Risiko, Strategie und Beziehungen
Eine humanistische Perspektive auf globale Fragen wiedergewinnen! Philosophische Anmerkungen
Von Ole Doering
Ole Doering ist Professor für kulturübergreifende Fragen am
Kolleg für Fremdsprachenforschung der Hunan Normal University im
südchinesischen Changsha. Den folgenden Vortrag hielt er am 7. Juni 2023 im
Rahmen eines Seminars des Schiller-Instituts über „Risiken der
,China-Strategie‘ des Westens?“ in englischer Sprache.
1.
Lassen Sie mich mit einigen Bemerkungen zum Titel des heutigen Forums
beginnen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Titel angemessen ausdrückt, wie
zutiefst ernst, beispiellos, unglücklich und völlig unnötig die Konfrontation
tatsächlich ist.
Kann man das unberechenbare und reaktionäre Verhalten der Vereinigten
Staaten und ihrer Verbündeten gegenüber China eine „Strategie“ nennen? Von
niederen Instinkten getrieben, erscheint es eher als reaktionär denn als das
Ergebnis verantwortungsvoller Planung. Geschürt von Opportunismus, Gier oder
Angst, bleibt es erratisch. Strategien lassen sich vorhersagen, aber
Explosivität muß eingedämmt werden.
Nach 1989 sind die transatlantischen Verbündeten in eine geistige Zone
eingetreten, die als das „Ende der Geschichte“ bezeichnet wird und in der, in
Fragen der Orientierung, Konstrukte immer mehr die Oberhand über reale
Erfahrungen gewonnen haben. Mentale Konstrukte sind mächtig, sie regen unsere
Phantasie an. Sie sind von Konzepten nur schwer zu unterscheiden, aber der
Unterschied ist entscheidend. Diese Diskussion reicht bis in die Antike
zurück, als Philosophen wie Platon oder Zhuang Zi über den Unterschied
zwischen Wahrheit, Ähnlichkeit, Trug, Sein und Schein diskutierten, und über
die Gefahren, die entstehen, wenn man nicht in der Lage ist zu erkennen, was
was ist. Konstrukte müssen im Grunde genommen nur für einige plausibel sein,
um wirksam zu sein, nicht aber wahr. Sie lassen uns die Welt als ein Spielfeld
sehen, auf dem wir die Abläufe kontrollieren und manipulieren können.
Konzepte müssen in der realen Praxis funktionieren. Sie hängen ab von
realem Wissen, realem Lernen und realer Erfahrung, mit realen Menschen und in
der realen Welt. Obsolete Heuristiken müssen verlernt und neue Erkenntnisse
gewonnen werden. Betrug und selbst ehrliche Fehler können zu Schaden, ja sogar
zur Katastrophe führen. Das Verstehen erfordert offensichtlich Sorgfalt,
Geduld und die bestmögliche Nutzung aller relevanten Ressourcen, und das über
einen längeren Zeitraum. Seit Kant wissen wir: „Begriffe ohne Erfahrung sind
leer, Erfahrung ohne Begriffe ist blind.“ Aber wir wissen auch, daß wir sie
sinnvoll miteinander verbinden können, wenn wir uns auf das intelligente
Wirken der Vernunft verlassen, d.h. wenn wir die richtigen Verbindungen
herstellen und die Beziehungen angemessen gestalten, vor allem, was reale
Erfahrungen angeht. Ohne Wurzeln und Zweige im realen Leben ist das, was wie
Konzepte aussieht, einfach nur ein Konstrukt, nämlich eine weiche Technologie,
ohne menschlichen Wert und Zweck. Sie sind im besten Fall Wunschdenken und
unter den meisten Bedingungen Wahnvorstellungen.
Debatten über Konstrukte, wie „Systeme“ oder „normative Identitäten“, die
menschliche Wesen als bloße Objekte beschreiben, verändern das Spiel, das wir
spielen, und negieren den Kern der Menschlichkeit, wenn wir die Annahme der
Kontrolle als selbstverständlich hinnehmen. Auf diese Weise werden
kontextbezogene Begriffe wie Rasse, Geschlecht, Nation und sogar Kultur ihrer
eigentlichen Bedeutung beraubt und zu Waffen gemacht, als wären sie technische
Hilfsmittel zur Kriegsführung.
