Vom Handschlag von Torgau zur nuklearen Konfrontation?
Von Wolfgang Effenberger
Wolfgang Effenberger ist Publizist und Autor der Bücher „Pax
Americana“ (2004) und „Die unterschätzte Macht: Von Geopolitik bis Biopolitik
– Plutokraten transformieren die Welt“ (2022). In der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 15. April hielt er den folgenden Vortrag.
Vielen Dank für die Einladung zur Veranstaltung des Schiller-Instituts
„Stoppt die Atomkriegsgefahr jetzt!“ Dank an alle, die an dieser Konferenz
teilnehmen.
Liebe Friedensbewegte, in wenigen Tagen jährt sich zum 77. Mal die
historische Begegnung von amerikanischen und sowjetischen Soldaten in Torgau.
Das Bild vom „Handschlag von Torgau“ auf der zerstörten Elbbrücke ging um die
Welt; es stand damals als Zeichen für das bevorstehende Kriegsende und die
Hoffnung auf eine friedliche Zukunft und hat mich schon als Schüler sehr
bewegt.
Heute wird mit dem Bild symbolisch das Ende des Zweiten Weltkriegs sowie
die Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verbunden; es
vereint Erinnerung und Gedenken mit der Mahnung, den Frieden zu bewahren.
Leider war die vor 78 Jahren mit dem Bild verbundene Hoffnung nur ein
Trugbild. Denn während sich hier in Torgau amerikanische wie russische
Soldaten an dem aufziehenden Frieden begeisterten, arbeiteten britische
Generalstabsoffiziere bereits an dem von Winston Churchill in Auftrag
gegebenen Kriegsplan „Operation Unthinkable“, der die damalige
Sowjetunion zurückwerfen und ein unabhängiges Polen wiederherstellen sollte.
Angriffstermin mit über 100 Divisionen, darunter auch Wehrmachtsverbände, die
man nicht in die Kriegsgefangenschaft überführt hatte, war der 1. Juli 1945:
Keine 10 Wochen nach dem Handschlag.
Zu diesem Angriff kam es nicht, da Stalin rechtzeitig ultimativ forderte,
die neben dem britischen Hauptquartier in Flensburg-Mürwik einquartierte
deutsche Nachfolgeregierung unter Dönitz zu verhaften und die deutschen
Soldaten in die Gefangenschaft zu überführen. Das geschah dann auch am 23. Mai
1945.1
Anfang September 1945 beauftragte US-Präsident Harry S. Truman General
Eisenhower mit der „Operation TOTALITY“: Mit 20 bis 30 Atombomben
sollten 20 sowjetische Industriestädte auf einen Schlag vernichtet werden.
Derartige Pläne wurden ständig verfeinert.
Am 15. Mai 1947 verkündete Truman seine Doktrin zur Eindämmung der weiteren
Ausdehnung der Sowjetunion.
Am 6. Juni 1947 folgte der Marshallplan. Er hatte das Ziel, Westeuropa
gegen den Ostblock zu stärken und der noch vom Krieg überhitzten
amerikanischen Wirtschaft Absatzmärkte zu öffnen. Mit der Annahme der Hilfe
mußten die Länder ihre finanzpolitische Souveränität an Washington abtreten –
der Beginn der ökonomischen Kolonisierung Europas, die übrigens gar nicht viel
kostete (zwischen 1948 und 1952 flossen nur ca. 15 Mrd. US-Dollar).
Am 26. Juli 1947 wurde der „National Security Act“ für die militärische
Durchdringung der Welt verabschiedet, eines der wichtigsten Gesetze in der
US-amerikanischen Nachkriegsgeschichte. Er ist bis heute die Grundlage
weltweiter amerikanischer Militärmacht. Es ging darum, Europa für den Krieg
gegen die Sowjetunion tauglich zu machen.
Am 4. April 1949 wurde die NATO offiziell als Verteidigungsbündnis gegen
die Sowjetunion gegründet. Der erste Generalsekretär der NATO und Chefplaner
von Unthinkable, Lord Ismay, formulierte salopp die wirkliche Aufgabe
der NATO, nämlich „die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die
Deutschen unten zu halten“.2 Im Bündnisvertrag wurde festgehalten,
daß wirtschaftlicher Wiederaufbau und wirtschaftliche Stabilität wichtige
Elemente der Sicherheit seien – daher der Marshallplan.
Ab 1991 trat dann ein osteuropäisches Land nach dem anderen der NATO bei;
in der Erwartung finanzieller und wirtschaftlicher Hilfe. Und als der gewählte
Staatschef der Ukraine Janukowitsch die militärisch-politische Zusammenarbeit
mit der EU (und damit mit der NATO) nicht unterschrieb, wurde er kurzerhand
weggeputscht.
