Der Ukrainekrieg ist ein Indikator und
Beschleuniger des westlichen Untergangs
Von Oberstleutnant a.D. Ralph Bosshard
Der Schweizer Oberstleutnant a.D. Ralph Bosshard diente der
OSZE in verschiedenen Funktionen als leitender Planungsoffizier, seine
Tätigkeit führte ihn unter anderem nach Kiew, Mariupol und Dnepropetrowsk. In
der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 15. April sagte er folgendes.
(Übersetzung aus dem Englischen.)
Der andauernde Krieg in der Ukraine ist wahrscheinlich ein Indikator und
zugleich ein Beschleuniger für den Niedergang des Westens. Die politische
Bedeutung Westeuropas schrumpft. Wir sehen das daran, daß der Globale Süden
rebelliert und es sich leisten kann, z.B. in der UN-Vollversammlung nicht nach
den Wünschen des Westens zu stimmen.
Die abnehmende wirtschaftliche Bedeutung des Westens läßt sich daran
ablesen, daß es dem Westen in neun Jahren ständig verschärfter Sanktionen
nicht gelungen ist, Rußland zu einer Änderung seines Verhaltens zu zwingen.
Heute sind die Sanktionen nur noch ein Teil der Bemühungen, Rußland zu
schaden; sie dienen keinem positiven Ziel mehr. Auch der Westen zeigt sich
uneinig, und der Biden-Administration gelingt es kaum, ihre Verbündeten und
Freunde zu vereinen, indem sie Angst vor Rußland schürt.
Die Uneinigkeit zeigt sich nicht nur in Europa, sondern auch im Fernen
Osten in Form der Unstimmigkeiten zwischen Frankreich und den AUKUS-Ländern.
Der Besuch Macrons in China hat auch grundlegende Differenzen innerhalb des
westlichen Blocks offenbart. Macrons Thesen zur strategischen Unabhängigkeit
Europas fanden möglicherweise deshalb so viel Aufmerksamkeit, weil dies einer
der wenigen Bereiche war, in denen zwischen Macron und Xi Jinping Einigkeit
herrschte. Die Worte des chinesischen Staatschefs über eine multipolare Welt
waren wahrscheinlich Balsam auf Macrons Wunden.
Verschiedene europäische Länder verfolgen ihre eigenen geopolitischen
Ambitionen: Polen will sein Intermarium-Konzept aus den 1920er Jahren
umsetzen und vielleicht sogar das mittelalterliche Großfürstentum Litauen
wiederherstellen. Frankreich möchte weiterhin die Rolle der Grande Nation in
der Welt spielen, Italien träumt von seinem erweiterten Mittelmeerraum, der
sich vom Golf von Genua bis zum Asowschen Meer und dem Indischen Ozean
erstreckt, und andere europäische Länder verfolgen eine nationalistische
Politik. Und sie alle wollen die Ressourcen von ganz Europa für ihre Zwecke
nutzen.
Das gilt auch für die Ukraine, wo Nationalisten versuchen, die Ressourcen
der NATO zu nutzen, um ihrem Haß auf Rußland freien Lauf zu lassen und Gebiete
zurückzuerobern, deren Bewohner nie Ukrainer sein wollten. Jeden Tag drückt
der Westen all jenen Waffen in die Hand, die bereit sind, Rußland zu
bekämpfen.
Das hat nichts mehr mit der Sicherheit der Ukraine zu tun. Vielmehr wird
das Land jeden Tag noch mehr verwüstet. Aber die NATO versucht mit ihren
Waffenlieferungen ihr Verlierer-Image aufzupolieren, das ihr besonders nach
der Kabul-Katastrophe im August 2021 anhaftet. Die NATO ist nicht mehr ein
Instrument zur Gewährleistung der Sicherheit ihrer Mitgliedsländer, sondern
ein sicherer Hafen, von dem aus diese Länder ihre geopolitischen Ambitionen
verfolgen können.