Moralische Konzepte wie Menschenwürde wurden bereits in der Bioethik und im
Transhumanismus lächerlich gemacht und auf ein utilitaristisches Kalkül
reduziert. Nun wird die Ethik in Bezug auf das Leben und die Verarbeitung von
Big Data in den größeren Kontext von Sprache und KI-gestützten Gadgets
integriert, wobei „ChatGPT“ und „Metaverse“-Kampagnen als Symbole für unsere
Unreife stehen. Es gilt als Blasphemie, wenn beispielsweise China seine
Verantwortung wahrnimmt, solche Technologien zu überprüfen und zu erforschen,
bevor sie tiefer in die Köpfe und Märkte eindringen dürfen. Der Turm zu Babel
bröckelt bereits wieder. Damit einher geht der Verlust einer Perspektive von
Gleichgewicht und Proportionen. Seine Baumeister sind in ihrer Eitelkeit
gefangen in der egozentrischen Weigerung, sich an die Veränderungen der
Geschichte anzupassen und humane Antworten zu finden. Angetrieben von einer
mythischen Vorstellung von künstlicher Intelligenz, könnte unser kultureller
Rückschritt und Verfall einen weiteren Schub erhalten.
Das primäre Ergebnis dieser Entwicklung ist Desintegration, das sekundäre
Entfremdung, schließlich Feindschaft und Krieg. Der überwältigende Beweis, der
auf einen Korruptionskurs statt auf einen gesunden Weg schließen läßt, ist der
fortgesetzte, sich ausweitende Prozeß der Desintegration, von der kommunalen
Mikroebene bis hin zum schwindenden Vertrauen in die Politik.
Hier ist keine Strategie am Werk, und es ist unwahrscheinlich, daß sie
zustande kommt, wenn man den Weg des „Durchwurstelns“ fortsetzt, ohne
kulturelle Bezugsnormen wie Humanismus und Aufklärung. Der Westen braucht neue
Impulse von Realismus und Pragmatismus, um ein humanistisches Gleichgewicht
wiederherzustellen. Ein solcher Beitrag kann von Völkern und Kulturen kommen,
die lernwillig sind, bereit und in der Lage, zu teilen. Es liegt auf der Hand,
daß China als Verbündeter hierfür die erste Wahl ist, insbesondere in Fragen
der globalen Stabilität, einer gesunden Wirtschaft, der Ökologie und des
Humanismus.
Wir können nicht von Strategie sprechen, wenn nicht einmal die Taktik einen
Sinn ergibt, weil sie nur dazu dient, alle beteiligten Nationen, Länder und
Gesellschaften, einschließlich der Menschheit insgesamt, zum kurzsichtigen
Nutzen einiger weniger zu schwächen. Es ist bezeichnend, daß die
vorgeschlagenen Maßnahmen gegen China mit inkohärenten Anschuldigungen und der
falschen Beschreibung einer nuancierten Realität einher gehen.
Wichtiger als die Analyse des Scheiterns ist jedoch, daß wir das Spiel der
Schuldzuweisungen überwinden und eine Haltung respektvoller Zusammenarbeit
wiederherstellen.
Zweitens: „Risiko“ bedeutet die Wahrscheinlichkeit eines unerwünschten
Ergebnisses bzw. Schadens. Angesichts der sich derzeit abzeichnenden Folgen
der Kriegstreiberei, der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und Entwertung
aller Werte ist es ein Euphemismus, das Verhaltensmuster mit dem Begriff
„Risiken“ zu beschreiben. Wir sind Zeugen einer realen Gefahr. Wir erleben
realen Schaden. „Risiko“ sollte nicht als Konstrukt für psychologische
Kriegsführung mißbraucht werden. Der Effekt wäre dem Lernen aus Erfahrungen
abträglich, indem man aus Angst vor Veränderung an überholten Vorstellungen
festhält.
Wenn in bürokratischen Gremien von „Risikominderung“ (De-Risking)
die Rede ist, klingt dieser technokratische Begriff normalerweise unangenehm.
Aber das sagt noch nicht viel. Vorbeugen und Vermeiden wahrscheinlicher
Schäden ist eines der Hauptziele des Regierens, wenn man die Bedeutung von
„Risiko“ und dessen Begrenzung richtig versteht oder den Amtseid deutscher
Regierungsmitglieder zur Kenntnis nimmt. Doch selbst wenn wir zugeben, daß
einige führende Politiker nicht wirklich wissen, wovon sie reden, gibt es
Grund, sowohl an der technischen Unbedenklichkeit der Formulierung zu
zweifeln, als auch daran, daß sie ohne die Absicht verwendet wird, den
europäischen China-Diskurs zu manipulieren. In Anbetracht des Gesamtbildes der
Entmündigung Europas ist es wahrscheinlicher, daß die wahrgenommene
Mehrdeutigkeit und die bedrohlichen Untertöne, die mit einer solchen Sprache
verbunden sind, absichtlich eingesetzt werden, um die öffentliche Wahrnehmung
weiter zu verwirren und zu emotionalisieren.
