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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Der Aufstieg des Globalen Südens gegen geopolitische Blöcke

Von Jacques Cheminade

Jacques Cheminade ist Präsident der Partei Solidarité & Progrès und kandidierte dreimal für das Präsidentenamt in Frankreich. (Übersetzung aus dem Französischen.)

Wir sind hier in Straßburg versammelt angesichts der Gefahr eines Weltenbrandes, der Gefahr, daß „die Menschheit sich eines Tages in einer monströsen Zerstörung selbst vernichten wird“. Heute erleben wir die ersten Anzeichen eines solchen Brandes in Europa und insbesondere in meinem Heimatland Frankreich.

© Razvan Orendovici (Flickr/cc-by-sa 2.0)

Das 1844 geschaffene Straßburger Gutenberg-Denkmal.

Gerade in solch tragischen Momenten ist es wichtig, die Hoffnung wiederherzustellen. Deshalb möchte ich Ihnen zunächst die vier Flachreliefs am Sockel der Gutenberg-Statue zeigen (siehe Abbildung), die nur wenige Gehminuten von hier entfernt (in Straßburg) steht. Dieses 1844 geschaffene Werk trägt den Impetus der sozialen Emanzipation für alle Völker der Welt in sich. Sie werden Europa, Asien, Afrika und Amerika sehen, überall werden wir unserem Anteil an der Menschheit gerecht. Sie werden Schiller und Franklin finden, Konfuzius und Râm Mohan Roy, Erasmus von Rotterdam, Mahmud II. und Abbé Grègoire. Râm Mohan Roys politischer und geistiger Erbe war die aus dem indischen Bengalen stammende Familie Tagore, und im 20. Jahrhundert ist Rabîndranâth Tagore der vollendetste Ausdruck dieses Erbes. Xi Jinping zitierte in seiner Rede auf dem 23. Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) am 4. Juli „den großen indischen Dichter Rabîndranâth Tagore: ,Der Ozean der Gefahr, des Zweifels und der Verleugnung, der die kleine Insel der Gewißheit des Menschen umgibt, fordert ihn heraus, das Unbekannte zu wagen. Wir müssen dem Ruf unserer Zeit zum Handeln folgen.‘“

Inmitten des Sturms, hier und jetzt, ist dies der Aufruf, den wir von den Ländern des Globalen Südens und Ostens hören. An dem 23. SOZ-Gipfel nahmen Modi, Xi Jinping und Putin, Vertreter ostasiatischer Länder, Pakistan und das neue SOZ-Mitglied Iran per Videokonferenz teil. Im Mittelpunkt der Gespräche standen die Sicherheit, die Achtung der nationalen Souveränität und der Wunsch, den Handel schrittweise in nationalen Währungen statt in Dollar abzuwickeln.

Insgesamt waren Vertreter von über 40% der Weltbevölkerung anwesend. Nimmt man die Mitglieder der BRICS+ hinzu, so handelt es sich um mehr als 66% der Weltbevölkerung und, gemessen am Sozialprodukt in Kaufkraftparität, praktisch um den gleichen Prozentsatz in Bezug auf die Produktion von Sachgütern. Offensichtlich sind die westlichen Länder proportional in der Minderheit. Dieses Umkippen der Welt ist kein partielles oder vorübergehendes Phänomen, sondern eine globale Entwicklung.

Es ist eine Frage von Leben und Tod – der Kampf zwischen der malthusianischen, herrschsüchtigen Finanzoligarchie, die unsere westlichen Länder besetzt hält, und denjenigen, die überzeugt sind, daß die menschliche Gattung ein Recht auf Entwicklung hat, das von Lazare Carnot proklamierte Recht, „alle Individuen der menschlichen Gattung zur Würde des Menschen zu erheben“.

