„Die Vereinigten Staaten haben eine neue Mauer aufgebaut“
Von Graham Fuller
Graham E. Fuller ist ehemaliger stellvertretender Vorsitzender
des Nationalen Geheimdienstrates des CIA für Langzeitprognosen. Im
Online-Seminar des Schiller-Instituts zu den Enthüllungen über die
Nordstream-Sabotage am 23. Februar 2023 sagte er folgendes.
Ich danke Ihnen für die Einladung, an dieser Diskussion teilzunehmen; eine
sehr wichtige Diskussion, wie wir alle wissen. Vor allem die Konzentration auf
Deutschland halte ich für sehr wichtig. Dabei möchte ich die Bedeutung vieler
anderer europäischer Kulturen und Länder nicht schmälern; sie alle haben
außerordentliche Beiträge zur europäischen Geschichte geleistet. Letztendlich
sind es aber die beiden Staaten Rußland und Deutschland, die während eines
Großteils der europäischen Geschichte die geopolitischen Kräfte und
Beziehungen zwischen Ost und West dominiert haben. Auf Gedeih und Verderb sind
die Länder, die in der Mitte dieser deutsch-russischen Polarisierung gefangen
sind, wenn Sie so wollen, von dieser Beziehung stark betroffen. Wenn wir also
heute die zentrale Position Deutschlands betrachten, insbesondere in dieser
Pipeline-Krise, sehen wir erneut, wie sich einige wirklich wichtige
geopolitische Ereignisse mit enormen Konsequenzen für die Zukunft
entfalten.
Ich möchte in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nur auf einige dieser
Ereignisse eingehen. Zunächst einmal ist es meiner Meinung nach erwähnenswert,
daß Biden nach dem Beginn des Ukraine-Krieges und dem Beginn der aktiven
Beteiligung der USA an der militärischen Unterstützung der Ukraine verkündete,
daß dies wirklich ein triumphaler Moment für die NATO sei. Die NATO sei
wiederbelebt worden. Es sei nicht so, wie der französische Präsident Macron
ein oder zwei Jahre zuvor gesagt hatte, daß die NATO nicht hirntot sei,
sondern sie sei jetzt wiederbelebt worden.
Ich kann verstehen, warum er diese Bemerkung gemacht hat, und die Europäer
haben sich alle zusammengetan, um ihm in diesem besonderen Moment
Unterstützung anzubieten. Ich denke, sie waren sich vielleicht der
Konsequenzen ihres Handelns nicht bewußt. Vor allem aber hatte ich damals, als
die russische Invasion und die Reaktion der NATO stattfanden, das Gefühl, daß
die NATO dadurch auf lange Sicht geschwächt und nicht gestärkt werden würde,
wenn alles vorbei ist und hoffentlich der Frieden in der Ukraine
wiederhergestellt ist.
Was meine ich mit geschwächt, wenn die NATO zu diesem Zeitpunkt eindeutig
zusammenarbeitet, um zu versuchen, den russischen Streitkräften in der Ukraine
entgegenzutreten? Ich meine vor allem, daß die Europäer jetzt zu erkennen
beginnen, daß sie sich durch die Beteiligung an der NATO und an diesem
Stellvertreterkrieg mit den USA gegen Rußland wirklich in ein sehr
gefährliches und langfristiges Projekt mit enormen langfristigen Auswirkungen
eingekauft haben. Das war nicht das, was sie sich vorgestellt hatten.
Ich denke, es besteht kein Zweifel daran, daß die Führungsspitze der
Europäischen Union, viele europäische Staats- und Regierungschefs, generell
bereit sind, sich der amerikanischen Politik nicht zu widersetzen, nicht mit
ihr zu streiten. Aber ich denke, auf der Ebene der Bevölkerung werden die
Auswirkungen all dessen spürbar – kalte Winter, Kraftstoffmangel, enorme
Preissteigerungen bei den Kraftstoffkosten.
Wie Helga Zepp-LaRouche bereits erwähnte, beginnt die Deindustrialisierung
Deutschlands. Das sind tiefgreifende Folgen, und wir sehen, daß die
Wachstumsrate in fast allen europäischen Ländern auf unter 1% gesunken ist.
Die Folgen sind also sehr ernst. Ich denke, daß die europäischen Bevölkerungen
ihre Unzufriedenheit vielleicht an den Wahlurnen, durch Demonstrationen,
Schriften oder auf andere Weise zum Ausdruck bringen werden, um ihre
Unzufriedenheit mit der Unterstützung der Vereinigten Staaten zu
demonstrieren, der zunehmend als ein höchst gefährliches und unkluges
Abenteuer erscheint.