Würden die Befürworter dieser Orwell‘schen Neusprech-Masche wirklich
meinen, was sie sagen, würden sie eher Mäßigung und konstruktive Aufklärung
anbieten. Würden sie aber wirklich sagen, was sie offenbar meinen, dann müßten
sie die zwischen den Zeilen versteckte Sprache der Konfrontation und
Angstmacherei offenlegen und China unverhohlen als Aggressor bezeichnen. Das
können sie nicht tun, weil sie davon ausgehen müssen, daß jeder weiß, daß sie
sich mit solchen Äußerungen völlig diskreditieren würden. Dann könnten die
Bürger Europas aufwachen und feststellen, daß unsere eigenen Regierungen zu
Objekten der „Risikominderung“ werden sollten.
Dennoch hat das Chaos in den internationalen Angelegenheiten ein solches
Ausmaß angenommen, daß die Vernunft allen Widrigkeiten zum Trotz Hoffnung und
die Entschlossenheit zum Weitermachen verlangt. Woher kann diese Hoffnung
kommen?
2.
Lernen, Planen und Diskutieren sind innerhalb und zwischen den Kulturen nur
dann sinnvoll, wenn wir es gemeinsam tun. Vor allem hilft es uns, sich nicht
von Unwissenheit und Täuschung in die Irre führen zu lassen. Schauen wir nach
vorn!
Wofür stehen wir, wenn wir in den menschlichen Beziehungen nach vorne
blicken? Das hängt von unserem Standpunkt und unserer Aufmerksamkeit ab. Wenn
wir in den Dialog treten, stehen wir für die feste Überzeugung, daß gute
China-Beziehungen einen Wert an sich darstellen, für jeden. Gleichzeitig
bilden sie die reiche Grundlage für die Schaffung von Werten.
Wer sind wir, wenn wir uns z.B. als Deutsche und Chinesen begegnen?
Stehe ich vor Ihnen als Repräsentant eines „Systems“, wie manche meinen?
Stehe ich für Rivalität? Bin ich einfach nur irgendein Mensch, oder kann ich
sogar, um Konfuzius zu zitieren, aus der Ferne kommend „Freundschaft“
anbieten, im Sinne einer Lerngemeinschaft, verbunden durch die Freude, gut
aufgenommen zu werden? (有朋自远方来 …,
Lunyu 1.1).
Was soll das eigentlich sein: ein System? Als einzelne Akteure oder
Gesellschaften sind wir keine technischen Objekte, keine abstrakten Formeln.
Wir sind keine Konstrukte. Wir leben zusammen in dem gemeinsamen Haus unserer
Welt. Wir haben Interessen, die uns gleichzeitig miteinander verbinden wie
auch zu Streitigkeiten führen können. Unser Haus ist eine Welt. Mauern wurden
eingerissen, Wege geöffnet, die Menschheitsfamilie hat nun eindeutig nur noch
genau ein Dach und ein Fundament, die es je zu teilen, zu pflegen und zu
verbessern gilt.
Manche finden es schwierig, sich an diese Situation zu gewöhnen.
Herausforderungen gibt es immer, bei jeder Veränderung, eine Haushaltsgründung
ist ein ehrgeiziges Unterfangen. Es gibt viel Raum für das Überraschende, das
Unplanbare, das Salz des Lebens – im krummen Holz der Menschheit, das kein
„System“ je erfassen kann. Es gibt wenig zu befürchten, aber viel zu
bewältigen. Angst und Mißtrauen sind die schlechtesten Ratgeber bei neuen
Bekanntschaften, es sei denn, die Option der Freundschaft wurde bereits
durchdekliniert und ausgeschlossen. Im Falle Chinas hat Europa sie nie
ernsthaft auf der Ebene der Gleichheit gedacht, gewollt und ausprobiert. Auch
nicht, nachdem erst Leibniz und dann später, vor 400 Jahren, Matteo Ricci
erste vielversprechende Zugänge eröffnet hatten. Jetzt haben wir die Chance
und, deutlich gesagt, auch keine andere Möglichkeit, als es ernsthaft zu
versuchen.