Die Länder des Globalen Südens haben klar erkannt, daß das Dumping von Falschgeld durch die Zentralbanken der G7-Staaten zur Anhäufung von fiktivem Kapital in Form von Schulden und Finanztiteln geführt hat, zum Nachteil ihrer Völker und Produzenten. Sie haben verstanden, daß dieser Neoliberalismus, der mit militärischen Mitteln und physischen Drohungen organisiert und geschützt wird, sie in die Falle der ständigen Verschuldung lockt.

Sie haben begriffen, daß der „Liberalismus“ des Washingtoner Konsenses, der ihnen die Freiheit der Finanzfüchse in ihren immer kleineren Ställen auferlegt, nicht mehr gilt, sobald es notwendig ist, öffentliche Gelder abzuzweigen, um die Besitztümer der Finanzoligarchie zu retten oder willkürlich die Vermögenswerte derjenigen einzufrieren, die sich ihr widersetzen.

Sie haben begriffen, daß der ihnen zugefügte Schaden, der Abbau ihrer sozialen Dienste und öffentlichen Sektoren, nicht aus Versehen oder Unachtsamkeit erfolgte, sondern mit dem bewußten Ziel, sie auszubeuten.

Sie haben verstanden, daß sie Opfer einer manipulierten Wirtschaft sind, in der der Dollar militarisiert und als Kriegswaffe auf sie gerichtet ist.

Daher ist es nicht verwunderlich, daß sie besorgt sind, und Wladimir Putin auf dem St. Petersburger Forum, das gerade vom 14. bis 17. Juni stattfand, sagt:

    „Heute werden rund 90% des Handels innerhalb der Mitgliedsländer der Eurasischen Wirtschaftsunion in Rubel abgewickelt, und 86% des Handels mit China wird in Rubel und Yuan abgewickelt. Das bedeutet, daß das schädliche neokoloniale internationale System nicht mehr existiert.“

Es sollte nicht überraschen, daß ihnen das russisch-chinesische Bündnis, das am 4. Februar 2022 eingeweiht wurde, als positive Option und als Chance erscheint, der transatlantischen Zwangsjacke zu entkommen. Und wenn Xi Jinping von der „gemeinsamen Zukunft der Menschheit“ spricht, sehen sie, daß China, ohne ihnen mehr oder weniger heuchlerische Moralpredigten zu halten, Brücken, Eisenbahnen, Dämme oder Häfen baut, und sehen so, daß den Worten Taten folgen. Selbst wenn das Erreichte unvollkommen ist, ist es für sie besser, etwas zu haben als das „westliche“ Fast-Nichts.

In diesem Sinne wandten sich der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa, der brasilianische Präsident Lula und der chinesische Premier Li Qiang auf dem Gipfel für einen Neuen globalen Finanzpakt, der am 22. Juni 2023 in Paris stattfand, jeweils an Emmanuel Macron und kritisierten die bestehenden Finanzinstitutionen und die Überreste der Bretton-Woods-Ordnung. Lula zerriß seine vorbereitete Rede, verurteilte die „Ungleichheiten“ in der Führung der internationalen Finanzinstitutionen und forderte eine neue Ordnung, die „den Bestrebungen der Welt entspricht“.

Diese Länder des Globalen Südens, so wird uns gesagt, seien nicht vereint und hätten kein gemeinsames Projekt. Zweifellos, aber sie haben eine gemeinsame Ablehnung. Sie haben verstanden, daß die westlichen Regierungen der Entwicklung Chinas mißtrauisch gegenüberstehen, weil sie in geopolitischen Kategorien von Freund und Feind denken und diejenigen fürchten, die ihre Privilegien in Frage stellen. Bei der wachsenden Zahl internationaler Treffen, über die die westlichen Medien so wenig berichten, werden Verbindungen außerhalb des Dollarsystems organisiert, das nicht einmal mehr eine amerikanische Währung ist, sondern das einer Finanzoligarchie, die über eine Marktwirtschaft ohne Markt herrscht. Das Schiller-Institut begrüßt diese Entwicklung als einen grundlegenden Schritt auf dem Weg zum Frieden durch gemeinsame Entwicklung.

