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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Die Politik der „Risikominderung“ bedroht Europas Existenz

Von Daniel Platt

Im Rahmen eines Online-Seminars des Schiller-Instituts diskutierten chinesische und deutsche Experten über die Risiken der westlichen „China-Strategie“.

Das Schiller-Institut veranstaltete am 7. Juni ein besonderes Online-Seminar mit dem Titel „Welche Risiken birgt die ,China-Strategie‘ des Westens?“, in dem Experten aus Deutschland und China sich damit befaßten, daß die atlantische Fraktion wachsenden Druck ausübt, unter dem neuen Schlagwort „Risikominderung“ (de-risking) die westlichen Volkswirtschaften von China abzukoppeln. Die Redner des Seminars waren:

  • Helga Zepp-LaRouche, Präsidentin des Schiller-Instituts, Deutschland,

  • Zhang Jun, Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Fudan-Universität in Shanghai, China,

  • Charles Liu, Senior Fellow des Taihe-Instituts, China, und

  • Ole Döring, Professor für kulturübergreifende Fragen am Kolleg für Fremdsprachenforschung der Hunan Normal University im südchinesischen Changsha und häufiger Dozent in Deutschland.

In der Ankündigung wurde darauf hingewiesen, daß die westlichen Regierungen China im derzeitigen geopolitischen Umfeld nicht mehr als „Partner“, sondern eher als „Rivalen“ bezeichnen. Die deutsche Regierung hat China sogar zum Sicherheitsrisiko erklärt und arbeitet an Plänen für Import- und Exportkontrollen, Investitionsbeschränkungen und andere sanktionierende Maßnahmen gegen China.

Die Sanktionen des Westens gegen russische Waren und Energierohstoffe, die massiv auf Europa zurückschlagen, sollten eine Lehre sein. China ist sowohl der wichtigste Markt als auch das größte Produktionszentrum der Welt, und seine Gürtel- und Straßeninitiative (Belt and Road Initiative, BRI) bringt Infrastruktur in die meisten unterentwickelten Länder. Wird sich der Westen auf diese Tatsache besinnen und ein neues Paradigma der friedlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen („Win-Win“) schaffen? Weil das westliche „Narrativ“ keinen Raum für eine solche Debatte läßt, wollten die Veranstalter mit dem Seminar internationalen Denkern, Unternehmern und politischen Strategen eine Plattform bieten, diese Diskussion öffentlich zu führen. Zepp-LaRouche sagte am Ende der Veranstaltung, das Schiller-Institut werde möglicherweise weitere Onlinediskussionen in diesem Format veranstalten. In der abschließenden Diskussion wurden viele Fragen von einem internationalen Publikum eingesandt.

Stephan Ossenkopp vom Schiller-Institut in Berlin machte als Moderator einige einführende Anmerkungen. Der Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND) habe erst wenige Tage zuvor behauptet, 40.000 chinesische Studenten in Deutschland könnten möglicherweise Spionage betreiben. Die deutschen Behörden würden die Zusammenarbeit in den Bereichen Wissenschaft und Hochtechnologie genau überwachen. Die G7-Staaten hätten vor, Investitionen aus ihren Mitgliedstaaten in China und vielen anderen Ländern zu überwachen, und die EU habe wieder Sanktionen gegen Unternehmen angekündigt, die angeblich Rußland unterstützen.

Das ominöse Wort de-risking

In ihrer Eröffnungsrede (vgl. Neue Solidarität 24/2023) ging Zepp-LaRouche auf ein „ominöses neues Wort“ ein: „de-risking“, d.h. „Risikominderung“ oder „Risikominimierung“. Mit Blick auf den Schaden für die deutsche Wirtschaft durch die Entscheidung der Bundesregierung, sich dem anglo-amerikanischen Wirtschaftskrieg gegen China anzuschließen, sagte sie: „Es steht viel mehr auf dem Spiel als die wirtschaftliche Beziehung zwischen Europa und China – es ist die Existenz Deutschlands als Industriestaat!“ Der „Norden“ - die atlantischen Nationen plus Japan – gehe nicht nur gegen China vor, sondern auch gegen die BRICS und faktisch gegen den gesamten Globalen Süden. Sie stimmte mit dem ehemaligen malaysischen Ministerpräsidenten Mahathir Mohamad überein, der davor gewarnt hat, daß dies zum Dritten Weltkrieg führe.