Es gibt unterschiedliche Erfahrungswerte und Überzeugungen, von denen wir
einige teilen und andere, die dazu beitragen können, Irritationen mit Geduld
und Zuversicht zu begegnen. Wir profitieren von kluger Haushaltsführung – auf
griechisch „Ökonomie“: Haus-Wirtschaft! Seit Chinas Vollmitgliedschaft in
allen Organen und Institutionen der Vereinten Nationen teilen wir ausdrücklich
rechtliche, ethische und moralische Grundlagen. Wissenschaft und Wirtschaft
stehen in einer lebendigen Wechselbeziehung. Sie befinden sich in ständigem
Wandel, um Stabilität und Wohlstand zu gewährleisten.
Wer hätte vor 51 Jahren gedacht, als unsere diplomatischen Beziehungen
aufgenommen wurden, daß so etwas einmal realistisch werden würde?
Seit einigen Jahren sind wir dabei, uns neu zu positionieren, nicht zuletzt
aufgrund der Chancen und Herausforderungen der Neuen Seidenstraße. Die
Strukturen und Linien, an denen wir uns orientieren und zusammenarbeiten,
werden immer feiner. Stereotypisches Denken oder das Wiederholen alter
Klischees wird diesem Gefüge nicht gerecht. Sklerotische Haltungen
widersprechen der Notwendigkeit, dem Wandel Rechnung zu tragen. Daran ist
nichts Neues. Wir können unser Wissen über die Bewältigung des Wandels unter
den Bedingungen der globalen Modernität jedoch viel besser nutzen.
3.
Zum Glück sind wir tatsächlich schon so tief und eng zusammengewachsen, daß
eine beispiellose Mischung entstanden ist: In manchen Bereichen sind wir
gleichauf, in manchen Bereichen steht namentlich Deutschland sehr gut da, in
anderen setzt China jetzt die Maßstäbe. In einer solchen Situation kann man
nicht einfach eine „Entkopplung“ anordnen (und sich vielleicht gleichzeitig
über angeblichen Autoritarismus ereifern). Im Gegenteil: Wir müssen neu
schauen, differenzieren, anpassen – immer unter der Prämisse, daß wir
untrennbar Teil eines größeren Ganzen sind. Es gibt viel bessere Konzepte als
die plumpe Metapher der „Kupplung“, um das Gefühl der Verbundenheit für den
gemeinsamen Reichtum der Nationen zu erfassen. „Entkupplung“ verrät die
Denkweise eines Klempners (mit Verlaub!), und diese kann man genauso gut in
den Ausguß geben.
Um zu verstehen, worauf wir achten sollten, können wir uns getrost auf
Konfuzius verlassen. „Die erste Aufgabe des Staates ist es, dafür zu sorgen,
daß die Dinge bei ihrem richtigen Namen genannt werden“ (Zhengming
正名, Lunyu 13.3). Auch unsere Beziehungen bedürfen nun
einer feineren, genaueren Beschreibung. Die Sprache gehört in den Bereich der
„weichen“ Technologie. Begriffe, die Maschinen oder Ideologien bezeichnen, wo
es um menschliche und soziale Praxis geht, sollten nun durch solche ersetzt
werden, die unsere soziale Natur abbilden und es ermöglichen, echte
Beziehungen besser zu verfolgen.
4.
In seiner berühmten Friedensrede, die er vor genau 60 Jahren, am 10. Juni
1963, hielt, legte John F. Kennedy seine Formel für den Frieden mit der
Sowjetunion dar. Die neuen deutsch-chinesischen diplomatischen Beziehungen
wurden zehn Jahre später aufgenommen, unter den historischen Bedingungen des
Gedankens „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“
Kennedys Friedensrede und die von Willy Brandt und Egon Bahr im Zentrum der
europäischen Konfliktzone entwickelte Entspannungspolitik machen deutlich, daß
die derzeitige Haltung gegenüber Rußland und dem Ukraine-Krieg ebenso einer
dramatischen Neuorientierung bedarf wie einer soliden Basis chinesischen
Engagements. Wie lange wird sich Europa noch seine fahrlässige Arroganz
leisten, Chinas ausgestreckte Hände und offenen Arme zu ignorieren, während es
sich immer mehr zum Vasallen der USA umdefiniert?1
Tatsächlich finden wir uns (noch) in einer sehr guten Position, wenn wir
uns die Mühe machen, auf die Fakten zu achten. Deutschland und Europa
verdanken einen großen Teil ihres Wohlstands in den letzten Jahrzehnten der
engen Zusammenarbeit mit China. Durch die Übernahme von vielem, was deutsch
oder europäisch war, hat sich China erfolgreich entwickeln können. Dieser
Gewinn fließt nun als Wertschöpfung in immer mehr Möglichkeiten des
„Win-Win-Win“.