Am 4. April 2023, auf den Tag genau 74 Jahre nach der Gründung der NATO und
mitten in dem Konflikt, den Janukowitsch vorausgesehen hatte, wurde Finnland
mit großem Pomp in die NATO aufgenommen.
Am gleichen Tag titelte die US-Militärzeitschrift Stars and Stripes
„Mit dem Beitritt Finnlands zur US-geführten Allianz verdoppelt die NATO ihre
Landgrenze zu Russland“.3 Die Ostflanke der NATO wurde durch den
Beitritt Finnlands zum 31. Mitglied gestärkt, das damit seine militärische
Schlagkraft in der arktischen Region erhöht hat, wo die Verbündeten nach
eigener Aussage nun besser in der Lage sind, weitere russische Aggressionen
abzuwehren. Der Beitritt Finnlands, das über eines der größten
Artilleriearsenale in Europa und eine wehrpflichtige Bodentruppe verfügt, die
im Krisenfall bis zu einer Million Reservisten aufbieten kann, beendet die
jahrzehntelange militärische Blockfreiheit des nordischen Staates.
Am 19. Dezember 1949 verabschiedeten die USA den Kriegsplan
„Dropshot“, mit dem 1957 die Sowjetunion angegriffen werden sollte, um
die neue Supermacht samt ihrer aggressiven Agenda und ihren
Weltmachtambitionen in Schach zu halten.
Zum Vergleich:
Im Zweiten Weltkrieg starben annähernd ca. 1 Million US-Soldaten, während
die Sowjetunion weit über 20 Millionen Kriegstote zu beklagen
hatte.4 Die USA blieben von Zerstörungen verschont, die
Fabrikschornsteine rauchten, unvorstellbare Gewinne wurden eingefahren. Große
Teile der Sowjetunion hatte der Krieg dagegen zerstört und die Industrie
nachhaltig beschädigt.
In der „Grundannahme“ von „Dropshot“ heißt es wörtlich: „Am oder um
den 1. Januar 1957 ist den Vereinigten Staaten durch einen Aggressionsakt der
UdSSR und/oder ihrer Satelliten ein Krieg aufgezwungen worden.“5
Daraufhin sollten 300 Atombomben und 29.000 hochexplosive Bomben auf 200 Ziele
in einhundert Städten abgeworfen werden, um 85 Prozent der industriellen
Kapazität der Sowjetunion mit einem einzigen Schlag zu vernichten. Der
Zeitpunkt war zweifellos auf den ursprünglich geplanten Abschlußtermin der
Remilitarisierung Westdeutschlands abgestimmt. Als dann jedoch 1957 der
fiepsende Sputnik seine Kreise um die Erde zog, mußten die Kriegsplanungen
überarbeitet werden.
Mit der „National Security Decision Directive 54“ (NSDD-54) vom 2.
September 1982 wurde ein Instrument geschaffen, mit dem der gesamte
Sowjetblock subversiv untergraben werden konnte. Ein Staat nach dem anderen
wurde mit dem Versprechen amerikanischer Unterstützung zur Ablösung von der
Sowjetunion veranlaßt. Neben destruktiven Operationen („Unterminierung der
Militärkapazitäten des Warschauer Pakts“) wurden ökonomische Anreize
geschaffen, vor allem die Aussicht auf Kredite und
kulturell-wissenschaftlichen Austausch.6
Als Weiterentwicklung und Ergänzung dienen die Langzeitstrategiepapiere
TRADOC 525-5 von 1994 und 525-3-1 („Win in a Complex World 2020-2040“)
von 2014.
Gezielt wurden Rußland und China als bedrohliche Feinde aufgebaut, um die
militärische Schutzmacht USA durch die NATO und durch verschiedene asiatische
Verteidigungsbündnisse zu etablieren.7 Schon 1945 hatte der
US-Philosoph James Burnham orakelt, die USA seien dazu berufen, „in der
Auseinandersetzung mit den anderen Supermächten die Weltmacht zu
erringen“.8
Anfang August 2017 äußerte sich der Publizist und ehemalige
stellvertretende Finanzminister unter US-Präsident Ronald Reagan, Paul Craig
Roberts, bestürzt über die drohende Kriegsgefahr: „Zwei Jahrzehnte lang haben
die Regime von Clinton, George W. Bush und Obama den russischen Bären mit
Stöcken, Steinen und bösen Worten beworfen. Die USA haben ein
Sicherheitsabkommen nach dem anderen gebrochen und aufgekündigt und die
Bedrohung Rußlands durch die Durchführung von Kriegsspielen an Rußlands
Grenzen, die Inszenierung eines Staatsstreichs in der Ukraine, einer Provinz,
die seit Jahrhunderten zu Rußland gehört, und durch einen kontinuierlichen
Strom falscher Anschuldigungen gegen Rußland noch verstärkt“.9
Als Reaktion auf diese unverantwortliche, gedankenlose und rücksichtslose –
und von den Medien ignorierte – Politik gegenüber Rußland seien die russischen
Militärplaner zu dem Schluß gekommen, daß Washington einen atomaren
Überraschungsangriff auf Rußland vorbereitet.