Für diejenigen unter Ihnen, die es nicht wissen, weil es von der Art ist, über die westliche Medien nicht berichten, erklärte der russische Wirtschaftswissenschaftler Sergej Glasjew, Integrationsminister der Eurasischen Wirtschaftsunion, der jetzt die Umsetzung der Entdollarisierung organisiert, am 8. September 2022: „Es sind die von Lyndon LaRouche verfochtenen Prinzipien der physischen Ökonomie, die heute das chinesische Wirtschaftswunder untermauern und die Grundlage der indischen Wirtschaftsentwicklungspolitik bilden.“

Für diejenigen, die es nicht wissen: Helga Zepp-LaRouche, Präsidentin und Gründerin des Internationalen Schiller-Instituts, ist Lyndon LaRouches Ehefrau. Das bedeutet, daß der lange Kampf, den wir geführt haben und weiter führen, im Namen von LaRouches Konzept einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik geführt wird: die Erhöhung des Potentials für eine relative wirtschaftliche Dichte, eine begrüßenswerte Politik, die im Prinzip antimalthusianisch ist. LaRouches Konzept, das auf der menschlichen Fähigkeit beruht, neue physikalische Prinzipien zu erkennen, die angewandt werden in Form von Technologien, die mit weniger physischem Aufwand mehr produzieren, geht hinaus über die kurzfristigen Erscheinungen jener „Sinnesorgane, denen die Fähigkeit zu denken fehlt und die sich von äußeren Dingen besessen machen lassen“, wie Mencius, der geistige Erbe des Konfuzius, betont. Er fügt hinzu: „Solange wir beginnen, das Große zu bauen, wird die Kleinheit in uns nicht überwiegen.“

Das setzt natürlich die langfristige Vision voraus, die uns heute in unserer „Welt des Geldes“, der Währung und des unmittelbaren Scheins fehlt. Hören wir auf Tagore in seiner Religion des Menschen, vor oder vielleicht auch nach seinem Dialog mit Einstein: „Von allen Geschöpfen lebt nur der Mensch in einer grenzenlosen Zukunft. Unsere Gegenwart ist nur ein Teil von ihr. Ideen, die noch nicht geboren sind, Gedanken, die noch nicht geformt sind, regen unsere Vorstellungskraft mit einer Beharrlichkeit an, die sie für unsere Intelligenz noch realer macht als die Dinge um uns herum.“

Vor diesem Hintergrund haben sieben afrikanische Länder ihre Delegation von Vermittlern im Ukraine-Konflikt zusammengestellt. „Wir sind nicht als Bittsteller hier, wir werden nicht den einen oder anderen Kriegsteilnehmer um einen Gefallen bitten“, erklärte Cyril Ramaphosa, „wir wollen wichtige Akteure auf der Weltbühne sein.“

Der „Süden“ mischt sich also direkt und unabhängig in die Angelegenheiten des „Nordens“ ein, außerhalb der NATO. Unter der Schirmherrschaft Chinas erneuern Saudi-Arabien und der Iran ihre diplomatischen Beziehungen, am 26. und 27. Juli findet in St. Petersburg ein afrikanisch-russisches Gipfeltreffen statt, Indien verwendet chinesische Yuan und sogar VAE-Dirham, um Öl von Rußland zu kaufen, und selbst [der französische Ölkonzern] Total schließt einen Vertrag zwischen den Emiraten und China ebenfalls in Yuan ab. Emmanuel Macron bemüht sich um eine Einladung zum 15. BRICS-Gipfel, der vom 22. bis 24. August in Johannesburg stattfinden wird, aber das Mitgliedsland Rußland ist der Meinung, daß er dort als „Anhänger der NATO-Linie“ nichts zu suchen hat.

