Der unglaubliche Mangel an China-Kompetenz im Westen
Von Prof. Cord Eberspächer
Prof. Cord Eberspächer ist Sinologe an der Universität Bonn.
(Übersetzung aus dem Englischen.)
Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, an dieser Konferenz teilnehmen
zu können, und noch mehr freue ich mich, etwas beitragen zu können. Ich werde
über den erstaunlichen Mangel an China-Kompetenz im Westen sprechen.
Das Thema China-Kompetenz ist sehr wichtig und wird auch seit einigen
Jahren intensiv diskutiert, es ist in den letzten zehn Jahren ein ziemlich
heißes Thema in Deutschland gewesen. Und ich möchte gerne mit Ihnen darüber
diskutieren, was eigentlich passiert ist und wo wir stehen.
Als Denkanstoß auf diesem Weg habe ich gerade von einer Webseite aus den
Vereinigten Staaten ein Bild über die chinesische Bedrohung kopiert, und
behalten Sie das einfach im Hinterkopf, mit der Frage: Sind wir schon in ein
Zeitalter der neuen Gelben Gefahr eingetreten? Das ist weitab jeglicher
China-Kompetenzen, sondern im Grunde dominiert von westlichen Narrativen, die
China auf eine bestimmte Art und Weise darstellen. Der Wettbewerb mit China
wird schon seit einigen Jahren als solcher betrachtet und diskutiert.
Ich zeige Ihnen auch zwei Beispiele aus der deutschen Presse der letzten
Jahre, da gab es einen Grundkonsens in zwei Richtungen. Das eine ist, wie Sie
auf der linken Seite sehen: Wo sind die China-Kompetenzen? Und auf der anderen
Seite: Na ja, wir können nicht alles wissen.
Wir sind uns also im wesentlichen einig: Wir brauchen mehr. Eine Sache ist,
daß wir wegen der Rolle Chinas mehr wissen müssen, ob es uns gefällt oder
nicht. Wir brauchen China-Kompetenzen.
Die zweite Übereinstimmung ist, daß es daran einen Mangel gibt, und zwar im
gesamten Bildungssystem, auf der Ebene der Schulen, auf der Ebene der
Universitäten, aber auch in der Bürokratie, in den Kommunal-, Bundes- und
Zentralregierungen, aber auch in vielen kompetenten Unternehmen.
Der Grundkonsens in Deutschland war also wenigstens seit 2015: wir müssen
etwas tun und wir müssen schnell etwas tun. Das ist in mehreren Berichten
immer wieder geäußert worden. Es steht in mehreren Handreichungen, Memoranden,
die den Regierungen übergeben worden sind, worin appelliert wurde: Tut etwas;
wir müssen das ändern.
Auf der anderen Seite, wenn man sich anschaut, wo wir stehen, wenn man sich
zum Beispiel die Politik anschaut, etwa den deutschen Bundestag, dann gab es
eine Umfrage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, einer der großen
deutschen Zeitungen. Ein Journalist dieser Zeitung hat eine Umfrage unter den
deutschen Parlamentariern gemacht, wer dort eigentlich Chinesisch spricht.
Das Ergebnis war, daß von weit über 700 Parlamentariern im Grunde genommen
nur eineinhalb tatsächlich Chinesisch sprechen konnten. Der Halbe war ein
Mitglied der Freien Demokraten, das tatsächlich einige Grundkurse in
Chinesisch absolviert hatte. Und das einzige Parlamentsmitglied, die einzige,
die Chinesisch wirklich beherrscht, war Alice Weidel vom rechten Flügel der
AfD, der Alternative für Deutschland.
Und die Frage ist, was sagt uns das über die China-Kompetenz der deutschen
Eliten, der deutschen Regierungen und der Entscheidungsträger in Deutschland?
Denn wie wir gleich sehen werden, ist das Problem nicht nur, ob sie selbst
über China-Kompetenz verfügen, sondern ob sie Chinaexperten fragen müssen.
Sind sie tatsächlich in der Lage, zu bewerten, was ihnen gesagt wird, was sie
in den Zeitungen lesen? Das ist eine Frage, die noch beantwortet werden
muß.
Also zurück zu den Wurzeln der ganzen Frage: Was ist China-Kompetenz? Das
läßt sich auf vielerlei Weise definieren, und es hängt manchmal davon ab, wen
man fragt, welche Antwort man erhält.