„Dies ist das alarmierendste Ereignis meines Lebens“, so Roberts. Jetzt,
„da Washingtons kriminelle Verrückte Rußland davon überzeugt haben, daß es in
Washingtons Kriegspläne eingebunden ist, hat Rußland keine andere Wahl, als
sich auf einen Erstschlag vorzubereiten“.10
Angesichts der derzeitigen Lage in der Ostukraine sieht es so aus, als habe
sich Rußland nicht rechtzeitig gerüstet, die vom Westen unterstützte Ukraine
dagegen sehr wohl.
Was Angela Merkel am 7. Dezember in einem ZEIT-Interview erklärt
hatte, wurde jetzt auch von Francois Hollande, dem Präsidenten von Frankreich
zwischen 2012 und 2017 bestätigt. „Das Minsk-Abkommen war nur eine Täuschung,
um der Ukraine mehr Zeit zu verschaffen, sich auf den Krieg mit Rußland
vorzubereiten.“11
Der Kreml sieht inzwischen in den Minsker Vereinbarungen ein
Täuschungsmanöver. In einem Gespräch mit Rossija-Moderator Pawel
Sarubin erklärte Kreml-Sprecher Dimitri Peskow am 9. April 2023, daß dadurch
die Situation nur verschärft und die Militäroperation näher gebracht habe:
„Ja, das mit den Minsker Vereinbarungen war ein ,Hütchenspiel‘. Wir
wurden getäuscht, und das hat die Situation eskalieren
lassen.“12
Wie wird es weitergehen? Vermutlich mit weiteren Provokationen und
Anschlägen, die Rußland angelastet werden.
Wie kann einer derart heuchlerischen imperialen Politik Einhalt geboten
werden? Die UN ist dazu anscheinend nicht in der Lage. So muß die Welt –
Völkerbund 1919 und UN 1945 waren aus dem Denken des Krieges entstanden –
endlich zu einer Gemeinschaft finden, die im Geist des Friedens
entsteht13 und in der Lage ist, jede friedensfeindliche Politik zu
sanktionieren.
In den Handreichungen des US-Kongresses vom 15. November 2022 wird aus der
neuen Nationalen Sicherheitsstrategie vom 27. Oktober 2022 zitiert: „Die
Vereinigten Staaten sind eine globale Macht mit globalen Interessen. Wir sind
in jeder Region stärker, weil wir uns auch in den anderen Regionen engagieren.
Wenn eine Region im Chaos versinkt oder von einer feindlichen Macht beherrscht
wird, wirkt sich dies nachteilig auf unsere Interessen in den anderen Regionen
aus.“
Weiter heißt es im Kongreßpapier: „…die politischen Entscheidungsträger der
USA verfolgen das Ziel, das Entstehen regionaler Hegemonen in Eurasien zu
verhindern… die militärischen Operationen der USA im Ersten und Zweiten
Weltkrieg sowie zahlreiche militärische Operationen der USA und alltägliche
Operationen seit dem Zweiten Weltkrieg … haben offenbar zu einem nicht
geringen Teil zur Unterstützung dieses Ziels beigetragen.“14
Seit über einem Jahrhundert geht es vor allem darum, den Reichtum einer
Gruppe von Tycoons in der Londoner City und an der Wall Street zu mehren. Ein
Blick auf die aktuellen Finanzströme bestätigt das. So scheinen die
Finanzeliten in den USA und in Großbritannien wenig Interesse an einer
Beilegung des Ukraine-Konflikts zu haben.