Wenn wir nun die längerfristigen Auswirkungen dieser Entwicklung betrachten
– und ich denke, einige von Ihnen wissen, daß ich mich in der Vergangenheit
bei der CIA viel mit längerfristigen Prognosen beschäftigt habe –, dann sehen
wir einige sehr dramatische Veränderungen; potentielle Veränderungen, die auf
uns zukommen.
Zunächst einmal haben die Vereinigten Staaten durch und mit der NATO und
durch die massiven Sanktionen gegen Rußland, die ironischerweise keine große
Wirkung gezeigt haben, wieder eine massive neue Mauer errichtet – eine
Berliner Mauer, wenn Sie so wollen – zwischen Europa und Rußland. Ich bin
sogar geneigt, dies als Große Mauer zu bezeichnen, um mich auf das chinesische
Bauwerk zu beziehen, denn ich denke, daß wir uns hier auf ein Gebiet begeben,
das nicht einmal mehr auf Rußland und Europa beschränkt ist, sondern China
zunehmend in den Prozeß einbezieht. Deshalb möchte ich den Begriff Große Mauer
ebenso verwenden wie den Begriff Berliner Mauer zwischen Rußland und
Europa.
Ich denke, das hat folgende Auswirkungen: Jeder, der sich ein wenig mit der
russischen Geschichte beschäftigt hat, weiß, daß es innerhalb der russischen
Gesellschaft seit Hunderten von Jahren eine Debatte gibt. Ich spreche nicht
von der gegenwärtigen Ära oder gar von der kommunistischen Ära der
Sowjetunion, sondern ich gehe mehrere Jahrhunderte zurück bis zum Zarenreich.
In Rußland gab es eine große intellektuelle Debatte darüber, welchen Platz
Rußland wirklich in der Welt einnimmt: Sind wir westlich, oder haben wir einen
besonderen, eher slawischen Charakter, der mit den tiefen russischen Wurzeln
in der eurasischen Geschichte, in Zentralasien, zusammenhängt? Mit der
mongolischen Invasion, die bis in die Tage von Dschingis Khan
zurückreicht?
Diese große Debatte ist vielleicht nie ganz geklärt worden, aber ich
glaube, die russischen Intellektuellen wollten unbedingt zu Europa gehören,
auch wenn sie einen wichtigen eurasischen Aspekt der russischen Kultur und
Zivilisation und natürlich auch der Geographie anerkennen.
Seit dem Ukraine-Krieg sind in der russischen Presse und anderswo eine
Reihe von Artikeln erschienen, in denen es heißt: „OK, NATO, OK, Westen. Wir
haben die Botschaft verstanden. Europa hat für uns keinen Platz unter den
europäischen Ländern, und wir wurden durch die Sanktionen und diesen Krieg
abgeschottet und blockiert.“
Es geht hier nicht nur um Wirtschaftssanktionen gegen Rußland, sondern auch
um einen massiven kulturellen Angriff auf die Idee der russischen Zivilisation
selbst. Anders als im Kalten Krieg – ich war damals selbst ein Kämpfer im
Kalten Krieg –, anders als damals, als es um den Kampf zwischen Kommunismus
und Kapitalismus ging, wenn Sie so wollen, hat dieser Krieg heute dazu
geführt, daß Rußland als Kultur und Zivilisation völlig verunglimpft wird.
Putin wird dämonisiert, russische Literatur wird aus den amerikanischen
Literaturkursen gestrichen, russische Ballerinen werden nach Hause geschickt,
russische Musiker und Dirigenten werden nach Hause geschickt usw. Es findet
ein umfassender Angriff auf die russische Kultur statt.
Ich glaube, Rußland hat mehr als je zuvor das Gefühl, daß es keinen Platz
in der europäischen Gesellschaft hat. Der Westen kann sagen: „OK, Rußland, das
hast du dir selbst zuzuschreiben; du hast uns in diesen Krieg verwickelt. Du
zahlst jetzt die Konsequenzen deines Ausschlusses oder deiner Beseitigung,
wenn du so willst…“
Aber wir sollten uns daran erinnern, daß die Grundlage dieses Krieges in
Wirklichkeit Rußlands Suche nach einer neuen gesamteuropäischen
Sicherheitsvereinbarung war, die nicht nur alle lebenswichtigen
Sicherheitsinteressen der NATO und der EU-Staaten, Osteuropas und des Balkans
und all das umfaßt, sondern auch die legitimen langfristigen
Sicherheitsinteressen Rußlands selbst. Wie kann man eine allgemeine
friedenspolitische Sicherheitsvereinbarung für Europa treffen, die eines der
wichtigsten Länder ausschließt, das sich – im wahrsten Sinne des Wortes und
auch sonst – unter Druck gesetzt fühlt, weil es Teil einer umfassenden
europäischen Sicherheitsvereinbarung werden will?