Eine Möglichkeit ist, daß es sich um die Fähigkeiten handelt, die notwendig
sind, um ein realistisches und differenziertes Bild von China zu bekommen.
Wunderbar. Oder, wie das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung
sagt, es sind Sprachkenntnisse, interkulturelle Kompetenzen, Verständnis für
rechtliche Rahmenbedingungen sowie über politische, wirtschaftliche,
kulturelle und historische Hintergründe.
Was es kaum unter den modernen Köpfen gibt und meiner Meinung nach völlig
fehlt, ist, wie ein Autor aus den 1960er Jahren betonte, die Fähigkeit, sich
selbst durch die Augen des anderen zu sehen. Das ist zum Beispiel eine Sache,
von der ich glaube, daß sie in unserem Umgang mit China in der heutigen Zeit
tatsächlich grundlegend fehlt. Wir wollen und können uns wahrscheinlich nicht
mit chinesischen Augen sehen.
Wer sind die China-Experten?
Und hier noch ein paar Denkanstöße.
Was sind die wenigen Kompetenzen, die man zur Verfügung hat? Natürlich die
„China-Experten“. Aber wer ist eigentlich ein China-Experte? Das sind die
Leute, die viel über China gelesen haben. Ah, gut! Im Moment hat man den
Eindruck, daß es ein Meer von Leuten gibt, die China-Experten sind und die im
Grunde genommen den Politikern etwas sagen können.
Die Frage ist, welche Kompetenzen haben sie oder wie voreingenommen sind
ihre Ansichten? Sind unsere Politiker manchmal in einer Echokammer gefangen,
in der sie im wesentlichen nur die Leute einladen, die ihnen sagen, was sie
hören wollen und was bereits in ihren Köpfen existiert? Aus welchen Quellen
bezieht man sein Wissen, wenn man kein Chinesisch kann?
Bekommt man sein Wissen über China aus den Zeitungen? In diesem Fall muß
man sich auf die Journalisten verlassen. Sind die kompetent? Sind sie in
Chinafragen kompetent, oder sind sie eher voreingenommen, oder kopieren sie im
wesentlichen nur andere?
Was ist mit den Erfahrungen, die China in den drei Jahren der
Corona-Pandemie gemacht hat? Genau genommen war niemand oder nur sehr wenige
Leute in China. Wieviel echte China-Erfahrung haben sie also? Wieviel
China-Erfahrung, wenn es darum geht, mit tatsächlich lebenden Chinesen zu
verkehren, Erfahrungen zu sammeln? Manchmal hat man den Eindruck, daß wir es
eher mit Klischees zu tun haben als mit lebenden menschlichen Wesen.
Und schließlich, was immer im Hintergrund lauert, ist die Rolle der
Sprache. Und hier sind wir in einer sehr schlechten Situation. Einige andere
europäische Länder, wie Frankreich oder Italien, sind viel aktiver, wenn es
darum geht, jungen Menschen Chinesisch beizubringen, während Deutschland in
diesem Bereich ziemlich weit zurückliegt.
Und hier scheinen wir manchmal sogar hinter die Positionen zurückzufallen,
die wir in der Diplomatie schon hatten. Wenn man sich den jüngsten Besuch des
französischen Präsidenten Macron und Ursula von der Leyens, der Repräsentantin
der Europäischen Union, in China betrachten, dann muß man sich fragen, geht es
nur um China-Kompetenz oder geht es um grundsätzliche Kompetenz in
internationalen Beziehungen? Wenn jemand zum Beispiel, wie im Fall von Ursula
von der Leyen, unmittelbar vor dem eigentlichen Besuch eine öffentliche Rede
hält, in der man den Gastgeber grundlegend beleidigt? Den Gastgeber, den Sie
gleich sehen werden? Und dann erwarten Sie, daß er ernsthaft mit Ihnen
verhandelt?
Ich glaube, das ist ein Grundgedanke. Man braucht hier im Grunde genommen
nur einen gesunden Menschenverstand und nicht einmal China-Kenntnisse.
Zusammenfassend bin ich grundsätzlich der Meinung, daß unsere politische
Führung und wahrscheinlich auch die Experten, die darüber berichten, mehr
China-Kompetenz bräuchten, um wirklich zu verstehen, wieviel wir über China
wissen müssen. Ich danke Ihnen sehr.
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