Heute möchten uns die gleichen Kreise in einen Dritten Weltkrieg führen. Es
wäre äußerst tragisch, wenn Thomas Manns Appell an die Europäischen Hörer 1953
ungehört verhallen würde. Er hatte im amerikanischen Exil die Neigung der USA
erkannt, „Europa als ökonomische Kolonie, militärische Basis, Glacis im
zukünftigen Atom-Kreuzzug gegen Rußland zu behandeln, als ein zwar
antiquarisch interessantes und bereisenswertes Stück Erde, um dessen
vollständigen Ruin man sich aber den Teufel scheren wird, wenn es den Kampf um
die Weltherrschaft gilt.“
Nach dem US-amerikanischen Völkerrechtler und ehemaligen UN-Beamten Alfred
de Zayas – er war von Mai 2012 bis April 2018 unabhängiger Experte des
Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für die Förderung einer
demokratischen und gerechten internationalen Ordnung – braucht es eine starke
Botschaft aus der Zivilbevölkerung und/oder der BRICS-Staaten, sonst dauert
der Krieg endlos oder mündet im Armageddon.15
Der Globus darf nicht länger Spielball einer verantwortungslosen
Finanzoligarchie sein, die den Boden für eine rücksichtslose Ausbeutung
bereitet.16
Werfen wir das unheilvolle Narrativ „hier das Gute, dort das Böse“ in den
Mülleimer der Geschichte!
Ächten wir den Krieg! Und vor allem: Wagen wir mehr Menschlichkeit!
Anmerkungen
1. Antony Beevor: Der Zweite Weltkrieg. 1. Auflage. München 2014, S.
866 f.
2. https://internationalepolitik.de/de/nordatlantische-allianz
3. https://www.stripes.com/theaters/europe/2023-04-04/nato-finland-blinken-9700526.html
4. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1184660/umfrage/amerikanische-verluste-waehrend-des-zweiten-weltkrieges/
5. Diese Dokumente wurden später freigegeben und unter dem Namen
Dropshot: The American Plan for World War III Against Russia in 1957
(ISBN 0-8037-2148-X) veröffentlicht.
6. https://irp.fas.org/offdocs/nsdd/nsdd-54.pdf
7. Bereits im Herbst 1945 sah der Plan mit Namen TOTALITY (JIC
329/1) einen Atomangriff auf die Sowjetunion mit 20 bis 30 Atombomben vor.
Details in Kaku/Axelrod 1987, S. 30–31.
8. Zitiert wie www.dradio.de/dkultur/sendungen/kalenderblatt/439652/
9. Trump’s Choices. Russian Military has Concluded that Washington is
preparing a surprise Nuclear Attack on Russia”, https://www.globalresearch.ca/trumps-choices-russian-military-has-concluded-that-washington-is-preparing-a-surprise-nuclear-attack-on-russia/5602202
10. Ebenda.
11. https://tkp.at/2023/01/02/nach-merkel-auch-hollande-minsk-abkommen-sollte-ukraine-nur-zeit-verschaffen/
12. https://news.feed-reader.net/24918-rossija.html
13. Wolfgang Effenberger: Reformvorschlag der G4-Staaten (Brasilien,
Deutschland, Indien und Japan) in Bezug auf eine Erweiterung des
Sicherheitsrats vor dem Hintergrund der geopolitischen Interessen der USA.
14. https://sgp.fas.org/crs/natsec/IF10485.pdf
15. https://www.counterpunch.org/2023/02/15/hersh-the-us-and-the-sabotage-of-the-nordstream-pipelines/
16. Sowohl in der Ukraine als auch in Serbien arbeitete Freedom House eng
mit lokalen Gruppen zusammen, die für friedliche demokratische Revolutionen
verantwortlich waren. Zitiert aus http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=13484 (Original
unter https://www.freedomhouse.org/template.cfm?page=249,
abgerufen am 18. Mai 2008, nicht mehr im Netz). Das überparteiliche Freedom
House wurde am 10. November 1941 – einen Monat vor Kriegseintritt der USA –
von Eleanor Roosevelt, Frau des demokratischen Präsidenten Franklin Roosevelt,
und dem republikanischen Kandidaten von 1940, Wendell Willkie, gegründet. Als
Ursache gibt Freedom House die zu dieser Zeit hoch im Kurs stehenden
isolationistischen Tendenzen an. Zunächst sollte der Nazismus, das totalitäre
Böse in Deutschland, abgewehrt werden. Mit Kriegsende wurde der Kampf gegen
das totalitäre Böse in der Sowjetunion aufgenommen, wobei Freedom House
aggressiv den McCarthyism unterstützte. Auf der anderen Seite setzte sich
Freedom House für den Marshall-Plan und die NATO ein. Nach Beendigung des
Kalten Krieges bemühte man sich vor allem um die „fragile democracies“
im ehemaligen Ostblock. Seit 2001 konnten Büros in der Ukraine, Polen, Ungarn,
Bosnien, Serbien, Jordanien, Mexiko und einer Vielzahl von Ländern in
Zentralasien eröffnet werden.
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