Rußland und China rücken zusammen
Wenn sich in Rußland die Überzeugung durchsetzt, sich vom Westen ganz
offensichtlich ausgeschlossen zu fühlen, wendet es sich selbstverständlich
mehr und mehr China zu. Genau das hofft Washington verzweifelt zu vermeiden,
obwohl es die USA eigentlich selbst herbeigeführt haben. Sie haben ständig
versucht, Rußland und China von jeglicher Zusammenarbeit abzubringen.
China beteiligt sich zwar nicht in militärischer Hinsicht, aber China ist
sich mit Rußland darüber einig, daß es die Sicherheitsbedürfnisse Rußlands
versteht. Ich möchte hinzufügen, daß beide Länder die Ansicht teilen, daß sie
eine Welt nicht mehr akzeptieren, in der die Vereinigten Staaten oder sogar
die NATO oder der Westen in der Lage sind, zu diktieren, wie die
Sicherheitsvereinbarungen in der Welt aussehen sollen. Sie wollen keine
Farbrevolutionen oder amerikanischen Interventionen in der Welt mehr. Diese
Ära scheint vorbei zu sein.
Die Beziehungen zwischen Rußland und China sind also viel enger geworden,
und ich würde behaupten, daß dies noch mindestens Jahrzehnte so weitergehen
wird, denn sie haben das gemeinsame geopolitische Ziel, sich gegen westliche
Interventionen in der Welt zu wehren.
Wenn wir über Chinas Engagement in dieser Situation sprechen, sprechen wir
auch über den bemerkenswerten visionären chinesischen Plan – ob man ihn mag
oder nicht, ob man ihn gutheißt oder nicht – der Belt and Road Initiative. Zum
ersten Mal seit der Zeit der Mongolen unter Dschingis Khan, als man entlang
etablierter Handelsrouten von Peking nach Polen reisen konnte, ist dies die
kühnste geopolitische und geoökonomische Initiative der Neuzeit. Sie wird die
Präsenz Eurasiens auf der Weltbühne revolutionieren. Wenn man sich die Karte
anschaut, sieht man, daß die Belt and Road Initiative durch Eurasien führt,
durch Rußland, das in hohem Maße ein eurasischer Staat ist, und schließlich
Europa selbst erreicht. Das Wort Eurasien selbst beinhaltet diese beiden
Begriffe – Europa und Asien.
Aber ich frage mich nun, da die Vereinigten Staaten zur Vorsicht mahnen
oder versuchen, die EU und die europäischen Staaten unter Druck zu setzen,
sich nicht mit China in wirtschaftliche oder andere Beziehungen einzulassen
und sich nicht mit Rußland einzulassen: Wie um alles in der Welt wird Europa
Teil einer breiteren Belt and Road Initiative sein, die in Peking beginnt und
den ganzen Weg bis nach Westeuropa, und bereits nach Italien, führt? Wo wird
der europäische Teil Eurasiens dann sein? Es wird vielleicht kein Eurasien
mehr geben, sondern einfach ein größeres Asien.
Ich denke, das wird eine brutale wirtschaftliche Tatsache für Europa sein,
und wahrscheinlich auch für den Westen und einen Großteil der übrigen Welt,
wenn man versucht, diesen riesigen neuen wirtschaftlichen Handelsblock
auszuschließen. Es handelt sich nicht um einen Militärblock, das ist wichtig.
Es ist nicht das Äquivalent zur NATO; es ist ein wirtschaftlich-kultureller
Block, der natürlich geopolitische Auswirkungen hat. Aber es ist kein
Militärblock. Die Macht dieser Institution, der nun immer mehr Staaten
beitreten wollen – nicht nur in Eurasien selbst, sondern auch Länder wie der
Türkei, der Iran, Saudi-Arabien oder andere Länder im Nahen Osten und
anderswo; sogar Teile von Ostafrika werden jetzt einbezogen – ist eine
bedeutende Entwicklung und geopolitische Veränderung auf der Weltbühne und ist
vielleicht eine unerwartete, unvorhergesehene, aber sehr harte Reaktion und
ein Ergebnis des meiner Meinung nach extrem gefährlichen Abenteuers der
Vereinigten Staaten, die versuchen, Europa in dieses längerfristige Abenteuer
zu verwickeln, von dem sie nun hoffen, daß es sich auf die
europäisch-chinesischen Beziehungen selbst ausweiten wird.
Ich danke Ihnen.
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