Zepp-LaRouche wunderte sich auch über das „erstaunliche Desinteresse“ der Bundesregierung daran, die Sabotage der Nord-Stream-Pipelines aufzuklären. Sie führte einige verheerende Statistiken zur deutschen Wirtschaft an, u.a., daß bis zu 46% der deutschen Industrieunternehmen eine Verlagerung in die USA oder nach China erwägen und daß viele große Firmen bereits abwandern. Sie warnte vor einer drohenden finanziellen Systemkrise, da die grundlegenden Probleme hinter der Finanzkrise von 2008 ungelöst geblieben seien.

Die Gründerin des Schiller-Instituts sprach anschließend über Chinas Rolle in der heutigen Welt. Die BRI biete 150 Nationen die erste Gelegenheit, ihr natürliches Recht auf die Überwindung von Armut und Unterentwicklung zu verwirklichen. Die chinesische Wirtschaft sei der wahre Wachstumsmotor der Welt. „[Brasiliens] Präsident Lula hat angekündigt, daß die Neue Entwicklungsbank (NDB) in Shanghai die große Bank des Globalen Südens werden soll. Für Deutschland und andere europäische Länder ist eine positive Zukunft ohne die Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden unmöglich.“

Den zweiten Vortrag hielt Prof. Zhang Jun. Er betonte, der Westen versuche zwar, China zu isolieren, aber China könne seine wirtschaftliche Entwicklung notfalls auch aus eigener Kraft aufrechterhalten und als Ersatz für Technologien, die ihm der Westen verweigert, eigene entwickeln. Das sei vielleicht gar nicht so schlecht, weil es auf lange Sicht China einen zusätzlichen Anreiz gebe, seine Forschung und Entwicklung zu beschleunigen. Die westlichen Länder könnten Alternativen zur Lieferkette Chinas finden, aber das werde mit einem hohen Preis verbunden sein.

Prof. Döring schloß sich Prof. Zhang an und beklagte die „ernste, beispiellose, unglückliche und völlig unnötige“ Konfrontation, die zwischen Europa und China inszeniert werde. Mit Blick auf die Neokonservativen, die eine solche Konfrontation schüren, sagte er, diese seien nach 1989 in eine geistige Zone eingetreten, die als das „Ende der Geschichte“ bezeichnet wird. Er führte diesen Gedanken weiter aus und beklagte, kontextbezogene Begriffe wie „Rasse, Geschlecht, Nation und sogar Kultur“ würden ihrer eigentlichen Bedeutung beraubt „und zu Waffen gemacht, als wären sie technische Hilfsmittel zur Kriegsführung“.

Als Gegenmittel schlug er vor: „Der Westen braucht neue Impulse von Realismus und Pragmatismus, um ein humanistisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Ein solcher Beitrag kann von Völkern und Kulturen kommen, die lernwillig sind und bereit und in der Lage sind, zu teilen. Es liegt auf der Hand, daß China als Verbündeter hierfür die erste Wahl ist…“ (Sie finden seine Rede im Wortlaut auf den Seiten 4-5.)

Charles Liu begann seinen Vortrag mit einem Überblick über das sich entfaltende Drama: „Es geht nicht nur um China; es geht um das Wachstum Asiens, den Schwenk vom Westen zum Osten“ mit China im Mittelpunkt. „Wir haben in China das ausgeklügeltste und modernste Lieferketten- und Logistiksystem aufgebaut, das es heute auf der Welt gibt.“ Er zitierte den früheren Präsidenten Deng Xiaoping: „Um wohlhabend zu werden, muß man zuerst eine Straße bauen.“ China wolle aus Europa keine Predigten über „politische Korrektheit“ hören. China wolle Frieden und Stabilität, damit sich alle entwickeln und davon profitieren können. Europa laufe Gefahr, ganz zum Vasallen der Amerikaner zu werden und den Anschluß an die BRI und die vielen damit verbundenen Vorteile zu verpassen.