Dies alles sind ungünstige Voraussetzungen für die angestrebte Schaffung
einer überregionalen Sicherheitsorganisation, die Schurkenstaaten mit
einseitigen Aktionen weltweit bestraft, ohne auf entsprechende Mandate des
UN-Sicherheitsrates zu warten. Mit seinen unilateralen Aktionen im Irak, im
ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan und anderswo hat der Westen selbst
wichtige Organisationen und Mechanismen zur Konfliktprävention und -lösung
beschädigt. Alle westlichen Staaten haben dazu beigetragen; ich selbst habe
den Mißbrauch des sogenannten Wiener Dokuments für sicherheits- und
vertrauensbildende Maßnahmen durch die USA und auch Deutschland erlebt, als
ich für die OSZE in Wien arbeitete. Und in ihrem messianischen
Sendungsbewußtsein üben die NATO-Staaten nun Druck auf neutrale Akteure aus
und schwächen auch die letzten potentiellen Brückenbauer in Europa. Es sieht
fast so aus, als wolle der Westen den Dritten Weltkrieg um jeden Preis.
Die Jahre des Kalten Krieges waren geprägt von der direkten Konfrontation
zwischen den Blöcken in einer der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt,
nämlich Mitteleuropa, und von der ständigen Bedrohung durch einen Atomkrieg.
Der Fall der Berliner Mauer setzte diesem unangenehmen Zustand ein Ende.
Heute findet die direkte Konfrontation an einer viel längeren Grenze statt,
vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer, und wir spielen mit Atomwaffen. Im
Gegensatz zum Westen glaubten und glauben die Sowjetunion und heute Rußland,
daß ein Atomkrieg nicht auf eine Weltregion beschränkt werden kann, sondern
unweigerlich global werden muß. Ich hoffe, niemand wird so dumm sein und
versuchen, herauszufinden, ob das stimmt.
Inzwischen schrumpft auch die militärische Bedeutung des Westens. Die
Tatsache, daß die Ukraine trotz massiver Militärhilfe aus dem Westen keine
entscheidenden Erfolge erzielen konnte und daß verschiedene afrikanische
Länder lieber die Wagner-Gruppe anheuern, als westliche Truppen
ins Land zu lassen, spricht Bände. Die Weltmeere und der Luftraum stehen nicht
mehr unter der uneingeschränkten Kontrolle der USA, die nicht mehr
unangefochtener Marktführer in der Waffentechnik sind.
Nach dem Ende des Kalten Krieges herrschte der Glaube an die totale
militärische Dominanz des Westens vor. Dieser Glaube manifestierte sich in der
Luftkriegsdoktrin von Colonel John Warden mit seinen fünf Ringen, in der
Konzeption des Ship-to-Objective-Manövers der US Navy und des Marine Corps, im
Prompt Global Strike Programm und anderen. Wir sind so überzeugt von unserem
Good-Guy-Status, daß wir nicht in der Lage sind zu verstehen, daß andere
Länder uns als Bedrohung betrachten könnten.
Ein russischer Witz lautet „сила
есть – ума не
надо“, was so viel bedeutet wie „Man muß nicht klug
sein, um Macht zu haben“. Genau so verhält sich der Westen heute. Die
Streitkräfte des Westens müssen an die abnehmende politische und
wirtschaftliche Bedeutung des Westens angepaßt werden, sonst werden sie nur
zum hilflosen Ausdruck einer hoch militarisierten Außenpolitik, die
Argumentationsstärke durch Waffeneffektivität ersetzt.
Die Politiker des Westens wissen das natürlich, wehren sich aber gegen die
Erkenntnis, daß die Macht ihrer Länder schrumpft. Sie alle sagen sich, „Das
sehe ich nicht so“, und versuchen, den Zeitpunkt der nächsten militärischen
Katastrophe hinauszuschieben. Und sie sind alle bereit, militärische Gewalt
anzuwenden, um dies zu verhindern. Wenn der Westen nicht zur Vernunft kommt,
wird er zu einem Gefahrenherd in der Welt werden. Die Selbstgerechtigkeit des
Westens wird zum Problem.
Dies ist eine kurze Zusammenfassung der Gründe, warum ich denke, daß ein
neues System globaler Sicherheit notwendig ist. Auf einzelne Elemente davon
oder auf die Grundzüge eines solchen Systems können wir im weiteren Verlauf
der Diskussion noch ausführlicher eingehen.
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