt von seinem erweiterten Mittelmeerraum, der sich vom Golf von Genua bis zum Asowschen Meer und dem Indischen Ozean erstreckt, und andere europäische Länder verfolgen eine nationalistische Politik. Und sie alle wollen die Ressourcen von ganz Europa für ihre Zwecke nutzen.

Das gilt auch für die Ukraine, wo Nationalisten versuchen, die Ressourcen der NATO zu nutzen, um ihrem Haß auf Rußland freien Lauf zu lassen und Gebiete zurückzuerobern, deren Bewohner nie Ukrainer sein wollten. Jeden Tag drückt der Westen all jenen Waffen in die Hand, die bereit sind, Rußland zu bekämpfen.

Das hat nichts mehr mit der Sicherheit der Ukraine zu tun. Vielmehr wird das Land jeden Tag noch mehr verwüstet. Aber die NATO versucht mit ihren Waffenlieferungen ihr Verlierer-Image aufzupolieren, das ihr besonders nach der Kabul-Katastrophe im August 2021 anhaftet. Die NATO ist nicht mehr ein Instrument zur Gewährleistung der Sicherheit ihrer Mitgliedsländer, sondern ein sicherer Hafen, von dem aus diese Länder ihre geopolitischen Ambitionen verfolgen können.

Dies alles sind ungünstige Voraussetzungen für die angestrebte Schaffung einer überregionalen Sicherheitsorganisation, die Schurkenstaaten mit einseitigen Aktionen weltweit bestraft, ohne auf entsprechende Mandate des UN-Sicherheitsrates zu warten. Mit seinen unilateralen Aktionen im Irak, im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan und anderswo hat der Westen selbst wichtige Organisationen und Mechanismen zur Konfliktprävention und -lösung beschädigt. Alle westlichen Staaten haben dazu beigetragen; ich selbst habe den Mißbrauch des sogenannten Wiener Dokuments für sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahmen durch die USA und auch Deutschland erlebt, als ich für die OSZE in Wien arbeitete. Und in ihrem messianischen Sendungsbewußtsein üben die NATO-Staaten nun Druck auf neutrale Akteure aus und schwächen auch die letzten potentiellen Brückenbauer in Europa. Es sieht fast so aus, als wolle der Westen den Dritten Weltkrieg um jeden Preis.

Die Jahre des Kalten Krieges waren geprägt von der direkten Konfrontation zwischen den Blöcken in einer der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt, nämlich Mitteleuropa, und von der ständigen Bedrohung durch einen Atomkrieg. Der Fall der Berliner Mauer setzte diesem unangenehmen Zustand ein Ende.

Heute findet die direkte Konfrontation an einer viel längeren Grenze statt, vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer, und wir spielen mit Atomwaffen. Im Gegensatz zum Westen glaubten und glauben die Sowjetunion und heute Rußland, daß ein Atomkrieg nicht auf eine Weltregion beschränkt werden kann, sondern unweigerlich global werden muß. Ich hoffe, niemand wird so dumm sein und versuchen, herauszufinden, ob das stimmt.

Inzwischen schrumpft auch die militärische Bedeutung des Westens. Die Tatsache, daß die Ukraine trotz massiver Militärhilfe aus dem Westen keine entscheidenden Erfolge erzielen konnte und daß verschiedene afrikanische Länder lieber die Wagner-Gruppe anheuern, als westliche Truppen ins Land zu lassen, spricht Bände. Die Weltmeere und der Luftraum stehen nicht mehr unter der uneingeschränkten Kontrolle der USA, die nicht mehr unangefochtener Marktführer in der Waffentechnik sind.

Nach dem Ende des Kalten Krieges herrschte der Glaube an die totale militärische Dominanz des Westens vor. Dieser Glaube manifestierte sich in der Luftkriegsdoktrin von Colonel John Warden mit seinen fünf Ringen, in der Konzeption des Ship-to-Objective-Manövers der US Navy und des Marine Corps, im Prompt Global Strike Programm und anderen. Wir sind so überzeugt von unserem Good-Guy-Status, daß wir nicht in der Lage sind zu verstehen, daß andere Länder uns als Bedrohung betrachten könnten.

Ein russischer Witz lautet „сила есть – ума не надо“, was so viel bedeutet wie „Man muß nicht klug sein, um Macht zu haben“. Genau so verhält sich der Westen heute. Die Streitkräfte des Westens müssen an die abnehmende politische und wirtschaftliche Bedeutung des Westens angepaßt werden, sonst werden sie nur zum hilflosen Ausdruck einer hoch militarisierten Außenpolitik, die Argumentationsstärke durch Waffeneffektivität ersetzt.

Die Politiker des Westens wissen das natürlich, wehren sich aber gegen die Erkenntnis, daß die Macht ihrer Länder schrumpft. Sie alle sagen sich, „Das sehe ich nicht so“, und versuchen, den Zeitpunkt der nächsten militärischen Katastrophe hinauszuschieben. Und sie sind alle bereit, militärische Gewalt anzuwenden, um dies zu verhindern. Wenn der Westen nicht zur Vernunft kommt, wird er zu einem Gefahrenherd in der Welt werden. Die Selbstgerechtigkeit des Westens wird zum Problem.

Dies ist eine kurze Zusammenfassung der Gründe, warum ich denke, daß ein neues System globaler Sicherheit notwendig ist. Auf einzelne Elemente davon oder auf die Grundzüge eines solchen Systems können wir im weiteren Verlauf der Diskussion noch ausführlicher eingehen.