Es kann Deutschland nicht schaden, sich von Chinas Dynamik und
Innovationskraft ein wenig anstecken zu lassen. Gleichzeitig haben wir viele
Erfahrungen, vor allem in den Bereichen Gesellschaft, Bildung und Gesundheit,
die wir gerne teilen dürfen.
Wenn wir unter die dünne, aber oft schrille Schicht der öffentlichen
Aufregung schauen, sehen wir: Die Innovationskulturen Deutschlands und Chinas
haben eine konservative, unternehmerische und faire Grundhaltung
gemeinsam.
In der Öffentlichkeit wird diese Erkenntnis vor allem in der
Wirtschaftspresse aufgegriffen, nicht im Mainstream oder in den sogenannten
sozialen Medien. Aber auch die Leitmedien bringen gelegentlich nüchterne und
kompetente Beiträge, wie den von Vorstandschefs und Geschäftsführern acht
führender deutscher Unternehmen im November 2022:
„Mehr Unabhängigkeit ist nicht durch Abgrenzung zu erreichen, sondern durch
Steigerung der Wachstumsdynamik und der Wiedererlangung technologischer
Führungsstärke Europas. Diese Stärkung Deutschlands und Europas muß
einhergehen mit einem interessenbasierten Umgang mit China. …nicht nur bezogen
auf die Wirtschaft und Technologieentwicklung, sondern auch auf andere Felder,
wie etwa Kultur, Wissenschaft oder den Jugendaustausch... Daher müssen sich
Deutschland, Europa und China neue Chancen in der Kooperation eröffnen,
gemeinsam Projekte definieren, die in unser beider Interesse sind – die
nachhaltige Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft ist dafür sicherlich
das zentrale Feld.“ (FAZ, 10.11.22)
In der Tat können Deutschland, Europa und China gemeinsam Projekte
definieren, die in unser aller Interesse sind. Die nachhaltige Entwicklung von
Wirtschaft und Gesellschaft ist nicht nur ein Schlagwort. Wir brauchen die
neuen Möglichkeiten der Zusammenarbeit und haben die Aufgabe, sie unter den
Bedingungen unserer Zeit neu zu schaffen. Der Hinweis auf die Jugend deutet
auf einen Bereich, von dem alle profitieren können und in dem noch sehr viel
zu tun ist.
Wenn wir jedoch die falschen Begriffe verwenden, um uns selbst und einander
zu beschreiben, gehen wir ein hohes Risiko ein: Wir bleiben in der
Vergangenheit stecken, wir schätzen einander falsch ein und schaffen
vermeidbare Mißverständnisse. Mehr noch: Die „selbsterfüllende Prophezeiung“
falscher Begriffe verengt den Denkhorizont und setzt falsche Handlungsanreize.
Vor allem aber ist es immer schädlich, Angst zu machen.
Was wir voneinander nicht verstehen, können wir differenzieren, sortieren,
geduldig aushandeln – und mit dem verbinden, was uns bereits verbindet. Wer
menschliche Beziehungen als Systeme beschreibt, schneidet sich ins eigene
Fleisch.
Das Beste, was eine kluge und kultivierte Politik erreichen kann, ist, ein
lebendiges Gleichgewicht zu ermöglichen. Das chinesische 平Ping bedeutet keinen festen Zustand, sondern eine
Qualität, an der wir immer weiter arbeiten müssen, wie am Gleichgewicht beim
Fahrradfahren. „Frieden unter dem Himmel“ bedeutet, dem freien Spiel der
vielfältigen wertschöpfenden Kräfte eine gute Ordnung zu geben. So steht es
als ultimative Lehre im Großen Lernen (大学Daxue),
einem weiteren kanonischen Text, der die alte Welt Chinas mit unserer heutigen
Welt verbindet – wenn wir sie denn lesen würden! Dies ist auch ein sanfter
Hinweis auf Chinas eigentliche Strategie (!), „Chinas Geschichte der Welt zu
erzählen“. Dies richtig zu tun, ist eine Herausforderung und eine große
Chance, nicht nur für China.
Folgen wir der allgemeinen Aufforderung, uns selbst zu kultivieren, indem
wir uns gegenseitig bei der erfolgreichen Verfolgung unserer Interessen
unterstützen!
Es wäre keine Strategie und kein Risiko, sondern eine akute Gefahr, wenn
wir den Weg der Konfrontation und Entfremdung weitergehen.
Zum Glück gibt es bewährte Rezepte und es geht nicht mehr um „Ost und
West“.
Fußnote
1. North Stream Pipeline, URL https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/06/06/nord-stream-pipeline-explosion-ukraine-russia/
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