Der Aufstieg des Globalen Südens ist eine Chance für den Frieden

Die Welt verändert sich und wird multilateral. Die führenden Politiker des Westens werden sich dieser Tatsache langsam bewußt. Von ihnen ist kein Schritt in Richtung Frieden in der Welt zu erwarten, denn seine Grundlagen zu akzeptieren, hieße der Vorherrschaft der Oligarchie, der sie dienen, ein Ende zu setzen. Es ist also der Aufstieg des Globalen Südens, der eine Chance für den Frieden außerhalb der Logik der Blöcke bietet.

Wir haben gesehen, wie sich dies entwickelt, und wie notwendig es für uns Europäer ist, diesen Aufstieg zu verfolgen und seine Ursachen zu verstehen. Aber das ist natürlich nicht genug. Wir müssen unsere eigene nationale Souveränität und Unabhängigkeit wiederentdecken, gestärkt durch dieses Beispiel. Dies ist das erste der Zehn Prinzipien, die die Präsidentin des Schiller-Instituts für unsere Überlegungen vorschlägt. Es erfordert nicht nur einen Richtungswechsel in der Politik unserer Länder, sondern auch einen Wandel in uns selbst.

Frankreich, ja sogar die europäischen Länder allein können die Richtung einer Welt nicht ändern, die sich unter Bergen von Falschgeld und immer zerstörerischeren Waffen selbst zerstört. Wir müssen uns auf diesen planetarischen Süden stützen, damit wir nicht länger die Lieblinge einer tragischen Fratze bleiben und eine „Kriegswirtschaft“ uns erst zum Krieg führt – ein Krieg, der die nukleare Schwelle unserer Selbstzerstörung überschreiten wird, wenn wir die Wurzeln, die zu ihm führen, nicht ausrotten.

Das bedeutet, daß wir gemeinsam die neue Architektur des Friedens durch gegenseitige Sicherheit und Entwicklung definieren müssen, die die Länder des Globalen Südens zu Recht fordern. Das ist eine Kraft, ohne die wir angesichts der ineinandergreifenden Produktions- und Wertschöpfungsketten der heutigen westlichen Länder die Richtung nicht ändern können. Diese Stimme sollte mein Land [Frankreich] zusammen mit China, der SCO und den BRICS in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen tragen! Wir haben weniger Ausreden als andere, denn wir sind das einzige Land in Westeuropa, das keine amerikanischen Stützpunkte hat und noch einige Zeit über eine unabhängige militärische und zivile Nuklearindustrie verfügen wird.

Um einen künftigen Krieg zwischen den Blöcken zu vermeiden, selbst wenn wir der gegenwärtigen Bedrohung entgehen, müssen wir die wirtschaftliche, politische und kulturelle Ausrichtung aller Länder der atlantischen Welt ändern: indem wir unseren Völkern begreiflich machen, daß sie in unseren Staaten den gleichen Schaden erleiden wie den, aus dem die Länder des Globalen Südens sich zu befreien versuchen.

Weltbürger, vereinigt euch! Dies setzt jedoch voraus, daß wir uns bemühen, unsere Neugier und unsere Vorstellungskraft anzuregen, um das Unbekannte zu erforschen, ohne die Faszination von Gewalt oder Unterwerfung: die Fähigkeit eines jeden Bürgers, dem kollektiven Interesse Vorrang vor dem persönlichen Interesse einzuräumen, damit die Fortschritte im Weltwissen, die Ausdruck unserer Souveränität sind, zu einer höheren Ebene führen können, auf der das Zusammenfallen von Gegensätzen zur Auflösung der Dissonanzen wird.

Das ist es, was ich dachte, als ich, hin und her gerissen zwischen der französischen und der argentinischen Kultur, in meiner Kindheit auf das [Sternbild] Kreuz des Südens blickte, um ein Jenseits zu finden, das beide umfaßt, ohne eine von beiden zu verraten.

Laßt uns das Unbekannte wagen, damit die Schönheit der Welt nicht zerstört wird!