Ein neues Paradigma oder ein neuer globaler Krieg

In der Diskussion stimmte Zepp-LaRouche mit Liu überein, daß die europäische Führung auf dem hohen Roß sitze: „Ich finde sie arrogant und dumm... Das Beste, was passieren kann, ist, daß die Länder des Globalen Südens ihrer Stimme mehr Gehör verschaffen.“ Sie warnte vor den Folgen der gegenwärtigen Kriegsbegeisterung in Europa: „Wenn wir uns nicht zusammenreißen, dann wird Europa ein Relikt am Rande der Geschichte sein, und man kann dann bald Deutschland und andere europäische Länder in den Museen des Globalen Südens betrachten, als eine Zivilisation, die versagt hat.“

Auf die Frage eines italienischen Zuschauers nach der Absicht von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, sich aus der BRI zurückzuziehen, antwortete Liu: „Wenn Italien sich von der BRI abwendet, ist das ein Signal, daß Italien sich der Bestrafung Chinas durch die USA anschließen will.“ Er warnte, dies führe zu einer Deindustrialisierung Europas.

Ole Döring stellte die Perspektive eines Deutschen dar, der sich derzeit in China aufhält. China wolle nicht, daß Europa zusammenbreche, und es sei für die Welt wichtig, daß Europa ein funktionierendes Mitglied der Weltgemeinschaft ist.

Zepp-LaRouche erklärte weiter, das alte Paradigma der unipolaren Welt sei vorbei: „Es sollten viele Menschen nach China reisen. Meine Erfahrung ist, daß jeder, der dort gewesen ist oder dort Geschäfte gemacht hat oder etwa mit einer Chinesin verheiratet ist oder China auf andere Weise kennengelernt hat, gut weiß, daß dieses Land ganz anders ist, daß es eine ganz andere Sichtweise hat.“

Zu der Gefahr eines nuklearen Konflikts, wenn die Kriegsfraktion nicht eingedämmt wird, sagte sie: „Sind wir nicht die intelligente Spezies, die in der Lage sein sollte, Formen der Selbstregierung zu finden, die nicht zu unserer Selbstzerstörung führen – was der Fall wäre, wenn wir einen Weltkrieg mit Atomwaffen hätten?“ Sie stellte noch einmal ihre „Zehn Prinzipien für eine neue internationale Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur“ vor.

In seinem Schlußwort zitierte Prof. Döring Immanuel Kant: Freiheit bedeutet Verantwortung. Es gibt keinen Menschen ohne Bildung. Als Antwort auf andere Redner, die Konfuzius erwähnt hatten, stellte er die Frage: Können wir Kant und Konfuzius für die Bildung verbinden?

Liu faßte seine vorangegangenen Diskussionsbeiträge zusammen und warnte, eine Entkopplung und Unterbrechung der Versorgungsketten hätte soziale Unruhen und eine Verschlechterung des Lebensstandards auf der ganzen Welt zur Folge. Selbst ohne den Dritten Weltkrieg könnte überall auf der Welt Chaos herrschen.

Zepp-LaRouche schloß mit der Bemerkung, „Risikominderung“ und Entkopplung könnten diesen hoffnungsvollen Moment ruinieren, in dem eine neue Ära für die Menschheit anbrechen kann. Konfuzius‘ Bild des Weisen und Schillers Vorstellung der „schönen Seele“ seien kompatible Visionen des Menschenbildes, das wir brauchen. Junge Chinesen interessierten sich für die klassische Kultur Europas, und wir müßten ein solches Interesse auf Gegenseitigkeit aufbauen.

(Den Mitschnitt des Seminars – im englischen Original – finden Sie auf der Internetseite des Schiller-Instituts)